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Der Laden der Farben
Fast jede Nacht träumte er den gleichen Traum: er besaß einen kleinen Laden für Farben, der hatte eine entscheidende Besonderheit: sein Maß war nicht das Gramm oder der Liter, sein Maß war - die Schönheit.
Er lag etwas abseits der großen Straßen, nur wenige Leute kamen hier vorbei; einige lugten ins Schaufenster, versuchten den Sinn zu erkennen; aber das war schwer denn er machte nie Auslagen. Den ganzen Tag stand er unbeweglich im Laden und wartete. Wartete auf Sie. Manchmal kam sie tagelang nicht. Dann wieder besah sie sich die Proben in den Vitrinen intensiv, doch auf seine Äußerungen reagierte sie nicht.
Überhaupt kaufte sie nie etwas, darauf angesprochen schüttelte sie nur leicht ihren stets weich erscheinenden Kopf. Daraufhin verließ sie immer den Laden, das ärgerte ihn. Er grübelte stundenlang darüber nach warum sie nie etwas mitnahm, zuweilen schien es ihm, dass sie gar nicht wegen der Farben seinen Laden betrat.
Doch er hütete sich, sie darauf anzusprechen - zu groß war seine Sorge sie als Kundin zu verlieren.
Wenn er aufwachte, sah seine Welt freilich komplett anders aus: dann schlüpfte er jeden Morgen professionell in die Rolle, die ihm der Apparat zubilligte: als Spezialist hatte er Zugriff auf immense Daten und konnte so in die privatesten Geheimnisse Anderer mühelos eindringen. Die Forderungen an ihn waren eindeutig und unmissverständlich: hatte man es auf jemanden abgesehen, hatte er die Daten bereitzustellen, die zur Ergreifung führen. Dabei war jedes Mittel erlaubt. Umso mehr erstaunte es ihn immer wieder aufs Neue, warum noch niemand ihn, den Träumer, zur Zielperson gemacht hatte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum man noch nicht hinter seine Träume gekommen war. Das zeigte ihm die Grenzen des Systems auf, er konnte abwägen, dass es doch noch nicht in alle Bereiche vorgedrungen war. Er war sich sicher dass es so sein musste, sonst säße er selbst längst im Loch.
Kichernd saß er vor seinen Bildschirmen und triumphierte über diese reale Sicherheit.
Das er soff war kein Geheimnis: alle ringsum wussten es. Es war herzzerreißend mit anzusehen, wie sie sich um seine Sucht bemühten: Ratschläge und kleine Seitenhiebe waren an der Tagesordnung. Sie alle hatten jedoch in ihrer Unbeholfenheit nicht die geringste Ahnung von seinen Gedanken - von seiner Welt. In solchen Momenten hätte er am liebsten auf sie los geschrien, Alles auf einmal, aber er war immer ruhig und taff.
Selbst sein Chef wusste Bescheid, einmal musste er sogar mit ansehen, wie er schon früh morgens sturzbetrunken in der Straßenbahn hin flog. Als seine kleine Tasche auf den Boden aufschlug, rollten kleine leere Klopfer raus, alle waren betreten, er verließ die Bahn mitten auf der Strecke. Er genoss jedoch Narrenfreiheit, besaß er doch Fähigkeiten die kein Anderer hatte, er konnte sich raus nehmen was er wollte, die Hassliebe seines Chefs zu ihm trat jeden Tag aufs neue ans Licht wenn er ungestraft die Luft im Fahrstuhl mit Alkohol schwängerte.
Warum sind die Nächte eigentlich immer zu kurz und die Tage schier endlos -
mit diesen Gedanken im Kopf trat sie in aller Herrgottsfrühe in die Bahn. Zahlte ihr Ticket und verkroch sich ins Heck. Diese betretenen Gesichter, diese Gerüche -
all das war ihr zu wider. Sie holte aus ihrer Tasche ein völlig ramponiertes Buch, es schien hundertfach gelesen, doch sie versank darin als wäre es nagelneu.
Station für Station wechselten die Leute deren sie keinerlei Beachtung schenken wollte, bis ein lautes Klirren sie aus ihrer Geschichte und ihren Gedanken riss.
Verdutzt schaute sie in die Menge - kleine Flaschen rollten vor ihren Füßen hin und her im Takt der Bahn.
Ohne weiter nachzudenken beugt sie sich hinab, versucht ein Fläschchen nach den anderen zu erwischen und denkt sich nebenher »Warum hilft hier eigentlich keiner? « Die Bahn hält...
Mit einem kleinem Schubs hastet jemand an ihr vorbei - »So nun reicht es aber« denkt sie sich und möchte fast ein »Blödmann« von sich geben - doch schon geht die Fahrt weiter, und alles was sie noch entdecken kann ist ein davon eilender Mann und die leeren Flaschen in ihren Händen.
Ihre Augen gleiten über jegliche Sitzreihen, in der Hoffnung sie erkennt wer da so hastig verschwunden ist - vergeblich - sie hat nie wirklich in die Gesichter dieser Schichtbrote geblickt.
Immer tiefer in den Gedanken versunken, »Wer war dieser Mensch? « - kommt sie an, steigt aus und mit der Hoffnung ihn vielleicht morgen in der Bahn wieder zu finden verschwindet sie in ihren regen-grauen Tag.
»Ha!« Er stieg aus dem Fahrstuhl aus und grinste. Ihm passte die Vorstellung überall anzuecken. Irgendwann musste ihnen doch mal die Schnur reißen. Oder es gab einen Umstand, der ihn wichtiger machte als er war. Was es auch war, er kam nicht darauf, vielleicht existierte das alles hier ja gar nicht wirklich.
Vorhin in der Bahn gab es einen echten Lichtblick. Da hatte er, als er schön benebelt zu Boden ging, jemanden gestreift - dabei war es ihm als decke sich ihr frischer Geruch vollständig über ihn. Es war ein längst vergessener Duft, vergraben unter Erinnerungen tief im Nirgendwo. Beim Heraus torkeln begann das Grübeln - woher kannte er den Duft? Es nervte ihn ein wenig an, sonst machte er sich nichts daraus Dinge zu vergessen, aber das hier trat leuchtend aus dem Nebel hoch und musste herausgefunden werden. Verdammt, was war das? Er riss den Kopf herum, schaute dem Wagen hinterher, konnte aber nichts Deutliches erkennen - nur kam es ihm vor das in der Menge jemand aufgestanden war und das Gesicht an die Scheiben presste - suchte - aber gewiss war das nur Einbildung, »Ha! «, doch nicht wegen ihm!
Oben vor den Monitoren machte er kurzen Prozess. Im Nu hatte er die Kameras der Tram angezapft und suchte den leeren Fleck, auf dem er noch vor Minuten gesessen hatte. Die Gesichter ringsherum sagten ihm nichts; es war zum aus der Haut fahren. Er konnte sich auch nicht mehr an die Farben ihrer Kleidung erinnern, an ihre Haarfarbe - alles ging auch so verdammt schnell - verdammt und überhaupt saßen hier nur Männer: Sie war nicht zu sehen.
Der Regen tropft über ihre Nasenspitze - streichelt sie fast.
Vorüber an gefühlten Hundertschaften versucht sie ihren Weg zu halten - bloß schnell durchs Getümmel - gleich geschafft!
Es ist noch viel zu früh am Morgen um schlechte Laune zu haben - doch der Weg lässt Gedanken sprießen.
Sie versteift sich in der Überlegung, wie es dem Schatten aus der Bahn wohl eigentlich geht - weshalb so auf Verdrängen bedacht - was hat ihn dahin gebracht.
Kurz holt sie ihr eigenes Leben ein - zieht den Schlüssel aus ihrer Tasche und schließt das große, selbst im Regen sonnengelb erscheinende Tor vor sich auf.
72 Stufen - langsam geht sie Schritt für Schritt - in Gedanken versunken.
Sie lauscht - hofft - hält inne und atmet tief ein...
Er würde ganz professionell vorgehen: so wie jedes Mal, wenn er Einen aufspüren sollte. Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit bis er genau Bescheid wusste. Nur beschäftigten ihn zwei Dinge: erstens war das, was er tat, höchst illegal. »Ha! «, dachte er, da haben sie endlich mal einen richtigen Grund, ihm den Kopf abzureißen. Wenn das nichts ist.
Der zweite war ihm fremdartig, unvertraut, so gar nicht passend für sein Wesen: zum ersten Mal sah er ein Objekt seiner Begierde, nicht das der Anderen, die er nie sah, von denen er nur Anweisungen erhielt. Zum ersten Mal setze er seine Fähigkeiten für sich ein, ungeahnt der Folgen. Ein breites Lächeln umzog seine Lippen, er startete die Diagnosen, er scannte die Daten, er verglich die Spuren, er trieb seine Technik zum Wahnsinn, nur um schneller - geheimer - sozusagen privater - an sein Ziel zu kommen.
Nach einiger Zeit hatte er erste Ergebnisse vorliegen, konnte sie aber nicht deuten. Er wusste jedoch aus seiner Erfahrung, dass seine Systeme nicht lügen. Es ist nur die Interpretation, die die finalen Schlüsse ermöglicht. Hier ließ sich aber noch nichts sagen. Er hat plötzlich den verrückten Einfall, wahllos irgendeinen Typen aus seinem Team mit den Ergebnissen zu konfrontieren, in Erwartung irgendeines Winks mit dem Zaunpfahl. Aber das ging natürlich nicht, das hätte seine ganze Aktion verraten. Er muss schon selbst dahinter kommen. Er konnte nur noch nichts mit den Bildern anfangen: eine Frau, im Regen, gedankenversunken, wie als wenn sie auf Etwas wartet, vielleicht auf jemanden, ihre Umgebung belauschend.
Eines jedoch bohrte sich jetzt merklich durch seine Gedanken: Anziehung - gewaltige Anziehung.
Langsam tritt sie die letzten Stufen - öffnet die Wohnungstür und huscht fast lautlos in die Küche - still öffnet sie ihrem geliebten Kater eine Futtertüte - streichelt ihn sanft. Sein kleines kurzes Schnurren tut ihr so gut das ihr ein Lächeln über die Lippen springt.
Kurz unter eine heiße Dusche...
Pausenlos durch-streifende Gedanken abspülen - als wäre dies möglich - sie weiß es längst besser.
Es bohrt sich in ihren Kopf wie unendlich laute Musik, alles in Frage stellen zu müssen, so ruhe- und rastlos zu sein. Vorbei schleichend an endlos dunkel alten Möbeln - sie hasste jedes einzelne Stück - küsste sie den Mann den sie einst liebte - ging hinaus unter den Kastanienbaum der direkt vor dem Haus stand - und wusste was nun zu tun war...
Sie musste ihre Monatskarte reizen - so viele Bahnen fahren ja nicht durch eine Stadt - sie musste ihn finden - ihren »Blödmann«. War ja kurz vor regulärem Feierabend - bald - ach die Strecken nutzen schon - das Buch schlägt sich Seite um Seite... Nichts - aber auch kein Anschein von Wiedererkennung.
Verdammt.
Fast 19 Uhr - die Beine schlafen abwechselnd ein - »OK. « Auf morgen warten - sie steigt aus...
Wie eiskalter Wodka im Hals rieseln die Erinnerungen auf ihn ein:
blass zunächst, aber dann mit immer größer werdender Auflösung: vertraut wirkt ihr zärtliches Gesicht auf seinen Monitoren, alles an ihr hat er erkannt, fast kann er ihren Atem auf seiner Haut spüren. Auch erkennt er ihre Lieblingsfarben in ihrer Kleidung wieder, die Art wie sie sie trägt, die Art wie sie sie benutzt um zu verführen; er blickt ihr endlos in die Augen, aneinander geschweißt stehen sie umschlungen im seichten klaren warmen Wasser, die Wellen sind mit kleinen Blüten bedeckt - daher ihr Duft - der Sand auf ihrer Haut glänzt in der Abendsonne, ihre Lippen funkeln, das ist es was er vermisst hat; sie flüstert ihm liebe Dinge ins Ohr, tausendmal gehört doch immer wieder lieblich und wie neu, er hält ihre Erregung sanft an Seine, eins sein mit ihr, jetzt und hier, das ist das Begehren, sie weiß das er ihretwegen hier ist, sie vergessen die Welt um sich herum, es gibt überhaupt nur noch zwei Menschen, die Nacht zieht herauf mit ihrer ganzen Macht, doch das hält sie nicht ab aneinander zu hängen, längst vereint, ineinander, starr vor Erregung, die Zeigefinger gegenseitig auf den Lippen, um nicht zu zerstören - was sie erleben, kein Wort kann es beschreiben, das Licht zieht auf, sie - sie - alles vibriert um sie her...
Er - er erwacht, »Verdammt so spät schon, « fast Abend, er spürte jeden heißen Tropfen der Dusche intensiv auf seiner Haut, lange steht er so - erfrischt sich routiniert. Er trinkt rasch gewohnheitsgemäß einen doppelten extra heißen Espresso, er liebt es sich die Lippen dabei mit der Zunge zu berühren; die Hitze bringt sein Herz in Wallung. Er weiß, heute ist eine besondere Nacht!
Dann geht er durch eine kleine Tür hinein in sein Reich; er betrachtet die gläsernen Truhen, die Pracht, die Vielfalt - die Schönheit. Langsam dreht er sich um und blickt zur Ladentür, ein kleiner Schlüssel öffnet unhörbar das Schloss - und ihr Lächeln durchflutet ihn wie an jedem Tag.