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Der Mann und das Mädchen

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06.05.2007
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Der Mann und das Mädchen

An einem strahlenden Dienstagvormittag passierte es, dass ein Mann, wie auch an jedem anderen Vormittag der Woche, vor einer dicklichen Verkäuferin mit pinkfarbener Schürze stand, und sich fragte, für wie viele Donuts sein Geld wohl noch reichen würde.
Als er sich schließlich für „zwei zum Mitnehmen“ entschied, huschte ein Lächeln über die roten Wangen der Frau, deren vom Frittierfett feuchte Hände in Sekundenschnelle ein Päckchen packten.
Und mit zufriedenem Gemüt ging der Mann zurück in sein Büro, zur Vormittagsschicht.

Zur selben Zeit saß ein kleines Mädchen von sieben Jahren ruhig und konzentriert im Klassenraum einer dreistöckigen Grundschule. Sie lernte heute das A. Das kam in vielen Wörtern vor, wie in Mama und Papa. Wenn die Schulglocke läutete, würde sie sich von ihren Freundinnen verabschieden und nach Hause gehen. Sie würde stolz davon erzählen, dass sie nicht nur, wie ihre Klassenkameraden, das große A schreiben konnte. Nein, schließlich hatte ihr großer Bruder schon längst das kleine A in ihre Hände gezaubert, die sich anfangs etwas dagegen gesträubt hatten.

Dieser Dienstagvormittag würde wohl einer der letzten Tage des Sommers sein. Und genau deshalb beschloss der Mann, heute eher Schluss zu machen. Seine Verlobte wäre ihm sicher dankbar, wenn es auch nur einen Nachmittag lang so schön wie in ihrem Urlaub sein würde. In Griechenland hatten sie die Sonne genossen, sie in sich aufgetankt, damit sie auch in schlimmen Zeiten für sie scheinen sollte.

Die Schulglocke läutete und alle Kinder rannten durch die Gänge und die Treppen herunter. Das Mädchen hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Stunde vergangen war.

Der Mann stieg in sein Cabrio, seine Gedanken hingen noch immer an dem Urlaub mit seiner Verlobten. Er war nicht einmal dazu gekommen, seine Donuts zu essen. Es wäre doch schade, wenn er sie in der Sonne auf dem Beifahrersitz vertrocknen lassen würde?
Sein Wagen setzte sich in Bewegung, fuhr vorbei an hohen Bürogebäuden, und jedes von ihnen erinnerte den Mann daran, dass er einer der wenigen war, der sich heute nicht mehr hinter den Computer klemmen würde.

Das kleine Mädchen hatte Hunger. Erwartungsvoll dachte sie an die Makkaroni, die ihre Mutter heute kochen würde. Gut also, dass der Weg nach Hause nicht lang war.
Auf ihrem Weg an der Straße entlang sah sie auf der gegenüberliegenden Seite andere Kinder in ihrem Alter mit zwei Bällen spielen. Sie lachten und plapperten alle durcheinander, wie es das Mädchen manchmal selbst mit ihren Mitschülern auf dem Schulhof tat. Ihre Augen wurden jedes Mal aufs Neue größer, wenn ein Junge aus der Zweiten den Ball, egal aus welcher Entfernung er geworfen wurde, mühelos auffangen konnte.
Der Junge, der dort auf der gegenüberliegenden Straßenseite mitspielte, schien nicht so gut fangen zu können.

Die Sonne brach sich in den Scheiben des Cabrios, als der Mann es durch ein ihm unbekanntes Gebiet lenkte. Eigentlich nahm er immer den anderen Weg, an der Geschäftsstraße vorbei, doch heute war ein anderer Tag. Ein besonderer.
Der Mann hatte sich überlegt, seine Verlobte in der gemeinsamen Wohnung mit ihren Urlaubsfotos zu überraschen. Gestern hatte er sie aus dem Fotogeschäft geholt, war aber noch nicht einmal dazu gekommen, sie selbst anzusehen. Er sah neben sich Kinder aus einer Schule laufen, als er überlegte, wo er die Fotos hingelegt hatte.
Mit einer Hand am Steuer öffnete er das Handschuhfach. Keine Fotos.
Er klappte den Beifahrersitz herunter, um hinten nachzusehen.
Sein Herz klopfte schneller, als er begriff, dass er sie wohl im Büro hatte liegen lassen. Er schalt sich für seine Dummheit – und schaute noch ein letztes Mal in die Fächer neben seinem Sitz, als ein Kind aufschrie.

Das Mädchen hatte das Cabrio nicht kommen sehen, als sie auf die Straße gelaufen war, um den bunt gestreiften Ball zu holen. Der Junge auf der gegenüberliegenden Seite war wahrlich kein guter Fänger gewesen. Sie hatte ihm den Ball zurückwerfen wollen, doch da zog sich ein Schmerz durch ihren ganzen Körper, ihre Rippen pressten ihr kleines Herz zusammen, sodass es ihr schwer fiel, zu atmen.

Durch die Windschutzscheibe sah der Fahrer das Gesicht eines kleinen Mädchens, blutüberströmt und ohne Lebenszeichen.
Was hatte er getan? Es kam ihm alles so unwirklich vor, die anderen Gesichter, die sich jetzt in sein Blickfeld drängten, ihre vor Erschrockenheit geöffneten Münder. Mehr noch als das fürchtete sich der Mann vor sich selbst. Er war nicht er. Er fuhr kein Mädchen um und –
Er war wirklich nicht mehr er selbst. Es war nicht derselbe Mann, der vorhin noch unbeschwert seine Donuts gekauft hatte und der jetzt wieder aufs Gaspedal drückte. Tränen liefen über sein angstweißes Gesicht, als die Reifen seines Cabrios quietschten und wieder losfuhren.
Er hörte die Menschen um sich herum rufen, einer von ihnen wollte ihm kurzzeitig den Weg abschneiden, doch der Mann, der jetzt im Auto saß, war nur darauf bedacht, von diesem Ort zu verschwinden. Von diesem verfluchten Ort, den er heute zum ersten Mal auf seinem Nachhauseweg passiert hatte.
Je nervöser er wurde, desto schneller raste er durch die Landschaft, bis sein Wagen irgendwo auf einer Landstraße vom Weg abbog und in ein Sonnenblumenfeld holperte.
Als er anhielt, war nur das Summen von Insekten um ihn herum. Der Mann brach über seinem Lenkrad zusammen, schreckliche Bilder im Kopf, die mit jedem seiner Herzschläge deutlicher wurden.


„Was ist mit ihr?“, fragte eine Frau beinah hysterisch den Mann im weißen Kittel vor ihr.
Jemand legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter, es war ihr zwölfjähriger Sohn.
„Ihre Tochter liegt auf der Intensivstation. Sie ist noch nicht über dem Berg.“
Jetzt legte auch der Arzt der Frau seine Hand auf die Schulter. Dann machte er sich auf den Weg zu anderen Patienten, die seine Hilfe brauchten.
Der Zwölfjährige schien viel tapferer als seine Mutter. Er tat einen ersten Schritt in das abgedunkelte Zimmer seiner kleinen Schwester, die einen großen Verband um ihren Kopf trug. Sie schien zu schlafen. Nur das Rauschen der Maschine neben ihr, die für sie atmete, bis sie es hoffentlich wieder selbst könnte, drang an die Ohren ihres Bruders.
Er setzte sich auf einen Hocker neben dem Bett, nahm ihre trockene Hand und sagte: „Du musst jetzt ganz stark sein, hörst du? In stark steckt nämlich auch das kleine A. Ich habe es doch in deine Hand gezaubert, weißt du nicht mehr?“


Das Cabrio fuhr eine ganze Weile ohne zu bremsen über die Fahrbahn, bis dem Fahrer klar wurde, dass er sich umbringen wollte. Ohne etwas dagegen tun zu können, ergab sich der Mann dem neuen, verzweifelten Mann, der sein Leben wegwerfen wollte. Mit der höchsten Geschwindigkeit, die sein Auto hergab, rammte er gegen die Leitplanke.

Nach einigen Wochen ging es dem Mädchen wieder so gut, dass man es auf die normale Station verlegte. Sie wusste, dass dies der Verdienst ihres Bruders war. Er hatte ihr klar gemacht, dass sie noch nicht aufgeben sollte. Sie war stark.
Stärker wohl als der Mann, den sie schon seit einigen Tagen durch eine grün getönte Scheibe der Intensivstation beobachtete. Tag für Tag versuchten die Ärzte, sein Überlebenswillen stärker zu machen. Ein Pfleger hatte dem Mädchen erklärt, der Mann zeige kein Anzeichen davon, dass er leben wollte.

Als das Mädchen entlassen wurde, es war ein Dienstagvormittag, ging es in das Zimmer des Mannes und tat dasselbe, was ihr Bruder vor Wochen mit ihr getan hatte.
Sie ließ sich auf einem Hocker nieder, nahm die ausgetrocknete Hand des Mannes in die ihre, und sagte: „Du musst jetzt ganz stark sein. In stark steckt nämlich das kleine A. Das müsstest du doch noch viel besser schreiben können als ich.“

So geschah es, dass die Verlobte zu dem Mann kam, der lieber tot sein wollte. Sie wollte ihm ihre Urlaubsfotos zeigen, um ihn wieder aufzumuntern. Die hatten in ihrer Wohnung auf der Kommode gelegen.
Der Mann brach in Tränen aus, die, eine nach der anderen, auf die Fotos tropften.

 

Hallo Segelengel,

und herzlich willkommen hier.
Ein bisschen trieft deine im Grunde schöne Geschichte ja vor Durchhaltemoral, oder?
Das arme kleine Mädchen, dem der Bruder Stärke ins Koma flüstert hilft gerade jenem Mann, der sich selbst kennenlernt, als er dieses Madchen überfährt und flieht, und der fortan mit sich nicht mehr leben kann.
Das ist natürlich ein Stoff, wie ihn die Bosse der Fernsehsender lieben, Zufallsbemüht, rührselig, und für viele ganz sicherlich zum Heulen schön.
Und da Geschichten ja nun mal für Leser gemacht sind und nicht für böse intellektuelle Kritiker ist daran auch nichts auszusetzen. Für meinen Geschmack kannst du ja nichts. Der empfindet das beschriebene Leid eher als Transporteur für eine im Grunde heile Welt, die doch sofort eintreten würde, wenn wir nur alle genug Liebe und Stärke in uns trügen.
Aber wie gesagt, das ist mein Geschmack.

Nicht nur um meinne Geschmack geht es bei der Unlogik im ersten Absatz: Ein Mann geht am Vormittag zur Nachmittagsschicht ins Büro?
Ebenfalls nicht nur um Geschmack geht es bei der unstimmigen Zeitsynchronität.

Sie lernte heute das A
in der zweiten Klasse der Grundschule? Oder ist die Siebenjährige mit einem Jahr Verspätung eingeschult worden?
Die meisten Kinder lernen das A heute schon im Kindergarten oder aus der Sesamstraße, mit vier oder fünf.
Geschmacksache ist natürlich wieder die Durchschaubarkeit der zweigleisigen Erzählstruktur.
Das Mädchen hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Stunde vergangen war.

Der Mann stieg in sein Cabrio

Wetten, der Mann überfährt das Mädchen?

Dagegen geht es bei den grammatischen Bezügen wieder nicht um Geschmack:

Sein Wagen setzte sich in Bewegung, fuhr vorbei an hohen Bürogebäuden, und jedes von ihnen erinnerte ihn daran, dass er einer der wenigen war, der sich heute nicht mehr hinter den Computer klemmen würde.
Hat sich der Wagen jemals hinter einen Computer geklemmt?
Du meintest den Mann, dein Satz drückt aber etwas anderes aus.

Lieben Gruß, sim

 

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