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Der Neffe des Präsidenten

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19.02.2014
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Der Neffe des Präsidenten

Was für eine Woche – dreimal Kino, drei Eimer Popcorn, dazu je ein Liter eiskaltes Pepsi. Die schnellen Bilder sind an ihm vorübergezogen, ohne sich richtig einzuprägen. Aufgewühlt hat ihn das Drumherum. Er war es nicht gewohnt, mit hundert Fremden vor einer flimmernden Leinwand zu sitzen. Und doch war es nichts im Vergleich zum Spiel gegen Plaza: Das Stadion galt unter seinesgleichen als uneinnehmbare Festung, und plötzlich hockt er wichtig in der großen Loge, direkt über dem Trainerbereich. Leider haben sie in der Nachspielzeit ein Tor kassiert, aber Carlos meinte, es sei kein schlechtes Spiel gewesen, und als Trost hat er ihm ja auch noch das Trikot von Silva besorgt. Vor der Kabine hat der Junge die verschwitzte Hand des Mittelstürmers geschüttelt, und beim Abschied hat Silva ihm schnell mit einem Filzstift die Innenseite des Unterarms signiert. Ob er sich an ihn erinnern würde? Wahrscheinlich nicht. Die Begegnung hat höchstens dreißig Sekunden gedauert.
Draußen fliegt die nächtliche Stadt vorüber. Er weiß nicht, wohin sie fahren, Baumgerippe voller Plastikfetzen gibt es hier überall, aber im fahlen Licht der Leuchtröhren wirken sie besonders jämmerlich. Es ist das erste Mal, dass er in einer Stretchlimousine sitzt, vielleicht deswegen. Vor einer Ampel sieht er, wie Ratten sich an einer umgekippten Mülltonne zu schaffen machen. Wenn die Heilige Jungfrau ihm jetzt angeboten hätte, eine dieser Ratten zu sein – hätte er Ja gesagt? Er blickt hinunter zu den neuen Nikes. Auch die trägt er seit exakt sieben Tagen, genau wie die Halskette mit der Nummer Sieben, die er sich im Fanshop ausgesucht hat. Das ist er Silva irgendwie schuldig gewesen. Bei gutem Licht kann man noch einen Schatten des Autogramms erkennen, aber die Frau, die sich um seine Suite kümmert, besteht jeden Abend darauf, dass er sich unter die Dusche stellt. Er weiß nicht, wie sie heißt. Er hat sie gefragt, aber sie hat den Blick gesenkt und gemeint, das spiele keine Rolle. Carlos hingegen hat ihm jeden Wunsch von den Augen abgelesen, da gab es nichts zu meckern. Zum ersten Mal hat er drei Tage hintereinander Dulce de leche gegessen, seine Lieblingsspeise. Am vierten Tag hat er verdutzt festgestellt, dass er die senfgelbe Masse nicht mehr hinunterbringt. „Was jetzt?“, hat er Carlos gefragt. Er war es nicht gewohnt, dass sich alles um ihn dreht.
Sie halten vor einer Fassade aus Glas und weißen Kacheln, die im Scheinwerferlicht hell aufstrahlt. Dieser Stadtteil ist ihm völlig unbekannt; der Mann, der ihm den Wagenschlag aufhält, ist allerdings derselbe, der ihn ihm Gefängnis angesprochen hat. Er begrüßt ihn mit einer angedeuteten Verbeugung und drückt ihm die Hand, fest und lang wie einem Erwachsenen. Der will nicht, dass man Angst vor ihm hat, denkt der Junge. Damals hat er ein gestreiftes Polohemd getragen, erst später, als er ihm die Blutprobe abnahm, hat er sich den weißen Kittel übergeworfen.
Er führt ihn durch ein Spalier grüner Bäumchen, deren Kronen so rund sind wie Fußbälle.
„Wie war deine Woche?“
„Keiner hat mir gesagt, dass die Zeit so schnell vergeht, wenn man reich ist“, sagt der Junge wie zu seiner Entschuldigung.
„Das freut mich“, sagt der Mann.
Sie stehen nun in der Empfangshalle, und eine Frau reicht ihm wieder einen dieser Kittel.
„Silva hat mir sein Trikot geschenkt.“
„Schätze, du hast in einer Woche mehr erlebt, als andere in einem ganzen Leben.“
„Es war meine beste Woche“, bestätigt der Junge, denn er will nicht undankbar erscheinen. Auch wenn der letzte Tag alles ruiniert hat. Den ganzen Vormittag ist er mit Carlos durch die Stadt gefahren. Immer wieder sind sie mit achtzig Sachen über die breite Magistrale gebrettert, die das Zentrum von den westlichen Vororten abtrennt, als könnte man die Angst auf diese Art abschütteln. Auf die Frage, worauf er heute Lust habe, hat er mit den Schultern gezuckt. „Was ist hinter dieser Mauer?“, hat er irgendwann dann doch gefragt, als sie an einer endlosen Fläche übersprayter Wahlplakate vorbeirollten. Es war ihm eigentlich egal, er wollte bloß das Schweigen unterbrechen. „Der Zoo“, hat Carlos geantwortet, ohne die Augen von der Straße zu wenden. „Hast du Lust auf Elefanten?“ Der Junge wollte etwas sagen, aber es gelang ihm nicht, eine Antwort zu formulieren. Sie hielten dann vor einem Fastfoodlokal, wo er leider nichts hinunterbrachte. Dabei hätte er gern mit einer guten Erinnerung abgeschlossen.
„Der Präsident hat persönlich angeordnet, dass du einen Fahrer und die Suite im Esplendor bekommst“, reißt der Arzt ihn aus seinen Gedanken. „Er meinte: ,Lasst den Jungen eine gute Zeit haben!‘“
„Er hat von mir gesprochen?“
„,Lasst Diego diese Woche in vollen Zügen genießen!‘ Das waren seine Worte.“
Sie sind vor einem Glaswürfel zu stehen gekommen, wo der Arzt ein Telefonat entgegennimmt. Eine Schwester, so blond wie ein Engel, bringt den Jungen in der Zwischenzeit zur Garderobe und bittet ihn, seine Sachen auszuziehen. Als er nackt vor ihr steht, streift sie ihm ein hellgrünes Hemd über. Hinter ihr wartet eine fahrbare Liege. Beim Hinausrollen sieht er aus den Augenwinkeln, wie eine andere Schwester seine Nikes in eine blaue Tonne wirft.
Er liegt nun in einem hell ausgeleuchteten Raum mit niedriger Decke. Drei Leute beugen sich über ihn. Auch der Arzt trägt einen Mundschutz vor dem Gesicht, doch der Junge erkennt die Stimme. „Du schaffst das“, beruhigt sie ihn.
„Ich habe keine Angst“, sagt der Junge.
„Ich weiß“, sagt der Arzt und streicht ihm mit einem feuchten Tuch über die Armbeuge. Die Nadel dringt in seine Vene, ohne dass er etwas spürt.
„Blöd, dass wir am Sonntag verloren haben.“
Der Arzt schüttelt lächelnd den Kopf.
„Sie interessieren sich wohl nicht für Fußball?“
„In deinem Alter war ich oft im Stadion“, sagt der Arzt. „Damals haben sie normalerweise noch die Meisterschaft gewonnen.“
„Heuer wohl nicht. Aber ich hätte zu gern einen Sieg gesehen“, sagt der Junge und dreht den Kopf zur Seite – die Blondine schiebt ein Wägelchen herein, auf dem Metallsachen klirren.
„Hätte, hätte!“, sagt der Arzt. „Denk jetzt nicht daran, was du nicht erlebt hast. Denk an die schönen Dinge. An letzte Woche.“
Der Junge schließt die Augen. Er versucht sich zu konzentrieren.
„Ganz ruhig ausatmen“, flüstert die Stimme der Schwester. Ihre Hand streicht über sein Haar, während der Arzt den Monitor einschaltet. Er versucht zu atmen, doch seine Zunge ist so trocken, dass sie am Gaumen festklebt. Er hat den ganzen Tag nichts getrunken.
„Einen Moment.“
„Was ist denn jetzt noch?“
Ich habe Durst.“
„Das geht nicht“, sagt der Arzt. „Du könntest dich während der Narkose übergeben. Das kann ich nicht verantworten.“
„Warten Sie! Nur eine Minute. Ich weiß nicht … die Woche ist so schnell vergangen.“
„Wir haben doch alles besprochen, Diego. Und du hast mir dein Ehrenwort gegeben“, erinnert ihn der Arzt. „Es wäre ziemlich unsportlich, wenn du uns jetzt einen Rückzieher machst. Auch der Präsident hat sein Wort gehalten – oder nicht?“
„Ich hätte mir noch den Elefanten anschauen sollen. Ist er wirklich so groß?“
„Wir hätten dich auch so aufschneiden können. Vergiss das nicht.“
Der Junge beißt die Zähne zusammen und denkt an einen Schluck Pepsi.
„So ist gut", sagte die Blondine.
"Braver Junge", sagte der Arzt. "Glaub mir, deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen.“
Er nickt, und die Schwester tupft ihm ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, für die er sich schämt. Die Erwachsenen wechseln ein paar Wörter, die er nicht versteht. Er denkt an seine Mutter und weiß, dass er bereit ist. Doch dann räuspert er sich, er will noch etwas loswerden. Ein neuer Gedanke ist aufgetaucht, ganz ohne sein Zutun.
„Ist er … ist er hier?“
„Der kleine Fabrizio? Ja, er liegt im vorderen OP-Saal.“
„Und er weiß Bescheid?“
Der Arzt überlegt eine Weile, dann schüttelt er den Kopf.
„Wissen Sie … ich glaube, ich hätte ihn gern kennengelernt.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagt der Arzt und bedeutet dem Anästhesisten mit einem kurzen Nicken, den Hahn zu öffnen. „Aber wir wollen es ihm nicht noch schwerer machen, oder? Er hat eine anstrengende Operation vor sich.“
Eine klare Flüssigkeit tropft in den hellblauen Trichter und von dort weiter in einen dünnen Schlauch, der unter einem Pflaster in der Ellbogenbeuge verschwindet. Der Junge hat seine Hände in das Leintuch gekrallt, doch nun geben die Finger nach. Er fühlt sich schläfrig und erschöpft. Wie merkwürdig, der Durst ist verschwunden.
„Und das ist das Ende?“, murmelt er und reißt die Augen noch einmal auf.
„Nein“, flüstert der Arzt. „Es ist nicht das Ende.“ Deine Nieren werden weiterleben, will er hinzufügen, aber der Junge hat die Lider bereits heruntergeklappt.

 
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Hallo baronsamedi,

du bist länger als ich im Forum, aber bisher bist du mir noch nicht aufgefallen, da hat du wohl eine längere Pause eingeschaltet. Ich freue mich, dich kennenzulernen.

Nun zum Text.

Wie kommt ein kleiner, armer Bub in eine Stretchlimusine? Da stellen sich bei mir gleich die Haare auf. Gänsehaut! Dazu noch ein südamerikanisches Land, Brasilien oder Argentinien, jedenfalls eine wichtige Fußballnation, eine, in der man Buben ganz bestimmt mit Fußball ködern kann, wahrscheinlich mehr, als mit Kino, Popcorn und Pepsi.


Ich stelle mir vor, das Kind wurde aus den Favellas entführt, vielleicht ein Straßenkind, dessen Mutter gar nicht weiß, wo sich ihr Sohn herumtreibt. Und so ist er eine Beute für Organhandel. Hier ist der besonders perfide, organisiert von höchsten politischen Kreisen, denn es ist ja der Neffe des Präsidenten, der eine Niere braucht oder wohl eher beide.

Etwas schwer fällt es mir zu verstehen, dass das Kind so gar kein Misstrauen zeigt. Es muss da irgendwo eine Vertrauensperson gegeben haben, die es geschafft hat, diese OP als ungefährlich darzustellen. Der Spender Diego weiß ja um den Empfänger Fabrizio, er hätte ihn gerne kennengelernt.

"Deine Mutter wäre auf dich stolz gewesen."

Er denkt an seine Mutter und weiß, dass er bereit ist.

Hat er sich für die Familie geopfert, für Mutter und/oder Geschwister?

Ich fürchte, das ist eine reale Geschichte aus dem realen Leben, gut erzählt mit einem Spannungsbogen, der bis zum Schluss hält.

Eine kleine Anmerkung noch zu den Dialogen.

"Sie interessiert (en) sich wohl nicht für Fußball?"

"Heuer wohl nicht, aber ich hätte zu gern einen Sieg gesehen"

"Ich hätte mir noch den Elefanten anschauen sollen ..."

Hier kommt es mir so vor, als ob er doch nicht ein ganz kleiner Junge, sondern eher ein Halbwüchsiger, der einen Deal eingegangen ist.

Sehr gerne gelesen.

freundliche Grüße
wieselmaus

 
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Hi Meryem, Wieselmaus, Ewunia!

Danke fürs Lesen und für die Rückmeldungen. Ich gehe vor allem auf Meryems Post ein, das heißt aber nicht, dass ich mich über die beiden anderen nicht auch sehr gefreut habe. Es tat gut, euch zu lesen, und es freut mich, dass es wem gefallen hat, und es kann sein, dass ich sonst gar keine Lust gehabt hätte, zu reagieren.

Meryem, vielleicht findest du in deiner Bibliothek irgendwo einen alten Kurzgeschichtenband von Hemingway. Zum Beispiel Schnee auf dem Kilimandscharo. Es ist fast egal, welche Geschichte du heraussuchst, fast nirgends werden Protagonistengefühle bei ihm sehr stark ausgestellt. Sehr oft sind es Figuren, die ihre Gefühle „im Griff“ haben wollen, und oft bewegen sie sich auch im Einklang mit einem entsprechenden Vorkriegs-Männerbild. Man kann aber schlecht behaupten, dass Hemingway Figuren keine Gefühle im Leser auslösen. Aber was macht Hemingway so unvergleichlich? Ich glaube, indem er die Gefühle weglässt zwingt er uns, diesen Part selbst zu übernehmen (Ewunia deutet das in ihrem Beitrag an), also die Leerstellen beim Lesen selbst zu besetzen.
Gut, man kann jetzt sagen, Hemingway kann das, du aber nicht Baronsamedi! Dann würde ich aber gerne wissen, wieso es bei mir nicht funktioniert. Was er anders macht. Denn offenbar kann er emotional erzählen, ohne dass er Emotionen groß benennt oder zeigt. So was wäre für mich ein nützlicherer Hinweis als der Tipp, einfach meinen Erzählstil zu ändern.

Ich bin ein Stilpluralist und frage mich immer, mit welchem Sound ich den besten Effekt erzielen kann. Und hier habe ich instinktiv die Schublade gezogen, die bei mir der Einfachheit halber Hemingways Namen trägt. Ich dachte mir, dieser Stil passt zum südamerikanischen Machismo dieses nicht genannten Landes, mit den mutmaßlich knallharten Lebensbedingungen der Favellas im Hintergrund, über die ich natürlich einen Dreck weiß; zu diesem Lebensumfeld, nehme ich allerdings an, gehört auch eine Kultur des permanenten Abwertens von Gefühlen, und das ist für mich das verbindende Glied zum Welt- und Männerbild Hemingways. Eine Kultur der Härte und vielleicht auch der Abstumpfung, die bei Kindern natürlich noch nicht ganz abgeschlossen ist, die aber schon in sehr jungen Jahren beginnen muss. Du kannst es nicht wissen, Meryem, aber Diego war vorher ja nicht in der Montessorischule, wo man sofort Reiki bekommt, wenn es am Schulwandertag regnet.

Soviel für heute. Und danke noch mal an alle!

baronsamedi

 

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