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Der Hochsitz
Er fährt bis zum Ende des holprigen Waldweges und schaltet den Motor aus. Er wartet eine Weile, bevor er aussteigt, die Tasche mit dem Gewehr schultert und nach dem Rucksack greift. Kalte Nachtluft schlägt ihm entgegen, die blasse Mondsichel durchdringt die Dunkelheit kaum, aber er kennt den Weg. Für den Notfall ist die Taschenlampe in seiner Jacke. Feuchtes Laub dämpft die Schritte, es ist nicht weit. Die Holzbalken des Hochsitzes steigt er vorsichtig hinauf, legt das Gewehr auf den Boden und löst den Riemen.
Nebelschwaden kriechen durch den Wald, er spürt sie mehr, als dass er sie sieht. Wenn die Dämmerung einsetzt, wird die Sicht nicht gut sein. Im Rucksack sind Brote, Schnaps, Handschuhe und die Wärmebildkamera. Er nimmt einen Schluck und packt die selbstgeschmierten Brote aus. Früher hatte seine Frau für die Verpflegung gesorgt. Obwohl sie seine Jagdleidenschaft nicht teilte, fand er manchmal ein Stück Kuchen oder einen Schokoriegel im Rucksack. Eine Thermoskanne mit heißem Tee, in die er den Schnaps kippte.
Es ist still hier oben, bis auf das Grundrauschen: Das leichte Rascheln der Nadeln und Büsche, wenn eine Böe durchzieht. Das Knacken, wenn etwas von den Bäumen fällt. Er atmet den Geruch des Herbstes ein, die Frische, die eigentlich Verwesung ist. Der Wald führt ein Eigenleben, die Lichtung vor ihm ist nicht zu sehen, aber das wird noch.
„Das wird noch“, hatte sie immer gesagt, wenn sie Probleme hatten, anderer Meinung waren, eine ganze Weile, dann nicht mehr. Die Trennung teilte sie ihm mit, als sie den Tisch abwischte. Sie fegte die Krümel herunter und ihre Beziehung gleich mit. Ob sie einen Neuen hätte, hatte er gefragt. Sie sah ihn nicht an, faltete das Geschirrtuch zusammen ohne etwas zu sagen.
Er nimmt die Kamera und glast den Bereich zu seiner Linken ab. Alles scheint ruhig zu sein, zwischen den Bäumen ist nichts zu sehen. Er gönnt sich einen weiteren Schluck und prüft das Gewehr. Ein Repetierer, natürlich mit Holzschaft. Nussbaum, wellige Maserung, samtweich im Griff. Sie hatte nie begriffen, warum er die Waffe mag. Sie hatte nichts begriffen, von der Jagd schon gar nicht.
„Wie oft schießt du auf ein Tier?“, hatte sie gefragt. Als würde er das Wild massakrieren.
Die Windrichtung stimmt, die Tiere im Wald können ihn nicht wittern. Die jungen Eichen und Birken stehen am Ende der Lichtung, er hat bei der Aufforstung geholfen, um die Monokultur der Kiefern zu diversifizieren. So nennt es das Forstamt. Wenn das Rehwild dorthin will, muss es über die Lichtung. Eine Schneise von höchstens hundert Metern, die perfekte Schussentfernung. Anvisieren, bewegungslos bleiben, ausatmen, Luft anhalten, Abzug drücken. Den Rückstoß merkt er nicht, wenn er auf das Wild fokussiert ist.
„Sie sind nicht nur auf die Jagd fokussiert, oder?“, fragte sie beim ersten Telefonat. Sie arbeitete bei der Forstverwaltung und hatte diese Stimme. Er hielt mit der Antwort zurück, ihn interessierte die Person am anderen Ende der Leitung.
„Worauf liegt Ihr Schwerpunkt?“, fragte er zurück.
Er hörte nicht, was sie sagte, nur die Art, wie sie sprach. Es kam ihm vor, als wäre sie gerade aus dem Bett gekommen oder auf dem Weg dorthin. Die Bedeutung ihrer Worte erreichte ihn nur bruchstückhaft, sie sprach von irgendwelchen Aufforstungen, aber gegen Ende des Gesprächs war er geistesgegenwärtig.
„Wir sollten eine Begehung machen!“
Sie sagte zu.
Als er sie traf, war er kaum in der Lage zu sprechen. Ihre Stimme hatte ihm schlaflose Nächte bereitet, auf das, was da am Waldrand stand, war er nicht vorbereitet. Sie streckte die Hand aus, er nahm sie, etwas zu fest. Sie legte den Kopf zurück und sog den Geruch des Waldes ein. Sie vermied den Blickkontakt zu ihm, während er sie anstarrte. Er riss sich los.
„Wollen wir?“, fragte er.
Ein Nicken, er schritt voran, sie folgte. Er zeigte ihr die Lichtung und schlug eine Stelle für die Neuanpflanzungen vor. Ihr gefiel der Ort.
„Wir werden einen Zaun um das Areal brauchen“, sagte sie.
„Wegen dem Wildverbiss? Kann nicht schaden, außerdem gibt`s den da.“
Er deutete auf den Hochsitz am Rand.
Sie sah ihn nicht an. Das verwirrte ihn, erst später merkte er, dass sie niemandem direkt in die Augen blickte. Aber er fühlte ihre Unsicherheit, hatte längst in den Jagdmodus geschaltet.
Das Schwarz der Nacht wird zu einem konturlosen Grau, der Nebel macht die Sicht nicht besser. Er atmet die feuchte Herbstluft ein und reibt sich die Hände. Ein Geräusch, ein leichtes Knacken. Als wäre etwas auf einen Kiefernzapfen oder einen Zweig getreten. Die Wärmebildkameran zeigt nur Bäume. Schwenk nach links, wieder zurück, langsam. Er starrt durch das Gerät. Nichts zu sehen. Aber etwas starrt zurück, er fühlt es. Zwischen den Bäumen. Es wartet und weiß, wo er ist. Der Repetierer beruhigt ihn, drei Schuss im Magazin, einer im Lauf.
Ein paar Wochen nach der Begehung starben ihre Eltern. Ihr Tod warf sie völlig aus der Bahn. Autounfall, nasse Fahrbahn, Kurve, vermutlich zu schnell gefahren. Es ist wie bei der Jagd, dachte er. Die Unvorsichtigen trifft es zuerst. Sie nahm nichts mehr zu sich, ließ sich krankschreiben, verkroch sich zuhause.
„Ich habe niemanden mehr“, sagte sie.
Er nahm sie in den Arm und strich ihr beruhigend über den Kopf.
Auf der Beerdigung konnte sie kaum gehen, klammerte sich an seinen Arm. Es war ein strahlend schöner Tag, keine Wolke am Himmel. Er würde sich um sie kümmern. Er versprach es, ihr und sich selbst. Nichts würde das ändern.
Bei ihr änderte sich alles, als sie bei der Forstverwaltung kündigte und den Job als Landschafts-Architektin in einem Park annahm. Meetings mit Kollegen, die sich hinzogen, wichtige Termine, die nicht aufzuschieben waren. Behauptete sie jedenfalls. Sie sahen sich immer seltener. Er schnitt eine Schneise in den Zaun, den sie hatte aufstellen lassen. Fünf Meter breit. Das Rehwild würde den Zugang zu den neu gepflanzten Bäumen begrüßen. Und musste am Hochsitz vorbei. Er brauchte nur zu warten. Das konnte er schon immer.
Bei ihr half es nicht. Was hatte er nicht alles getan, um ihr auf die Beine zu helfen, war für sie da, immer. Er wartete, aber sie entfernte sich von ihm, jeden Tag ein bisschen mehr. Sie redeten nicht, bis zu jenem Abend, an dem sie alles einfach wegwischte. Hat sie tatsächlich geglaubt, er würde sie gehen lassen?
Er nimmt den letzten Schluck. Die Dämmerung hat eingesetzt, der Nebel lichtet sich, er kann die Umrisse der Bäume erkennen. Wieder ein Knacken, leise, aber er hat es gehört. Er hält den Atem an und lauscht. Es kann noch niemand hinter ihm her sein, so schnell nicht.
Dann sieht er das Reh zwischen den Kiefern stehen. Bewegungslos, den Kopf erhoben, es schaut ihn direkt an, weiß, wo er ist. Die Kamera fällt zu Boden, das scheppernde Geräusch durchschneidet die Stille. Das Tier zeigt keinen Fluchtreflex, es steht einfach da und sieht zu ihm hoch. Er nimmt den Repetierer an die Schulter.