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Der leuchtende Weihnachtsstern
Renate blickte traurig aus dem Fenster in den kalten, wolkenverhangenen Dezembermorgen hinaus. Ihre Stimmung und das Wetter schienen eine untrennbare Verbindung eingegangen zu sein. Normalerweise wäre es jetzt Zeit, den Weihnachtsbaum aufzustellen und zu schmücken. Aber was sollte eine alte Frau ganz allein mit einem Weihnachtsbaum? Das würde nur wieder schmerzhafte Erinnerungen an längst vergangene, glückliche Festtage wachrufen. ‚Das beste wird sein, ich tue so, als sei heute ein ganz normaler Tag. Und was ist schon gegen einen gründlichen Hausputz einzuwenden? Immerhin hält es mich beschäftigt und lenkt mich vielleicht ein wenig ab', dachte Renate. Sie zog verblichene Jeans und ein altes kariertes Hemd an und griff nach Besen und Schrubber.
Sie putzte gerade den Küchenboden, als es klingelte. ‚Das wird der Postbote sein. Vielleicht hat Martina mir ja eine Karte geschickt?’ Renate ließ den Aufnehmer ins Putzwasser fallen, wischte sich die nassen Hände an der Jeans ab und eilte zur Tür.
„Oh, Manfred, was für eine Überraschung.“
„Nun ja, ich wollte bestimmt nicht stören. Ich habe Plätzchen gebacken, eine alte Gewohnheit, weißt du? Und für mich alleine sind es einfach zu viele. Hier, ich wollte dir ein paar vorbeibringen und dir ein frohes Weihnachtsfest wünschen.“
„Danke, Manfred. Das ist lieb.“ Renates Blick wanderte von der gepflegten Erscheinung vor ihr verstohlen in Richtung Spiegel. Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Manfred schaute an ihr vorbei durch die offen stehende Wohnzimmertür. „Hast du dieses Jahr gar keinen Weihnachtsbaum? Kommt Martina denn nicht mit ihrem Mann her?“
„Nein. Sie ist hochschwanger. Das Kind soll im Januar zur Welt kommen. Und da sie schon eine Fehlgeburt hatte, will sie diesmal kein Risiko eingehen und sich die lange Fahrt nicht zumuten. Sie und Nils feiern dieses Jahr zu Hause in München.“
„Dein erstes Enkelkind! Na, da gratuliere ich herzlich. Aber du kannst doch nicht Weihnachten ganz alleine verbringen. Pass auf, ich besorge schnell noch einen Weihnachtsbaum und wir beide feiern gemeinsam. Na, was ist?“
„Ach, ich weiß nicht. Ich bin nun schon so lange allein, da macht es einem nichts mehr aus.“ Die Lüge glitt ihr fast mühelos über die Lippen. „Und ich bin keine gute Gesellschafterin mehr. Außerdem ist mir gar nicht nach Feiern zumute.“
„Renate, was ich jetzt sage, tut vielleicht weh, aber hör mir bitte trotzdem zu. Rainer ist nun schon seit fünf Jahren tot. Du hast dich in der ganzen Zeit hier eingeigelt, wolltest alle deine Freunde nicht mehr sehen. Aber jetzt muss es genug sein. Fang wieder an zu leben. Du kannst nicht ewig so weitermachen.“
Mit Tränen in den Augen sah sie Manfred an. Wieder krampfte sich ihr Herz zusammen, als sie daran dachte, wie sie von dem Flugzeugabsturz vor fünf Jahren erfahren hatte. Rainer hatte in der Maschine gesessen, die in der Luft explodiert und in den Atlantik gestürzt war. Keiner der Passagiere und Mannschaftsmitglieder hatte das Unglück überlebt. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Renate, die früher in zahlreichen Vereinen aktiv war und am liebsten das Haus voller Menschen hatte, zog sich von allem und jedem zurück. Sie konnte die Mitleidsbekundungen nicht aushalten. ‚Was wisst ihr schon von meinem Schmerz’, schrie alles in ihr, wenn ihre Freunde hilflos versuchten, ein wenig Trost zu spenden. ‚Rainer war meine Liebe, mein Leben!’ An ihrer unbändigen Verzweiflung hatte sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Und nun schneite auf einmal Manfred hier herein und sagte, dass sie wieder leben müsse. Leben, wo Rainer doch tot war!
„Okay, ich gehe jetzt den Weihnachtsbaum holen und du überlegst es dir, bis ich damit zurück bin, in Ordnung?“ Mit diesen Worten drehte sich Manfred um und ging die Stufen hinunter.
Renate fühlte sich ein wenig überrumpelt. Sie stand noch eine Weile verblüfft im Flur und dachte über Manfreds Worte nach. Immerhin war er jemand, der wusste, wovon er sprach. Auch er hatte einen geliebten Menschen verloren. Seine Frau Helga war vor drei Jahren an Brustkrebs gestorben. ‚Und wo war ich, als er eine Freundin brauchte?’, fragte sie sich. Ja, sie hatte einen kurzen Beileidsbesuch gemacht, sich aber so schnell es ging wieder verabschiedet, weil sie in ihrer eigenen Trauer nicht die rechten Worte zum Trost fand. Und sie hatte einen Kranz zur Beerdigung geschickt. Selbst daran teilzunehmen erschien ihr unmöglich. Es hätte sie zu sehr an die Beerdigung von Rainer erinnert. An eine Beerdingung ohne Leiche, denn die Opfer des Flugzeugunglücks wurden niemals gefunden. Wenn sie ehrlich war, war sie nach dem Tod von Helga eifersüchtig auf Manfred gewesen, der wusste, wo die sterblichen Überreste seiner Frau lagen und der einen Ort hatte, an dem er um sie trauern konnte. Sie selbst konnte Rainers Grabstein auf dem Friedhof nicht akzeptieren. Es schien alles so irreal zu sein. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Rainers Tod nie wirklich akzeptiert hatte. ‚Egal, wie wenig Lust am Feiern ich auch haben mag: Manfred hat all die Jahre immer wieder versucht, mich aus der Einsamkeit zu holen. Erst er und Helga gemeinsam, später er alleine. Ich bin es ihm schuldig, seine Bemühungen nicht ständig zurückzuweisen. Was wäre denn auch die Alternative zu einem gemeinsamen Weihnachtsfest? Ich würde doch nur alleine hier sitzen und über vergangene Zeiten trauern’, dachte sie. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, räumte das Putzzeug beiseite und ging unter die Dusche.
Der Abend neigte sich seinem Ende entgegen. Renate musste sich eingestehen, dass sie froh über Manfreds Gesellschaft war. Sie hatten erst gemeinsam den Weihnachtsbaum geschmückt und anschließend ein herrliches Fondue gemacht. Alle Zutaten hatte Manfred von zu Hause geholt und dabei auch noch an einen guten Wein gedacht. Während des Essens erzählte er von ihren gemeinsamen Freunden und Bekannten und wie es ihnen in der Zwischenzeit ergangen war. Renate konnte es kaum glauben, dass sich die Welt dort draußen weitergedreht hatte, während ihr nichts mehr lebenswert erschienen war. Sie sog die Geschichten in sich auf wie ein Verdurstender, dem ein Krug Wasser gereicht wird.
Jetzt standen sie gemeinsam auf der Terrasse und sahen wie kleine Kinder zum dunklen Himmel empor, aus dem nun kleine, weiße Schneeflocken auf sie herabrieselten. An einer Stelle brachen die Wolken am Himmel auseinander und ein heller Stern wurde sichtbar, der nur auf sie beide herabzuleuchten schien. Manfred griff nach Renates Hand und drückte sie sanft. Lächelnd sah sie zu ihm auf.