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Der Kobold-Schatz
Schwarz ist mein Kaffee, weiß ist die Milch und am Ende wird trotzdem Braun draus. Sie sitzt am Küchentisch und starrt in ihren Kaffee. Langsam dreht sie den Kopf und wendet ihren Blick zur großen schwarz-weißen Bahnhofs-Uhr, die an der Küchenwand hängt. Fünf vor zwölf. In fünf Minuten muss ich los. Sie dreht sich eine Zigarette, sieht sie an. Ach, eine geht noch. Feuerzeug an, fester Sog, Rauch auspusten. Grau oder Weiß? Vor ihr auf dem Küchentisch stehen ein Glas Orangensaft und eine Tasse Grüntee, in der Hand hat sie den Kaffee, keines davon ist ausgetrunken. Orange, grün, braun. Ziehen, Rauch einatmen, langsam auspusten, einen Schluck kalter Kaffee, ziehen, Rauch einatmen, langsam wieder auspusten. Sie schaut auf die Uhr, fünf nach zwölf. Gehe ich, gehe ich nicht, gehe ich, gehe ich nicht?
Noch einmal tief durchatmen, die Hände auf den Tisch klatschen. So. Entschlossen steht sie auf, geht in den Gang, nimmt ein Paar Schuhe, schlüpft stehend in den linken hinein, stellt den bekleideten Fuß auf den Boden, betrachtet ihn, zieht in wieder aus, nimmt ein anderes Paar, gleicher Vorgang. Passt. Sie geht in die Küche, Blick auf die Uhr, viertel nach zwölf. Okay, jetzt schnell. Eilig stampft sie durch die Wohnung, sammelt Schlüssel, Handy, Geldbeutel, Stift und Papier ein, stopft alles in einen Jutesack. Schwups, hat sie die Klinke in der Hand. Im nach unten drücken, holt die mit der anderen Hand ihr Handy aus der Jackentasche, geht in den Hausgang, schaut auf die Uhr. Zehn vor halb. Mist. Ich komme viel zu spät. Schnell läuft sie die knarrenden Holzstufen hinunter. Gehen, nicht gehen, gehen, nicht gehen. Da blitzt das Bild der halb getrunkenen Getränke in ihrem Hinterkopf auf.
Sie bleibt stehen. Sehr sehr langsam dreht sie sich um, nimmt jede Stufe in Zeitlupe. Stufe, für Stufe, für Stufe. Öffnet die Haustüre, geht durch den Gang in die Küche, setzt sich wieder an den Küchentisch, dreht sich eine. Ziehen, Rauch einatmen, langsam auspusten, einen Schluck kalter Kaffee, ziehen, Rauch einatmen, langsam wieder auspusten. Mit einem mal ist sie unendlich müde. Erst mal hinlegen.
Vrrrrrrt vrrrrrrt vrrrrrt. Das Vibrieren ihres Handys reißt sie aus dem Schlummer. Verschlafen nimmt sie es in die Hand und schaut drauf. Mama. Oh nee.
„Hallo Mama.“
„Hallo Kind, wie geht’s dir?“
„Geht so, ich bin ziemlich schlapp zur Zeit. Und dir?“
„Ach ganz gut. Ja, bei deinem Pensum wundert mich das nicht. Ich habe neulich gelesen, dass Studenten völlig überladen werden mit Uni-Arbeit und weil das Leben hier auch nicht gerade billig ist, gehen sie dann nachts noch kellnern bis in die Puppen. Gut, dass du nicht in der Gastronomie arbeitest, allerdings macht mir dieser Kredit schon Sorgen. Die wollen das Geld vom Staat jetzt erhöhen, schau doch mal ob du da auch was bekommst.“
„Mama, ich hab dir doch schon hundert mal gesagt, dass ich nichts bekomme, weil Papa zu viel verdient und der bezahlt mir doch schon Unterhalt. Das mit dem Geld ist meine Sache. Einen Job hab ich doch auch.“
„Ach und mit dieser Germanistik kann man später doch sowieso nichts anfangen, wie willst du denn deine Schulden zurück bezahlen?“
„Mensch, ich mach das schon. Man kann hinterher alles mögliche arbeiten. Außerdem studiere ich Linguistik. Lass mich einfach.“
„Warst du schon beim Arzt?“
„Nee, das wird wohl eine Erkältung sein, da brauch ich nicht zum Arzt.“
„Ach ich nehme da immer dieses, wie heißt das noch. Ach fällt mir gerade nicht ein. Ich sehe nach und schreibe dir nachher eine SMS.“
„Mach das Mama. Du ich muss jetzt auch Schluss machen und wieder ins Bett gehen.“
„Ja, ruh dich aus. Treffen wir uns bald mal?“
„Du vorerst eher nicht, bald sind Prüfungen, da hab ich keine Zeit. Ich melde mich, wenn das vorbei ist.“
„Gut. Dann mal gute Besserung.“
„Danke, tschüss Mama.“
Sie wirft das Telefon von sich weg. Es hüpft einmal auf der Matratze und kracht geräuschvoll auf den Boden. Oh nein. Schnell hechtet sie nach vorne, doch schon in dem Moment, in dem sie das Handy sieht, ist klar, dass es kaputt ist. Der Bildschirm ist völlig gesplittert. Nein, nein, nein, nein nein. Verzweifelt versucht sie das Handy zu bedienen. Keine Chance. Nichts geht. In dem Moment ruft auch noch der Freund an, mit dem sie abends verabredet ist. Sie kann nicht abheben.
Den ganzen restlichen Tag sitzt sie bloß am Tisch und überlegt wie sie ihr Kommunikationsproblem lösen könnte. Keine einzige Nummer kann sie lesen, bei dem kaputten Bildschirm. Ein paar E-Mails an die wichtigsten Leute hat sie schon geschrieben, doch von den meisten hat sie die Adresse nicht. Bei sozialen Netzwerken ist sie nicht, aus Prinzip. Das hat sie heute zum ersten mal ein wenig bereut. Warum ist es mittlerweile bloß so, dass man sich nicht einfach zu den leuten gehen und klingeln kann. Ich bin einfach zur falschen Zeit geboren. Für einen Moment denkt sie daran zu lernen, verwirft es jedoch gleich wieder. Keine Lust. Ein Buch lesen ging auch nicht. Schon nach wenigen Seiten merkte sie, dass sie nichts aufnehmen kann. Ich bekomme echt nichts gebacken heute. Eigentlich bekomme ich generell nichts gebacken. Sie sitzt am Tisch, ihr Herz beginnt zu klopfen, ihre Brust wird eng. Hilflosigkeit lähmt sie, nichts kann sie als eine nach der anderen zu rauchen, und ihre Sorgen hin und her zu wälzen, bis alles ein riesiger graubrauner Teigklumpen ist. Da hält sie es nicht mehr aus, packt Schlüssel und Jacke, schlüpft in ihre bequemsten Schuhe und stürmt aus der Wohnung.
Draußen ist es auch nicht viel besser, alles ist grau und trist und kalt. Energischen Schrittes läuft sie los, ohne Richtung oder Ziel, den Blick starr auf den Boden gerichtet, die Hände in den Jackentaschen. Warum renne ich eigentlich so? Einige Blocks weiter reduziert sie den Laufschritt zu einem gemütlichen Schlendern, hebt den Blick wieder und beginnt zu sehen. Es ist schon am dämmern, ein Winterdämmern, sehr weißes Licht, das irgendwann einfach verschwindet. Grau, weiß und blau haben die Überhand an den Fassaden. Jedes Rot, Grün und Gelb bricht unnatürlich intensiv aus dem Drumherum. Sie geht immer weiter und weiter, an unzähligen Blocks, Straßen und Ampeln vorbei. Jeder Gedanke ist bloß kurz da, dann fliegt er weiter, in ein anderes Land.
Plötzlich ist es mit der Stadt vorbei, sie ist am Fluss angekommen. Als sie den kleinen Weg zwischen die Bäume schlendert lässt sie ein tiefer Seufzer los. Sie kann wieder frei atmen und ist fast ein bisschen gut gelaunt. Es ist schon Dunkel geworden und die Straßenlaternen sind angesprungen. Ein paar Familien sind noch mit Kinderwägen unterwegs, doch das stört sie nicht. Langsam und doch zielstrebig geht sie in Richtung Wasser. Sie findet eine kleine Schleuse am Ufer des Flusses, dort ist ein kleines Stück geteert und ein Geländer angebracht. Sie lehnt sich mit verschränkten Armen auf die Eisenstangen und blickt über den Fluss. Auf der linken Seite ist ein gutes Stück weiter eine große Brücke, auf der in Reih und Glied Laternen stehen. Sie haben ein gelbes, leicht rötliches Licht, das im schwarzen Wasser unglaublich stark heraus leuchtet. Es bewegt sich die ganze Zeit und hat einen Farbton zwischen golden und bronze und ist grauschwarz durchwachsen. Es sind kleine Dreiecke, tausende davon, die gemeinsam perfekte Geometrie eines Lichtkegels abbilden und doch eine unendliche Unruhe besitzen, nie stillstehen. Es glitzert und schimmert, droht fort zu schwimmen, kommt wieder nur um gleich weiter zu flüchten. Es ist echt da, die Symbiose aus Menschen gemachtem und der Natur. Das muss das Kobold-Gold sein. Sie kichert über ihren kindisch mädchenhaften Gedanken. Es ist wirklich ein Schatz. Heute habe ich Bronze und Gold gefunden. Sie bleibt noch eine Weile stehen und schaut ihrem Fund beim funkeln zu, dann geht sie langsam weiter und kann dabei nicht aufhören zu lächeln. Findet auf dem Weg auch noch Silber und Weißgold. Immer wieder bleibt sie stehen und sieht der Bewegung von Wasser und Licht zu. Einige Jogger eilen an ihr vorbei. Schaut doch mal hin, ihr Armen. Dann ist es vorbei mit dem Fluss und seinem Schatz, sie hat die Baumgrenze überschritten.
Als sie einige Zeit später zur Tür hereinkommt klingelt gerade das Telefon.
„Hallo?“
„Hallo Kind, ich bins, Mama. Ich habe dir eine SMS wegen dem Medikament geschickt, aber du hast nicht geantwortet.“
„Ja, mein Handy ist heute kaputt gegangen.“
„Mensch, was machst du denn immer, du Schussel. Wo hast du dich denn rumgetrieben? Ich versuche es gerade schon zum dritten mal.“
„Ich war spazieren und es war echt schön. Bin eben erst zur Tür reingekommen.“
„Was um die Zeit? Ich hoffe doch, du treibst dich nicht allein im Dunkel draußen herum.“
„Doch tue ich. Und jetzt geh ich allein im Dunkeln schlafen.“
Genervt legt sie einfach auf.