Der König der Toten
„Bleib im Dorf!“, warnte Janus’ Mutter.
Der kleine Junge hatte sich gerade in einen dicken Mantel gehüllt und einen Wollschal um seinen Hals gewickelt, um nach draußen zu gehen. „Ja, Mutter“, sagte er und verharrte kurz. Er warf seiner Mutter einen letzten flüchtigen Blick zu und ging schließlich in die eisige Kälte.
Der Winter war hereingebrochen und hatte das Land in einen weißen Schleier getaucht. Es war neblig und weiche Schneeflocken fielen vom Himmel.
Janus sah sich um und konnte auf Anhieb niemanden entdecken. Er entfernte sich von der kleinen Hütte, in der er zusammen mit seiner Mutter lebte. Sein Vater war vor Jahren umgekommen.
Ziellos streifte er durch das Dorf und sah dabei nur wenige Gesichter. Die meisten Leute bevorzugten bei diesem Wetter offenbar ihre warme Stube. Aber nicht Janus. Er ging so oft wie möglich nach draußen. Seit sein Vater gestorben war, fühlte er sich zu Hause nicht mehr wohl, obwohl seine Mutter ihn liebte und umsorgte. Er floh vor ihrer Warmherzigkeit und sie bekam ihn nur unregelmäßig zu den Mahlzeiten zu sehen.
Gedankenverloren ging Janus zwischen den kleinen Hütten her. Es war ein winziges Dorf und lag am Rande eines Waldes. Ganz in der Nähe begann das Meer, auf das man bei gutem Wetter eine wundervolle Aussicht genießen konnte.
Sehnsüchtig dachte Janus daran. So lange er sich erinnern konnte, faszinierte ihn das Meer. Oft ging er zu den Klippen und sah hinab in die mysteriöse Tiefe. Er träumte davon, wie es sein musste, die weiten Meere mit einem großen Schiff zu befahren. Er bezweifelte, dass er es jemals tatsächlich erfahren würde.
Abrupt blieb er stehen. Seine Beine hatten ihn, ohne dass er es gemerkt hatte, zum Tor geführt. Das Dorf wurde von einem Holzwall geschützt und es gab nur diesen einen Durchgang.
Unschlüssig blickte Janus sich um. Niemand war zu sehen. Seine Mutter hatte ihm verboten, das Dorf zu verlassen, vermutlich in der Befürchtung, er könnte sich bei dem dichten Nebel verlaufen, zumal es bald dunkel wurde.
Doch Janus fühlte, wie ihn etwas fortzog. Es war wie ein verführerisches Wispern, das ihn lockte, eine heimliche Stimme in seinem Inneren, die ihn durch das Tor leiten wollte. Immer machtvoller, aber nicht lauter, wurde diese Stimme.
Je einnehmender sie wurde, desto mehr verblasste der Klang seiner Mutter, die ihn davor gewarnt hatte, das Dorf zu verlassen.
Minuten vergingen, in denen Janus sich nicht rührte und in denen die Erinnerungen an sein Heim verblassten.
Übrig blieb einzig das Tor, das nun einladender denn je wirkte. Bedächtig setzte Janus einen Schritt vor den anderen, öffnete es und trat hindurch.
Ein eisiger Windzug wehte ihm entgegen und durchs Gesicht. Hinter dem Tor offenbarte sich eine klaustrophobische, schneebedeckte Ebene, von der Janus durch den Nebel fast nichts erkennen konnte.
Es kam ihm so vor, als würde die Temperatur weiter abfallen, nun da er das Tor durchquert hatte. Der kalte Wind riss nicht ab und der Nebel verdichtete sich.
Fast war es, als wollte das Land Janus davon abhalten, weiter voranzuschreiten, als wollte es ihn wieder ins Dorf zwingen.
Doch trotz der Widrigkeiten setzte er sich in Bewegung und bahnte sich seinen Weg durch den Knie hohen Schnee. Er wusste nicht, wo er hinwollte, doch seine Beine schienen den Weg zu kennen. Wie eine Maschine setzte er einen Fuß vor den anderen und zwang den Schnee beiseite.
Dunkle Gedanken schossen ihm durch den Kopf und er wusste nicht, woher sie kamen. Grauen packte ihn, doch umzukehren kam ihm nicht in den Sinn. Die Dunkelheit in seinem Kopf ließ keinen Platz mehr für das Dorf, das hinter ihm lag. Er dachte nur noch an die Verlockung, die voraus im Nebel versteckt war.
Die Nacht war bereits hereingebrochen als Janus an einen Abgrund kam. Weit unter sich konnte er das Tosen der Wellen hören, wie sie gegen den nackten Fels donnerten. Er hatte die Klippen zum Meer erreicht.
Der Nebel kam näher. Janus spürte, wie er ihm die Beine hoch krabbelte, wie eine eisige tote Hand. Fast hatte ihn der Nebel ganz verschluckt, doch dann wich er beiseite und gab eine immer weiter werdende Sicht frei.
Janus konnte das kalte Wasser viele Fuß unter sich erkennen. Doch etwas stimmte nicht. Dort war etwas im Wasser, etwas das er noch nie zuvor gesehen hatte. Es sah aus wie Lumpen und verfaultes Fleisch. Janus schaute genauer hin und erkannte, dass die Wellen tote Körper trugen. Sie warfen sie gegen den harten Fels und nahmen sie wieder zurück ins Meer, immer wieder.
Woher kamen diese Leichen?
Janus konnte seinen Blick nicht abwenden. Eine Starre hatte von ihm Besitz ergriffen, die ihn dazu zwang, seine Augen auf die treibenden Körper zu richten.
Wieso war er hier her gekommen? Wieso stand er an dieser Klippe und konnte sich nicht rühren?
Er versuchte, die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen, doch noch immer klebten seine Augen an den schmierigen Leichen.
Mit aller Macht spannte er seine Muskeln an und schaffte es schließlich, einen Schritt zurück zu machen. Ungeschickt trat er auf, knickte um und fiel in den Schnee. Dort blieb er zunächst reglos liegen. Dann hob er langsam den Kopf und sah, wie der Nebel sich längs der Klippe weiter zurückzog.
Die Neugierde nahm wieder von ihm Besitz. Was wollte ihm der Nebel diesmal zeigen?
Mühsam rappelte er sich auf und merkte gar nicht, dass er vor Kälte zitterte.
Er folgte dem sich öffnenden Nebel. Mehrmals fiel er hin, doch er richtete sich immer wieder auf und folgte der Verlockung.
Schließlich erreichte er eine kahle Treppe, die in den Fels gemeißelt schien und offenbar hinab zum Meer führte. Doch die Stufen waren uneben und glatt.
Janus konnte sich nicht erinnern, diese Treppe jemals bemerkt zu haben, obwohl er schon oft zu den Klippen gegangen war. Woher kam sie also plötzlich?
Oder war sie schon immer dort gewesen, in den Stein gehauen vor unzähligen Jahren? Und hatte Janus sie nur deshalb noch nie gesehen, weil er noch nie so weit gegangen war wie an jenem Tag?
Wie auch immer es sich verhalten mochte, die Treppe lag nun zu seinen Füßen und zeigte ihm einen Weg hinab zum Wasser. Er würde dem Meer näher sein als jemals zuvor. Die von den Wellen getragenen Leichen hatte er schon vergessen.
Er setzte einen Fuß auf die erste Stufe und merkte wie glatt es war. Vorsichtig schritt er die Treppe hinab, die sich lang zog und nicht sehr steil war. Doch je tiefer er kam, desto lauter hörte er das Meer und desto deutlicher roch er das Salz darin.
Er erreichte den Fuß der Klippen und damit das Wasser. Die Stufen hatten ihn auf einen kleinen Felsen geführt, der aus den Wellen herausstach.
Still stand er da und spürte den kalten Wind, der ihm durch die Kleider wehte.
Er sah ins Wasser und bemerkte die toten Körper, die auf den Wellen schwammen und von ihnen gegen die Klippen gestoßen wurden. Erschrocken saugte er nach Luft.
Viele Fuß weiter oben musste er vorhin auf der Klippe gestanden und ins Meer hinab gesehen haben. Die Treppe hatte ihn geradewegs zu den Leichen geführt!
Ängstlich blickte er die Stufen hinauf. Sie waren noch immer dort. Er konnte umkehren. Doch wohin? Er erinnerte sich wieder an das Dorf und an seine Mutter. Dorthin konnte er zurückkehren. Dort war er in Sicherheit, dort konnte er ruhen und seine Mutter umarmen.
Doch dann verblasste dieses Bild und sein Denken verdunkelte sich wieder. Er verharrte auf dem Felsen und sah die Leichen um sich.
Der Nebel zog sich weiter zurück und gab den Mondschein frei. An einer Stelle, weiter draußen auf dem Meer, wurde er reflektiert und dort erkannte Janus einen einsamen toten Körper, der von den Wellen umhergeschubst wurde, aber nicht näher an die Klippen getragen wurde. Wieso? Wieso war er nicht bei den anderen Körpern?
Janus versuchte angestrengt, mehr zu erkennen und es war ihm, als würde die Leiche die Hand zum Gruß heben. Konnte das sein? Meinte der Leblose ihn?
Alle Gedanken an sein zu Hause waren wie weggeblasen. Einzig der stille Gruß hatte Bedeutung für ihn. Und wieder spürte er diese Neugierde, die Verlockung, die ihn einen Schritt nach vorne machen ließ.
Er stand nun am Rand des Felsens und spähte zu dem Körper hinüber. Er wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Er musste einfach wissen, ob der Tote ihn grüßte. Es war ein Verlangen, das er nicht zu stillen vermochte.
Unvermittelt ging er los und fiel sofort ins eiskalte Wasser, wo er wild strampelte und prustete.
Doch er dachte nicht daran, wieder auf den rettenden Felsen zu klettern. Er schwamm aufs offene Meer hinaus und ließ sich dabei nicht von Wellen, Leichen und Kälte aufhalten. Er wollte nur zu dem grüßenden Toten.
Die Eiseskälte wollte ihn lähmen, doch er ließ es nicht zu. Mit eisernem Willen überschwamm er jede Welle und erreichte schließlich den leblosen Körper, der vom Mondschein erhellt wurde.
Er hielt sich an ihm fest, aber nichts deutete darauf hin, dass der Tote ihn gegrüßt hatte.
Janus sah ihm ins Gesicht, das vom Wasser völlig aufgeweicht war.
Einige Momente lang tat er nichts anderes. Dann war es, als würde er hinter die schleimigen Züge des Toten blicken und er glaubte, jemand Vertrautes zu erkennen.
Es war sein Vater, dem er dort in das entstellte Gesicht blickte. Aber wie?
Wieso hatte sein Vater ihn gegrüßt? Wieso hatte er ihn aufs Meer hinaus gelockt? Wollte er ihn tot sehen?
Gebannt starrte Janus in die Augen des Toten. Nie wieder wollte er dieses Bild vergessen. Doch der Schein verging, er bröckelte Stück für Stück, bis das Gesicht seines Vaters verschwunden war. Nur die schleimigen Züge der Leiche blieben erhalten. Jeder tiefere Blick in die Person dahinter wurde Janus verwehrt.
Es war ein Fremder, an den er sich klammerte, sein Vater nur ein Trugbild.
Mit dieser Erkenntnis kehrte die Angst zurück. Erst jetzt wurde Janus bewusst, wie kalt das Wasser tatsächlich war und mit Grauen stellte er fest, dass er seine Beine nicht mehr spürte.
Das volle Ausmaß seiner Situation drohte, ihn zu überwältigen.
Er war ganz allein, gefangen im Meer und klammerte sich verzweifelt an einen toten Körper.
War dies die Verlockung? Hatte sie ihn hier hergeführt, um ihn qualvoll sterben zu sehen?
Wieso war er ihr gefolgt? Er wünschte, er hätte auf seine Mutter gehört und wäre im Dorf geblieben. Er wünschte, er wäre bei ihr.
Seinen Vater hatte er vor langer Zeit verloren und er war in dieser Nacht nicht zurückgekehrt. Nun hatte er auch seine Mutter verloren.
Bei diesem Gedanken schwanden ihm die Sinne, die Kälte übermannte ihn. Das Mondlicht verblasste.
Janus Körper entspannte sich und die kalten Arme verloren ihren Halt. Er rutschte ins Wasser und dort trieb er, ganz allein, verlassen von jeder Seele.
Der Nebel verdichtete sich wieder und verschluckte Janus und niemand konnte mehr aufs Meer hinausblicken.