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Der nicht!
Der nicht!
Die Jungs stehen in kurzen Hosen am Straßenrand, lässig gelehnt an ihre Räder. Zimtkaugummis machen die Runde. Was tun mit dem Nachmittag? Man spielt eine Weile im Staub mit den Autos, fährt Kreise und produziert Unfälle.
Doch nach ein paar Minuten unterbricht Kai das Treiben der anderen, die noch auf den Knien hocken. Das ist langweilig! Lasst uns was anderes machen. Sie ziehen weiter durch die Hitze, vorbei an Gärten, einem Tennisplatz, in einen Wald. Die Häuser der Stadt sieht man vor hier aus nicht mehr. Sven hat Böller dabei, die ganzen Hosentaschen sind damit vollgestopft. Die ersten fliegen im hohen Bogen zwischen die Bäume. Die Explosionen hallen wunderbar durch das Waldstück und sie lachen über jeden einzelnen Knall. Ihre Hände riechen nach Schwarzpulver, als die letzte Packung aufgebraucht ist.
Also zurück zur Straße. An der Kreuzung beim Kiosk steht der dicke Steffen und schleckt an einem Wassereis. Der steht auch in der Schule immer alleine in der Ecke. Steffen kommt angeschlurft, in langer Hose, sein neues Fahrrad neben sich. Der Metallic-Lack funkelt in der grellen Sonne. Darf ich mitspielen? Er blickt mit großen Augen erwartungsvoll in die Runde. Was für Kuhaugen der hat, denkt Kai. Du spinnst wohl, lacht er dann und macht dann ein ernstes Gesicht, während er sich zu den anderen dreht. Der nicht! Dann überlegt er aber. Steffens Eltern haben in der Stadt ein Geschäft, da gibt es Süßigkeiten und Spielsachen. Aber Kai möchte eigentlich nicht mit Steffen spielen. Den anderen wäre es egal. Heiko sagt: Wieso nicht? Kai stellt sich dicht vor Steffen. Na gut, von mir aus. Aber wir spielen, wie ich es will. Niemand widerspricht. Steffen lächelt und reckt die Arme empor; eine kurze, kaum sichtbare Geste.
Im Eiltempo wird zur alten Brauerei gefahren, ein verzweigtes, längst verlassenes Backsteingebilde am Waldrand. Der Schornstein ist schon von der Hauptstraße zu sehen. Die Jungs sind oft hier. Eine staubige Allee führt direkt hin, schnurgerade auf das Gebäude zu. Im Hof davor ein Bagger, über und über bedeckt mit Rost und kleinen Pflanzen, die Scheiben eingeschlagen. Überall eiserne Maschinen, Kessel, allerhand interessanter Schrott, der seit Jahren still vor sich hindämmert. Die hohen Wände des einstmals prächtigen Hauses schlucken viel von der Sonne, es ist hier angenehm kühl. Einen Moment stehen alle vor dem mächtigen, dunklen Giebel der Industrieruine und starren andächtig nach oben. Niemand sagt etwas. Den Weg durch den zugemauerten Eingang an der Seite kennen sie nur zu gut. Ein kleines Loch haben sie sich durch die dicken Steine geschlagen, schon vor langer Zeit; ihre kleinen Körper passen mühelos durch und selbst Steffen ist mit einem Satz im Gebäude.
Drinnen ist es erstaunlich hell, von überall her fällt das Sonnenlicht auf den braunen, modrigen Boden. Das Dach hat viele Löcher. Die Fenster im ersten und zweiten Stock sind nur zum Teil zugemauert. Man durchstöbert in Ruhe die Ruine, wühlt in alten Holzkisten und untersucht lange verlassene Schreibtische. Die Räume sind alle viel größer als ihr Klassenzimmer. Im Keller gibt es einen Gewölberaum, in dem dutzende Schaufensterpuppen stehen, von Spinnweben eingehüllt. Die Kinder spüren beim Anblick einen lustvollen Schauer.
Im zweiten Stock ruft Kai plötzlich alles zusammen, er wirkt wieder ernst. So, wir spielen jetzt Geiselnehmer. Steffen ist die Geisel. Warum nicht? Mit den Knallpistolen veranstalten sie ein Mordstheater, rennen durch die gewaltigen Räume, verstecken sich hinter Fässern, herabgestürzten Balken und Schutt und schießen, was das Zeug hält. Nur Steffen steht gefesselt mit einem Kabel an einen alten Kran aus rostigem Stahl. Kai hat es mit seinem Taschenmesser extra zurecht geschnitten. Um die Augen haben sie Steffen ein altes Stofftuch gebunden. Aber immerhin darf er mitspielen. Selig lauscht er dem Lärm der anderen, auch wenn der Knoten ihm wehtut. Bestimmt darf ich gleich auch mal schießen, denkt er. Einen Stock tiefer kniet Kai sich plötzlich hin. Er hält sein Feuerzeug an einen hoch aufgetürmten Stapel mit trockenen Stoffballen, Pappe, Holzresten und allerhand Plunder. Der steht wie ein staubiger Berg mitten im Raum. Es wird schlagartig still, das helle Knallen der Spielzeugwaffen verstummt. Die anderen blicken Kai ungläubig an. Das ist nicht gut, sagt Michael halblaut. Meine Mutter hat gesagt, wenn … Halt`s Maul, du Bettnässer, zischt Kai und schlägt Michael mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Wieder blitzt das Feuerzeug in seiner Hand auf. Ein lautes Zischen fährt aus dem Abfallberg und die Jungs springen erschrocken zurück. Da steht der ganze Stapel im Nu in Flammen. Das Zeug muss schon Jahre hier gestanden haben, denn es brennt wie Zunder. Kai ist selber überrascht und lässt das Feuerzeug fallen. Das Zischen ist nach einigen Sekunden schon zu einem Rauschen geworden. Die Flammen spiegeln sich in seinen großen dunklen Augen, feuerglühende Teilchen schwirren umher. Feine Rauchschleier verteilen sich im Raum und ziehen bis unter die hohe Decke. Sie poltern alle die breite Holztreppe hinunter, durch die Halle mit den Karofliesen an den Wänden, zwängen sich durch das kleine Loch in der Mauer, raus zu den Fahrrädern, in die Freiheit.
Es geht zurück durch die Allee, die Gesichter sind rot und verschwitzt, die Haare sind wirr und riechen nach Feuer. Sie treten fest in die Pedalen und stürzen davon. Hinter ihren Rädern steigen kleine Staubwolken vom Boden auf. Sven ist der einzige, der stehen bleibt und sich noch mal umdreht. Er sieht, wie aus den Fenstern der alten Brauerei zäher Qualm aufsteigt. Die anderen sind schon fast vorne an der Straße. Die Sonne ist mittlerweile ganz klein und rot geworden. Es ist spät. Mit einem Ruck dreht er sich nach vorne und tritt hastig, immer schneller.
Er will die anderen nicht verlieren.