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Der Herbst und der Bach und der Garten
Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein. (Goethe)
Das Haus der Familie Stein lag an einem kleinen Bach. Von der Grundstücksgrenze aus konnten die Steins den Bachlauf beobachten. Gemächlich plätscherte das klare Nass vor sich hin. Wundervoll, ein solches Grundstück zu besitzen. Nur im Hochsommer, wenn sich die Mücken paarten, gab es eben auch Nachteile. Johannes Stein hatte vorsorglich eine große Packung Antimückenlotion in der Küche stehen und auch ein kühlendes Gel zur Linderung, falls die Vorsorge, wie meistens, nicht funktionierte. Durch die Küche, über die Terrasse konnte er in den rückwärtigen, mit alten Kastanienbäumen schön eingewachsenen Garten gelangen. Eine Pergola mit roséfarbenen, betörend duftenden Rosen trennte Terrasse und Garten.
Johannes beschäftigte sich damit, die letzten Tapetenreste von der Wohnzimmerwand abzureißen. Er freute sich, endlich ein größeres Stück zu erwischen, denn die Tapete hatte überhaupt nichts getaugt, ganz im Gegensatz zum Kleister. Eine Kinderschrift kam zum Vorschein. Papi ist stand da. Johannes erinnerte sich ziemlich genau: Diese erste Tapetenlage stammte aus dem Jahr 1970.
Christiane, seine Tochter, hatte mit acht Jahren Papi ist doof geschrieben und dabei herzlich ihr silberhelles und koboldhaftes Lachen gelacht. Selbst in Momenten, in denen Johannes ernst wurde, weil die Kleine Unfug getrieben hatte, erweichte ihre fröhliche Art sein Herz und die Strafe fiel nicht besonders hart aus. Papi ist doof – Johannes starrte auf die orangefarbene Tapete mit dem riesigen Ornament, das allerdings nur noch zur Hälfte zu sehen war. Er konnte seinen Blick nicht von der Kinderschrift lösen.
Johannes hatte gerade seinen 70. Geburtstag gefeiert, den Herbst des Lebens. In großem Kreis, so, wie es sich gehörte, in einem kleinen, feinen Restaurant. Charlotte, seine Frau, würde ihren runden Geburtstag im nächsten Jahr begehen, vermutlich würden sie wieder im gleichen Lokal feiern. Charlotte litt unter Rheuma. Einkäufe bereiteten ihr viel Mühe, Fensterputzen auch und das Bücken fiel schwer. Johannes dagegen wirkte, obschon ihn oft der Ischiasnerv plagte, wie ein flotter Hirsch. Jedenfalls drückte seine Frau es so aus.
Johannes riss sich von der krakeligen Schrift an der Wand los. Christiane hatte inzwischen selbst ein Kind bekommen, Kaspar hieß der Kleine und lachte fast wie seine Mutter. Leider sah er die beiden sehr selten, da sie nach der Eheschließung zu ihrem Mann nach München gezogen waren. Telefonate und die obligatorischen Weihnachts- und Osterbesuche hielten ihre Beziehung wach. Johannes hätte gerne mehr von seiner Tochter gehabt.
Er ging in die Küche, für ihn das schönste Zimmer des Hauses. Die geräumige Wohnküche stand jetzt leer. Sie bot genügend Platz für einen riesigen Tisch, für viele Kinder und Lärm. Er roch förmlich die Pfannkuchen seiner Frau. Blaubeerpfannkuchen – seine innere Stimme betonte jede Silbe. Wie kann ein nur gedachtes Wort Magenknurren auslösen, fragte er sich und lächelte. Er ließ einen Blick schweifen. Die Küche schien sauber zu sein. Johannes stieg in den ersten Stock, ins Schlafzimmer. Er sah sich um, auch hier alles leer. Kalt, dachte er. Als das Schlafzimmer noch voller Möbel stand, hatte es wohlige Wärme ausgestrahlt. Das breite Bett mit den vielen dicken Kissen hatte die Mitte des Raums beherrscht, Leselampen auf den Nachttischen und hinterm Bett, daneben ein knorriger Eichenschrank aus dem letzten Jahrhundert. Viele schöne Momente hatte er hier erlebt. In jungen Jahren waren sie wie verliebte Dachse übereinander hergefallen.
Das nebenan liegende, ehemalige Zimmer seines Sohnes brauchte er eigentlich nicht mehr zu kontrollieren. Trotzdem wollte er noch einen Blick hinein werfen, prüfen, ob alles in Ordnung war. Selbstverständlich war alles in Ordnung, sein Sohn hatte beim Ausräumen geholfen. Die Steins blickten voller Stolz auf ihn, einen mittlerweile sehr engagierten Lehrer. Johannes amüsierte sich, wenn sein Sohn über die mißratene heutige Jugend schimpfte, die er für unkonzentriert und undiszipliniert hielt. Ja, dachte Johannes dann schmunzelnd, es ist schon ein Kreuz mit den jungen Leuten. Als Letztes das Zimmer seiner Tochter, von dem aus er in den Garten sah. Die herbstliche Sonne tauchte Kastanien und Blüten in beinahe goldenes Licht.
Charlotte wollte in eine Altenwohnanlage ziehen. Der Gedanke daran behagte Johannes überhaupt nicht. Ein Jahr lang weigerte er sich strikt. Doch seine Gegenwehr ließ nach, als die Kräfte seiner Frau mehr und mehr schwanden. Natürlich machte es Arbeit, den Garten zu pflegen und natürlich war das Haus viel zu groß. Andererseits - richtig alt fühlte er sich nicht. Als Johannes sich endlich doch mit dem Gedanken an eine Altenwohnanlage angefreundet hatte, ging alles sehr schnell. Zu schnell für seinen Geschmack. Durch den Verkauf des Hauses sahen sie einem ausgesprochen luxuriösen Lebensabend entgegen und entschieden sich für ein Appartement mitten in der Stadt, großzügig ausgestattet, mit ansprechendem Balkon und Blick auf einen gepflegten Park.
Charlottes Seele glich einer runden Porzellantasse. Neigte man die Tasse und ließ dann los, fand sie schnell wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Ein sonniges Gemüt. Darum hatte Johannes sie geheiratet, denn was immer in ihrem Leben geschah - Charlotte zeigte sich guten Mutes. Er selbst nahm Windungen des Lebens nie so leicht und vermutete auf jedem Weg einen Stolperstein. Charlotte freute sich auf gesellige Abende in der neuen Umgebung, aber Johannes fand schon den Gedanken schrecklich, sein Leben nur noch mit uralten Leuten zu verbringen.
Er stand am Fenster im ersten Stock und konnte die Augen nicht vom Garten lösen. Nicht vom Gartenhaus, das er damals in mühevoller Kleinarbeit zusammengezimmert hatte. Der Anblick schmerzte körperlich. Er fühlte überdeutlich den Unterschied zwischen Loslassen - Wollen und tatsächlich Loslassen - Können. Eine halbe Stunde noch, dann würde er das Haus dem neuen Eigentümer übergeben. Der Schlüssel brannte in seiner Hand. Ein junge Familie mit Baby hatte das Haus gekauft, sympathische Leute, denen die Freude über das neue Zuhause anzusehen war. Christiane freute sich, dass ihr altes Heim von einer munteren, fröhlichen Familie in Besitz genommen wurde. Johannes schwieg.
Er ging wieder hinunter ins Wohnzimmer, um das Fragment der Tapete mit den Worten seiner Tochter zu entfernen, möglichst in einem Stück. Das gestaltete sich als schwierige Fummelarbeit, aber er schaffte es, rollte das Tapetenstück zusammen und steckte es ein. Johannes schlurfte in den Garten. Wehmut. Das gleichmäßige, fast langweilige Bachplätschern. Johannes weinte. Er entrollte das Tapetenfragment und las tränenverschwommen die Worte seiner Tochter. Papi ist doof. Stumm nickte er. Du hattest recht, meine Kleine – Papi ist wirklich doof.
... wie ein Lostopf greifst du in die dunkle Zukunft: Was du fassest, ist noch zugerollt, dir unbewusst, sei´s Treffer oder Fehler! (Goethe "Egmont")