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Der grün/blaue Weihnachtsmann
Im dichten Schneetreiben sieht man, wie sich die rote Nase heftig hin und her bewegt.
„Nein! Und nochmals Nein!“ Kräftig stampft Rudolph mit seiner Vorderhufe auf die feste Schneedecke des Deiches. Immer wieder schüttelt er dabei seinen mit dem Geweih verzierten Kopf. „Ich habe vom hohen Norden her den schweren Schlitten gezogen, bin durch verschneite Wälder gelaufen, über zugefrorene Teiche, habe der Kälte getrotzt. Das ist die Aufgabe des Rentieres, das den Schlitten des Weihnachtsmannes zieht. Aber nun ist Schluss! Das mache ich NICHT!“
Entschieden setzt sich Rudolph auf sein kurzes Stummelschwänzchen, schüttelt noch einmal trotzig sein Geweih und ist durch nichts zu bewegen, weiter zu marschieren.
„Hmmmh“, brummt der Weihnachtsmann durch seinen langen weißen Bart. „Das verstehe ich ja, lieber Rudolph. Aber, nun müssen wir in das kleine Boot umsteigen, das uns zu den Halligen übersetzt. Wie sollen wir denn die Kinder bescheren, die dort hinter den hellen Fenstern auf den Weihnachtsmann warten?“
„Ich mache alles mit, lass mir vieles gefallen“, schnieft das Rentier, „aber in das kleine Schiff steige ich nicht.“ Dabei blickt er durch den Schneesturm über die Deichkrone auf den kleinen Hafen, an dessen Kaimauer ein Fischkutter vertäut ist, der sich im Sturm heftig auf und ab bewegt.
„Nun denn“, seufzt der Weihnachtsmann resignierend, stapft zum Schlitten und wirft sich einen der Säcke über den Rücken. Tiefe Spuren zeichnen seinen Weg vom Deich hinunter zum schaukelnden Schiff. Der Fischer hilft ihm an Bord, löst die Leinen und dann tuckert das Boot gegen den Wind hinaus ins Wattenmeer. Kaum ist es um die schützende Hafenmole gebogen, als es heftig zu schlingern anfängt. Es bäumt sich auf, der Bug ist gen Himmel gerichtet, verharrt einen Herzschlag in dieser Position, um dann in rasender Geschwindigkeit vornüber zu kippen. Mit einem lauten Platsch knallt es zurück auf die Wasseroberfläche, dass alle Planken beben. Dann stürzt sich eine große Welle auf den kleinen Kutter, türmt sich vor dem Schiff auf, zögert einen winzigen Augenblick und bricht dann mit Urgewalt über die Aufbauten herein. Es scheint, als würde sie den Mast und die Aufbauten zerschmettern. Mit einem Gurgeln läuft das Wasser über das Deck.
Der Weihnachtsmann hält sich krampfhaft an der Reling fest. Seine Kleidung ist klitschnass. Dort, wo über dem weißen Bart sonst lustige Augen hervor blinzeln, funkeln zwei angstvoll aufgerissenen Pupillen aus einem grünen Gesicht.
Das, so glaubt er, ist das Ende des frommen Mannes. Nie wieder werden die Kinder zu diesem heiligen Festtag auf den guten Alten mit dem Sack voller Geschenke warten können. Bei diesem Unwetter stirbt er glatt den Seemannstod.
Hinter der Glasscheibe des Steuerhauses steht der Fischer und hält sich am Ruder fest. Immer wenn das ablaufende Wasser einen Blick auf sein Gesicht frei gibt, kann man das breite Grinsen sehen, das ihn beim Anblick des erbärmlich zitternden seekranken Weihnachtsmannes befällt.
Doch jede Seefahrt hat einmal ein Ende. Als der Kutter am sturmumtosenden Landungssteg der Hallig festmacht, hilft der Schiffer dem laut mit den Zähnen klappernden Weihnachtsmann von Bord. Mit schlürfenden Schritten schleicht sich der Brave mit seinem Sack auf dem Rücken zu ersten Warft, den Hügeln, auf denen die Häuser der Halligbewohner errichtet sind.
Dankbar nimmt er das Angebot der Familie an, sich erst einmal am bullernden Kachelofen aufzuwärmen und seine Kleidung ein wenig zu trocknen, bevor er zu den anderen Warften weiter ziehen kann, um dann... Aber daran mag der Weihnachtsmann nicht denken, dass ihm auch noch der Rückweg durch das Wattenmeer bevorsteht. Schließlich muss er ja die Kinder auf dem Festland auch noch beschenken.
Ein warmer Rum würde ihm sicher gut tun, meint der fürsorgliche Familienvater. Und ehe der Weihnachtsmann protestieren kann, hat er ein halbvolles Glas vor sich stehen. Laut bekundet er, dass er bei seinem wichtigen Auftrag doch keinen Alkohol trinken dürfe.
„Aber“, erwidert der Vater, „wem nützt ein Weihnachtsmann, der sich bei diesem Schneesturm einen heftigen Schnupfen zugezogen hat?“
„Nun gut“, antwortet der Weihnachtsmann. „Ich trinke den Rum aber nur verdünnt. Mit warmen Wasser vielleicht. Und ein wenig Zucker, weil der Alkohol doch recht streng ist...“
Der Halligbewohner schüttelt den Kopf. Das hat er noch nie erlebt, dass jemand den kostbaren Rum mit Wasser verdünnt. Aber, bitte, wenn es denn sein Wunsch ist...
Kurz darauf erfüllt ein herrlicher aromatischer Duft den Raum, so dass auch die Einheimischen neugierig werden und etwas von dem eigentümlichen Gebräu probieren. Es schmeckt in der Tat sehr aromatisch, so dass man sich gemeinsam mit dem Gast ein zweites Glas gönnt. Beim dritten stoßen alle fröhlich miteinander an; während der nächsten vier herrscht ein munteres Palaver vor dem warmen Kachelofen, dann fangen alle gemeinsam an zu singen und selbst der Weihnachtsmann hat in der Zwischenzeit vergessen, dass ihm die fürchterliche Rückfahrt durch die sturmgepeitschte Nordsee eigentlich noch bevor steht.
Keiner der fröhlichen Leute hat die folgenden Gläser mitgezählt, als der Weihnachtsmann plötzlich einen lauten Rülpser von sich gibt, nach hinten umfällt und dabei vor sich hinlallt:
„Jetscht bün ich aber – hicks – toootal groggy!“
Bestürzt halten die trinkfesten Halligbewohner ein. Das haben sie nicht gewollt. Wer soll jetzt die Geschenke zu den vielen anderen Kindern bringen, die noch sehnsüchtig auf den Weihnachtsmann warten?
„Wir müssen ihn wieder wecken“, stöhnt angstvoll der Vater und rüttelt am roten Mantel.
Doch dem Weihnachtsmann ist außer einem tiefen Schnarchen nichts zu entlocken.
„Flensburg ist ganz in der Nähe. Und wenn der gute Mann mit soviel Alkohol am Zügel erwischt wird, darf er bestimmt nächsten Jahr keinen Schlitten fahren.“, meint die kluge Mutter.
„Ja, und jetzt? Wo er doch so – wie sagte er noch gleich – groggy ist von dem... ähhh Grog – was machen wir jetzt?“
„Tja“, zuckt die Mutter mit den Schultern. „Für dieses Jahr wird seine Bescherungsreise wohl hier enden.“
Das Drama um den müden Weihnachtsmann ist natürlich auch im Himmel nicht verborgen geblieben.
„Und was soll nun mit den Kindern geschehen, die noch nicht beschert wurden?“ will Petrus wissen.
Der liebe Gott lächelt weise. „Die können natürlich nicht darunter leiden, dass den Überbringer der schönen Dinge dieses neue Getränk - wie nannte er es noch gleich? – außer Gefecht gesetzt hat. Da wird ganz schnell jemand für den Weihnachtsmann einspringen und die Kinder beschenken müssen.“
„Oh nein!“ Petrus schüttelt heftig den Kopf. „Bei dem Wetter, Chef, bekommst du mich nicht hinunter auf die Erde.“
„Das verstehe ich nicht“, antwort Gott. „Du selbst hast doch dieses Wetter gemacht...“
Immer wieder schüttelt Petrus sein Haupt und klammert sich an einem stabilen Laternenpfahl in der Milchstrasse fest, auf dem ein großer leuchtender Stern befestigt ist.
„Nun, dann müssen wir jemand anders auf die Erde schicken, der die Tour des Weihnachtsmannes übernimmt und die Geschenke austeilt. Ich habe auch schon eine Idee, wen wir damit beauftragen...“
Und so kommt es, dass im Norden der Weihnachtsmann die Kinder besucht, während im Süden das Christkind die Gaben verteilt.