- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Der kleine Oskar
Cäsar benahm sich wie ein kleiner Junge in seiner Vorfreude auf die Familie, die sie schon sehr bald sein würden. Fine hatte vollstes Verständnis dafür, dass er jetzt Wichtigeres zu tun hatte, als ihr mit dem Haushalt zu helfen. Er musste die Wiegen für ihre kleinen Mäuslein bauen, damit sie ein Bettchen hätten, wenn sie auf die Welt kämen. Doktor Mauspille, ein studierter Mäuserich aus der Stadt, hatte Fine untersucht und ihr vier süße Babys vorausgesagt.
Cäsars Wunsch war es, dass Gerard, das rote Eichhörnchen, die Bemalung der Wiegen übernähme. Nur war es so, dass Gerard noch keine Ahnung davon hatte.
Cäsar kam vor den Mäusebau, als Gerard sich gerade am Boden aufhielt. Der war natürlich neugierig und erkundigte sich, wann denn mit dem Nachwuchs zu rechnen sei.
„Nächste Woche wird es so weit sein“, sagte Cäsar.
„Wirst du da auch die Wiegen fertig aben?“, fragte Gerard.
„Ich könnte ein bisschen Hilfe brauchen.“
Gerard war gespannt. „Iesch soll dier elfen? Was soll iesch tun?
„Du bist ein Maler mit einem so schönen Puschelschwanz. Was würdest du dazu sagen, wenn du unsere Wiegen verzieren dürftest?“
„Verzieren. Ich. Hast du dir schon mal meine Schwanzspitze angeschaut?“ Er drehte sich so, dass Cäsar seinen flauschigen Schwanz sehen konnte. Sein französischer Akzent war mit einem Mal verschwunden. „Und nun stell dir vor, wie groß deine Wiegen sind.“
„Hast du denn keine feinen Pinsel?“, fragte Cäsar etwas verunsichert. Doch Gerard hatte Cäsar nur auf den Arm genommen.
„Iesch abe die feinsten Pinsel, die du je gesehen ast, Cäsar. Wann soll iesch anfangen?“
Cäsar war froh und sagte: „Morgen kannst du anfangen. Hast du genügend Farben?“
„Oui“, sagte Gerard nur, was französisch war und ja hieß, und war im Nu in der dichten Krone seiner Linde verschwunden.
Gerard war ein Meister im Herstellen von Farben. Er wusste, welche Pflanzensäfte welche Farbtöne ergaben. So konnte er aus Blaubeeren oder Rotkohlblättern blaue Farbe gewinnen. Rhabarberwurzeln waren richtig für gelbe Farbe.
Und Ton, aus dem man Töpfe und Krüge formte, verwendete er zum Herstellen von Farben in Brauntönen. Dabei hatte er festgestellt, dass unter Tannen, der Ton dunkler war als unter Birken.
In seiner Linde hatte Gerard zwei Nester gebaut. In einem wohnte er und in dem anderen bewahrte er seine Farben und Pinsel auf. Natürlich durfte nur er dort hinein, obwohl Lucia in ihrer grenzenlosen Neugier gern einen Blick auf seine Schätze geworfen hätte.
Im Mäusebau stieg die Spannung. Cäsar hatte kaum eine freie Minute und Fine war abends schlapp und müde von ihrer Arbeit im Haushalt. Sie hätte gern ihre Mutter bei sich gehabt, aber der Weg war zu weit und zu beschwerlich, als dass sie hätte öfter zu ihnen kommen können. Cäsars Eltern hatten in der Stadt gelebt. Leider waren sie gestorben, als ein schlimmes Hochwasser gewütet hatte. Cäsar besaß noch ein Bild von ihnen, und manchmal sah Fine, wie er es betrachtete und traurig dabei wurde. Aber sofort, wenn sie von den Babys sprachen, die in Kürze geboren würden, war seine Traurigkeit verflogen.
Fine beobachtete Cäsar, wie er vor dem Kalender stand, der neben der Tür zum Schlafraum an der Wand hing, und die Tage bis zur vorhergesagten Geburt der Mäusebabys zählte. Sie spürte eine leichte Unruhe bei ihm. Dennoch zweifelte sie keinen Moment daran, dass die Wiegen rechtzeitig fertig sein würden.
Cäsar wartete darauf, dass Gerard mit der Bemalung der Wiegen beginne. Seit ihrem Gespräch waren zwei Tage vergangen und noch nichts hatte sich getan. Ja, selbst Gerard hatte er nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und Lucia wich seinen Fragen aus, wenn er sich nach Gerard erkundigte.
Es war aber auch zum Haare ausreißen! Natürlich wusste Lucia, was Gerard trieb. Zur Hochzeit hatte niemand bemerkt, wie er sich mit Zettel und einem Stift bewaffnet hatte und die Gesichter der Gäste zeichnete. Und nun war er so richtig in Schwierigkeiten geraten, weil er zugesagt hatte, die Wiegen zu bemalen. Diese Zeit würde ihm jetzt fehlen für das Bild, an dem er arbeitete und das sein Geschenk für die Mäuse zur Geburt der Kleinen sein sollte. Es war ein Hochzeitsbild mit dem Brautpaar und allen Gästen. Es würde sein größtes Meisterwerk werden.
Dann stand Gerard plötzlich mit Farben und Pinsel vor dem Mäusebau. Er war bereit zum Bemalen und Verzieren der Wiegen. Cäsar war glücklich, und auch Fine würde sich freuen, wenn sie die kleinen Kunstwerke endlich sah. Aber das würde sie erst, wenn die Kleinen auf die Welt kämen. Und das sollte am nächsten Tag sein. Cäsar fasste sich an den Kopf, als er sah, dass erst eine Wiege bemalt war. Und das auch erst zur Hälfte. Wie wollte Gerard das denn schaffen? Und das war das Zweite, das Cäsar so sehr zu schaffen machte: Gerard ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er tat so, als hätte er alle Zeit der Welt. Er pfiff sogar ein fröhliches Lied bei seiner Arbeit.
Am Abend dann traute Cäsar seinen Augen nicht. Die vier Wiegen standen nebeneinander, eine schöner als die andere. Gerard hatte sie in den Farben des Sommers bemalt. Die eine Wiege zeigte, woher Fine gekommen war, reife Getreidefelder leuchteten golden. Grün war das Laub der Linden auf der zweiten Wiege, die dritte zeigte den Himmel, an dem weiße Wolken zogen, und die vierte Wiege war mit roten Blumen bemalt, wie sie in den Gärten zu finden waren.
Cäsar war beeindruckt und glücklich, und er war dankbar.
„Gerard, wie konnte ich nur an dir zweifeln?“
„Mein Freund, iesch zweifle die ganze Zeit an mir selbst.“ Er dachte an das große Bild, von dem Cäsar und Fine keine Ahnung hatten, und das sie schon bald bekämen. Er hatte beides geschafft und darauf war er stolz.
Cäsar brachte es nicht übers Herz, Fine die Wiegen nicht vor der Geburt der Babys zu zeigen. Er ging voller Freude zu ihr, nahm sie einfach an die Pfote und zog sie mit sich.
„Wohin gehen wir?“, fragte Fine verwundert.
„Wirst du gleich sehen. Mach die Augen zu.“
Dann standen sie vor den Wiegen.
„Du kannst die Augen jetzt aufmachen.“
Fine schlug die Pfötchen vors Gesicht und jauchzte.
„Oh, wie süß!“, rief sie. Sie konnte sich nicht sattsehen. Sofort ging sie und holte die Bettwäsche, die sie von ihren Eltern bekommen hatten. Cäsar hatte weiches Moos in die Wiegen gelegt. Fine legte die kleinen Kopfkissen und Bettdecken hinein. Beide betrachteten die kleinen Bettchen und ihre Augen leuchteten.
„Wir werden Eltern“, sagte Fine und sah Cäsar in die Augen.
„Ja, vielleicht schon morgen“, sagte er glücklich.
„Ich fürchte, so lange haben wir nicht Zeit. Wir müssen die Hebamme rufen.“
„Was, jetzt?“, brachte Cäsar nur hervor.
Die Hebamme war eine alte Maus, die in den Gärten wohnte und Mathilde hieß. Sie hatte schon hundert und mehr Mäusebabys geholfen, auf die Welt zu kommen. Cäsar musste zu Fuß zu ihr gehen, das dauerte bestimmt eine Viertelstunde. Bis er wieder zurück war, verging wenigstens eine halbe Stunde. Und wie viel Zeit würde Fine noch bleiben? Er war aufgeregt, wie schon lange nicht mehr. Ob die Hörnchen ihm vielleicht helfen konnten?
„Lucia! Gerard! Seid ihr da?“
„Psst! Nicht so laut“, flüsterte Lucia, „Gerard hat sich schon hingelegt. Es war ein bisschen viel für ihn. Wo brennts denn?“
„Wir brauchen dringend die Hebamme, und bis ich dort bin, ist zu viel Zeit vergangen. Ihr könnt schneller laufen als ich. Könnte einer von euch sie holen?“
„Um Himmels willen! Die Babys kommen!“ Lucia schrie so laut, dass im nächsten Moment Gerard verschlafen neben ihr auftauchte.
„Was? Welche ... ich meine ... jetzt schon?“, stammelte er.
„Ja“, sagte Cäsar und hoffte, dass eines der Eichhörnchen sich auf den Weg zur Hebamme Mathilde machte.
„Okay, ich mach das schon“, sagte Gerard.
Aber Lucia hielt ihn zurück. „Das ist Frauensache“, sagte sie und im nächsten Moment sah man sie den Stamm ihrer Linde herunterflitzen und in weiten Sprüngen in Richtung der Gärten verschwinden.
Insgeheim war Gerard Lucia dankbar, schimpfte ihr aber hinterher, sie wolle sich nur überall vordrängeln.
„Du musst wieder hinein gehen“, sagte er zu Cäsar. „Fine braucht dich jetzt. Ich geh wieder schlafen. Sagt mir Bescheid, wenn’s was Neues gibt.“ Damit verschwand Gerard in seinem Nest.
Die nächsten Minuten waren die längsten in Cäsars Leben. Aufgeregt lief er ständig in den Bau und wieder hinaus, um zu sehen, wann endlich Lucia mit der Hebamme käme.
Mathilde war eine erfahrene Maus und wusste mit jungen Mäusefrauen umzugehen, die ihre ersten Babys bekamen. Und so kam sie schnell, aber nicht gehetzt.
Lucia setzte sich vor den Mäusebau und wich nicht von der Stelle, nur um nichts zu verpassen. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis das erste Mäusebaby das Licht der Welt erblickte. Fine war tapfer, und Cäsar stolz auf sie. Und natürlich war er stolz auf sich, als Vater. Die Hebamme gab ihm das erste Baby in den Arm, und er legte es in die erste Wiege.
„Was ist es denn?“, fragte er Mathilde.
„Ich würde sagen, es sieht wie eine Maus aus“, sagte sie mit einem Schmunzeln. Cäsar fühlte sich nicht ernst genommen.
„Warte ein paar Tage, dann kann man sie besser auseinanderhalten.“
„Aber da können wir ihnen doch noch gar keine Namen geben.“ Cäsar klang enttäuscht. Doch er kam nicht zum Grübeln, denn schon war das nächste Mäuslein auf der Welt.
Als er das vierte Baby in die letzte Wiege gelegt hatte, hörte er einen verwunderten Ruf der Hebamme.
„Was ist denn?“, fragte er zurück.
„Wie viele Bettchen habt ihr denn?“, fragte Mathilde.
„Na, vier. Wie Doktor Mauspille gesagt hatte.“
„Da werdet ihr euch wohl etwas einfallen lassen müssen. Da kommt noch das fünfte.“
Cäsar stand etwas ratlos da und machte keine Anstalten, das Kleine abzunehmen. Sie hatte es auf das Bett gelegt und schon hatte es Mathildes Finger im Mund und begann zu saugen.
„Na, du bist ja frech“, sagte Mathilde. „Du bist bestimmt ein Junge.“
„Frech, wie Oskar“, sagte Fine mit schwacher Stimme und strahlte übers ganze Gesicht.
„Und wo soll er schlafen?“, fragte Cäsar ein bisschen traurig, weil er nicht genug Bettchen gebaut hatte.
„Da muss er wohl vorerst in der Kommode schlafen.“ Und das hatte die Hebamme ernst gemeint. Nach ein bisschen Überlegen schien das wirklich die beste Idee zu sein. Die fünfte Wiege würde Cäsar aber noch bauen. Und Gerard würde auch diese bemalen. Aber jetzt musste er vor den Mäusebau, und allen, die es hören konnten und wollten, die Neuigkeit mitteilen, dass sie Eltern von fünf Babys geworden waren.
Am nächsten Morgen schrieb Fine einen Brief, den die Taube Grete zu ihren Eltern bringen sollte. Fine und Cäsar machten sich keine Sorgen mehr, dass Grete sie wieder enttäuschen würde, wie sie es zu ihrer Hochzeit getan hatte.
Und dann kam die ganz große Überraschung für das junge Elternpaar. Die Eichhörnchen kamen und gratulierten, und endlich konnte Gerard sein Hochzeitsbild überreichen. Fine und Cäsar betrachteten es. Gerard hatte alle Gäste so angeordnet, als hätten sie sich zu einem Gruppenbild aufgestellt. Vorn, in der Mitte, saßen die Brautleute auf Stühlen. Sogar die Hornissen hatte er nicht vergessen. Die Mäuse waren begeistert, suchten aber die Eichhörnchen, die nicht in der Gruppe standen. Dann entdeckten sie die beiden. Gerard hatte sich und Lucia auf dem Ast der Linde verewigt, auf dem sie während der Trauung gesessen hatten.
Aus dem Inneren des Mäusebaus drangen hungrige Babyschreie.
„Oh, wir danken euch, aber ihr hört ja, es gibt scheinbar viel Wichtigeres“, sagte Fine und nickte bedeutungsvoll in Richtung des Mäusebaus.
Sie hatte alle Pfoten voll zu tun. Als ersten nahm sie den frechen Oskar aus der Kommode, weil der am lautesten schrie.
„Na, hoffentlich bist du auch wirklich ein Junge“, sagte sie, als sie seinen großen Hunger stillte. Sie hoffte es sehr.
Cäsar nahm mit Stolz das Bild entgegen und dankte Gerard dafür. „Es bekommt einen Platz, wo wir es jeden Tag sehen können und es uns an diesen Tag erinnert.“
Am Nachmittag hörten die Eichhörnchen, wie im Mäusebau gesägt und gehämmert wurde. Gerard überlegte schon, wie er die fünfte Wiege bemalen sollte. Der kleine Oskar hatte noch nie woanders geschlafen, als in der Kommode. Warum also sollte er die Wiege nicht so bemalen, dass sie wie eine Kommode aussah? Bei diesem Gedanken lächelte er verschmitzt.