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Der mysteriöse Apfel
Der Zeiger rutscht auf sechs Uhr zu. Ich habe noch gute zehn Minuten um meinen Hausarrest zu verhindern. Mit Mamas warnenden Stimme im Kopf nehme ich eine Abkürzung und biege in einen Waldweg, der nur wenige Meter entfernt, hinter dem Haus meines besten Kumpels Kevin liegt.
Befreit von doofen Ampeln und stinkenden Abgasen genieße ich den frischen Waldgeruch.
Nur noch ein Kilometer! Um ordentlich Schwung zu holen, lehne ich meinen Oberkörper Richtung Lenkrad. Der Gedanke an die zwei bevorstehenden Ferienwochen ist ein super Ansporn. Auf einer Wiese, am Ende des Waldweges, bemerke ich einen wuchtigen dunklen Baum, der einen überdimensionalen Schatten auf die Erde wirft. Komischerweise ist er mir noch nie aufgefallen.
Neugierig, wie er wohl vom Nahen ausschaut, steige ich ab und laufe auf ihn zu. Mein Bike lehne ich vorsichtig an den alten porösen Zaun, der den finsteren Baum umgrenzt, dessen Holz gehörig von Parasiten durchbohrt ist. Seltsam schillerndes Gras schmiegt sich an den schrumpeligen Stamm. Sein Umfang ist so monströs, dass ich mich mal zwölf nehmen müsste, um ihn zu umarmen. Die üppige Krone, bestück mit prächtigen, dunkelroten Äpfeln, deren Anblick ein lautes Knurren in meinem Bauch verursacht, lässt keinen Funken Licht hindurch. Mit einem Schwung klettere ich über den klapperigen Holzzaun. Das saftige Gras quietscht unter meinen Sportschuhen. Für einen kurzen Moment lehne ich mich an den Stamm, um die Kühle des Schattens zu genießen. Mein Cappydach schiebe ich zur Nase hin und schließe meine Augen. Plötzlich ein dumpfer Klatsch! Erschrocken blicke ich in alle Richtungen. Es ist niemand zu sehen. Ich gehe einen Schritt vor und spüre wie etwas vor mir wegrollt. So langsam wird mir dieser Ort ziemlich unheimlich. Meine Neugier zwingt mich aber das Gras vorsichtig, mit beiden Händen zur Seite zu schieben. Der Bär in meinem Bauch brüllt wieder laut auf! Ein großer saftiger Apfel liegt direkt vor meinen Füßen. Ohne nachzudenken hebe ich ihn auf, drehe mein Cappy wieder zur Seite und beiße ein großes Stück ab. Köstlich! Mein Magen veranstaltet freudige Saltos doch die Angst vor dem Hausarrest versaut mir den Appetit. Der Uhrzeiger bewegt sich mittlerweile auf viertel nach sechs zu. Ich muss mich beeilen! Um den Zaun wieder zu überklettern, lasse ich den Apfel im Mund stecken. Ein gewaltiges Gewackel bricht los. Mit einem Satz liege ich mit meinem Bike auf dem staubigen Boden.
Klasse! Jetzt hab' ich mir auch noch meine Hose am Knie aufgerissen. Mama wird vor Freude platzen! Mühsam rappele ich mich wieder auf, die Schramme brennt gewaltig! Ich greife nach dem Apfel der beim Sturz aus meinem Mund gefallen ist. Auf einmal spüre ich, wie etwas Holziges anfängt sich wie eine Schlange um meinen rechten Arm zu wickeln. Krampfartig versuche ich wegzurennen, doch ich habe keine Chance. Mein Herz rast, verängstigt drehe ich mich langsam um und traue meinen Augen nicht! Die schrumpelige Rinde des Baumes zieht sich zu einem düsteren Gesicht zusammen, seine Äste biegen sich zappelnd in meine Richtung und eines davon umschlingt meinen Oberarm.
"Was fällt dir eigentlich ein, eines meiner kostbaren Äpfel zu klauen!?" Seine schaurige Stimme, die noch angsteinflößender ist als Mamas, lässt meine Augen fast herausquillen. Wie festgefroren bleibt mein Mund offen stehen, als würde er den Apfel noch umschließen. Dieser Baum spricht mit mir!
Die Wucht des Aufpralls scheint heftiger gewesen zu sein, als ich dachte. Ich schüttel meinen Kopf und reibe mir mehrmals fest die Augen. "Sei nicht dumm, kleiner Junge! Gib mir sofort meinen Apfel zurück, sonst wird es dein letzter Tag in Freiheit sein!". Kevin wird tot umfallen, wenn ich ihm das hier erzähle! Das ist tausend Mal gruseliger als jedes Fantasy-Game, das wir je gezockt haben! Reiß dich zusammen Lukas! Du bist keine Memme! "Der Apfel lag im Gras vor meinen Füßen. Ich habe ihn dir nicht geklaut. Wo willst du mich denn einsperren? Ich sehe nichts, wovor ich Angst haben müsste, außer deinem widerlichen Gesicht!" Mit zittrigen Knien versuche ich cool zu bleiben. Auf einmal schlagen seine blättrigen Arme wildkreischend hin und her. Ich glaub' es war keine gute Idee, das mit seinem Gesicht zu sagen. Eines der Äste taucht plötzlich in einen Spalt in der Mitte der Krone hinein und zieht ein kleines Mädchen aus dem Inneren des Stammes heraus. Mit stinkendem Moos befleckt hängt sie hilfeschreiend in der Luft. Die verkrusteten Augen des Baumes werden bedrohlich schmal. "Das passiert auch mit dir, wenn du mir den Apfel nicht hergibst!" Hunderte verängstigter Kinderstimmen strömen aus dem Stamminneren. Blitzschnell steckt sein Arm das wimmelnde Mädchen in den Spalt zurück. Ich ersticke fast vor Angst an dem dicken Kloß in meinem Hals. Mein einziger Gedanke ist die Flucht! Mit dem Apfel in der Hand stürme ich über den wackeligen Zaun und bleibe diesmal mit meinem Schuh zwischen zwei Balken hängen. Peng! Da liege ich wieder. Mein Kopf ist leer. Den pochenden Schmerz meines Knies spüre ich kaum noch. Alles ist still.
Etwas kitzelt an meiner Wange. Dieser verdammte Baum soll mich endlich in Ruhe lassen! Ich reibe an meinem Gesicht, glitschiges Zeug klebt an meinen Fingern. Angewidert drehe ich mich langsam um. Im gleichen Moment starre ich in zwei große, braune Augen. Benny, unser Nachbarshund, schleckt schwanzwedelnd mein Gesicht ab. Ich blicke zum Bike, neben ihm liegt der mysteriöse Apfel. Ist das alles gerade wirklich passiert? Benommen schnappe ich den Apfel und werfe ihn mit einer hastigen Bewegung vor den finsteren Baumstamm. Plötzlich rennt Benny kläffend los, als wüsste er, was mich zu Hause erwartet. Es ist schon fast sieben, eine Stunde zu spät die für eine Woche Hausarrest Grund genug ist. Nichts wie hinterher! Ich atme tief durch, springe auf mein Fahrrad und gebe Gas.
Zum letzten Mal drehe ich mich um. Im gleichen Moment verliere ich die Kontrolle über das Lenkrad und knalle mal wieder auf den harten Boden. Durch die aufgewirbelte Staubwolke versuche ich Benny zu erkennen, vergebens. Ich bin allein. Ich blicke zum Wald, ein leises Echo schreiender Kinder fliegt mit dem Wind an mir vorbei.