Der Prophet
"Ohne den festen Glauben an den einen Gott werden wir alle der Verdammnis anheimfallen. Euer Wehklagen wird durch die verwüsteten Strassen klingen, erhört ihr nicht das Wort Gottes".
Wilde Gesten begleiteten seine Ausführungen. Es misslang dem selbsternannten Propheten dadurch eine dramatische Gesamtwirkung zu erzielen. Auch das lange Gewand und seine wirren, weißen Haare halfen nicht: er wirke bemitleidenswert lächerlich. Um das Bild zu vervollständigen, hätten eigentlich nur noch ein paar Sandalen gefehlt, die aber angesichts der Kälte nicht einmal Jesus an so einem Tag getragen hätte.
"Sie werden kommen", rief er laut. Dann noch einmal leiser, fast murmelnd: "Sie werden kommen".
Er hielt einen Augenblick inne, fuhr dann aber in voller Lautstärke fort:
"Nur der Glaube an den einen Gott kann uns die Stärke geben, den teuflischen
Dämonen gemeinsam zu widerstehen. Der Glaube ist das Schwert, das tief in die verfaulenden Eingeweide der Bestie fahren wird, um seine stinkende Existenz ein für alle mal auszulöschen und sie in die Hölle zurückzustoßen aus der sie bald schon kommen wird".
'Wahrscheinlich', dachte ich, ‚sind es die wenig überzeugenden und obendrein auch noch unappetitlichen Metaphern, die für seinen Mißerfolg verantwortlich sind ...oder es ist die fragwürdige Grammatik. Wenigstens ist sein outfit lehrbuchhaft prophetisch'.
Matschiger Griesel regnete in die Fußgängerzone. Ich war noch etwa 50 Meter von dem eifrigen Endzeitgroupie entfernt. Niemand schien ihn zu beachten. Allerdings stimmte das nicht ganz, denn die Passanten machten, scheinbar ohne eigenes Zutun, einen unauffälligen Bogen um den Ort des Geschehens.
Ich war jetzt auf zehn Meter an ihn herangekommen und begann langsam dem Ausweichmanöver der Anderen zu folgen. Unglücklicherweise hatte ich kurzen Augenkontakt. Obwohl ich meinen Blick sofort abwandte und nun interessiert die blutigen Auslagen einer Fleischerei beäugte, war es zu spät. Ich fühlte mehr, als daß ich es sah, wie sich der alte Mann näherte. Ich verspürte den drängenden Wunsch ein Stück von einem toten Tier zu kaufen und machte mich daran die Fleischerei zu betreten, als mich der alte Mann erreicht hatte und meinen Arm packte; ich hatte den richtigen Augenblick zur Flucht verpasst.
"Sie sind nicht von dieser Welt. Wir müssen vorbereitet sein. Sie haben ihre Spione schon ausgeschickt. Hier nimm diesen Zettel. Hier steht alles, was ich über sie weiß".
Ohne meinen Arm loszulassen, holte er mit der anderen Hand einen Zettel aus einer Umhängetasche und gab ihn mir. Er blickte unruhig hin und her. In seinen Augen glomm der Fanatismus eines palästinensischen Selbstmordattentäters. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte und so tat ich, was ich am besten konnte: nämlich gar nichts.
"Sie wollen uns auslöschen. Aber sie sind geschickt. Sie werden nicht leicht zu erkennen sein, sehen so aus, wie du und ich. Der gefährlichste Feind ist der, den man nicht sieht".
Wieder wanderte sein Blick rastlos umher. Auch ich suchte verzweifelt nach etwas, das mich aus dieser unerträglichen Situation hätte befreien können. Endlich ließ er meinen Arm los. Ich nutze die Gelegenheit ihm zu entwischen.
"Ich muss jetzt leider dringend ein paar Schnitzel kaufen. Es eilt", sagte ich leise und wenig überzeugend. Doch als ich ihn in der Hoffnung wieder ansah, dass er meine Ausrede akzeptieren würde, blieb ich, die Tür der Fleischerei öffnend, stehen. Der alte Mann hatte seinen fast zahnlosen Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Er blickte die Straße hinunter, in seinen Augen war nur noch Entsetzten. Er hatte seine Augen so weit aufgerissen, dass ich befürchtete, sie würden jeden Augenblick aus ihren Höhlen fallen. Jegliche Farbe hatte sein Gesicht verlassen. Er blickte mir über die Schulter und ich verspürte nicht die geringste Lust herauszufinden, was dort zu sehen war. Der Mann begann zu zittern. Ich brach seitlich aus und konnte so das rettende Ufer der Fleischerei erreichen. Drinnen begrüßte mich der wundervolle Geruch von Blut und über Rauch würzig denaturierten Tierstücken. Ich stellte mich an und versuchte nicht aus dem Fenster zu sehen; jedoch kämpfte meine Neugier gegen meine natürliche Veranlagung jedes Problem durch Nichtbeachtung zu lösen. Meine Neugier gewann durch K.O. in der ersten Runde und ich sah hinaus auf die Strasse.
Der Mann hatte sich noch keinen Zentimeter bewegt, und das war wörtlich zu verstehen. Er war zur Salzsäule erstarrt und ich erwartete jeden Augenblick, dass Medusa persönlich ins Blickfeld kommen würde. Um so überraschender war ich, dass ein ganz gewöhnlicher Mann auf den Propheten zuging. Er war mittelgroß, weder jung noch alt, er trug einen dunkelblauen Anzug, der ebenso perfekt saß, wie der Seitenscheitel, der sein pechschwarzes Haar teilte. Er war bis auf einen Meter an den alten Mann herangekommen und schien ihm die Hand geben zu wollen. Ein gewinnendes, mitfühlendes Lächeln lag auf seinen Lippen, die ernsten, dunklen Augen ließen ihn aber auch besorgt aussehen. Dieser Mann konnte unmöglich die Ursache für den Schockzustand des Alten sein. Wahrscheinlich hatte sein Verstand die Pfade der Normalität schon längst verlassen, so dass er sich im dichten Unterholz seines Unterbewusstseins nach belieben Dämonen erschaffen konnte, die nur er zu sehen in der Lage war. Der Geschäftsmann schien nur helfen zu wollen. Das war für einen Großstadtmenschen schon eine besondere Geste. Ich schämte mich fast, so feige die Flucht ergriffen zu haben.
Der alte Mann schien die angebotene Hilfe jedoch nicht anzunehmen, denn er starrte die dargebotene Hand mit - falls das möglich war - noch größerem Entsetzen an.
Dann geschah das Unerwartete. Es sah aus, wie einer dieser computergenerierten Spezialeffekte im Film, doch erstaunlicherweise konnte ich noch zwischen Realität und Film unterscheiden. Tausend Sience-Fiction-Filme waren nicht in der Lage gewesen mich auf das vorzubereiten, was ich nun sah:
Kleine Wellen liefen über den Körper des alten Mannes, anfangs langsam, dann immer schneller werdend, bis die heftige Bewegung seine Umrisse völlig zum Verschwimmen brachte. An verschiedenen Stellen konnte man durch den wabernden Körper die Fußgängerzone sehen. Diese Stellen wurden immer größer, berührten einander, liefen zusammen bis schließlich nur noch Fußgängerzone übrig war: der Mann war verschwunden.
Der Schwarzhaarige hatte seine Hand noch immer ausgestreckt und schien nicht im Geringsten beeindruckt zu sein. Da sah ich, dass er etwas in der Hand hielt. Es war eine Waffe, auch wenn es nicht wie eine aussah, und sie hatte den alten Mann verschwinden lassen. Das Ganze war völlig lautlos geschehen und niemand außer mir schien etwas bemerkt zu haben. Der eiskalte Mörder begann sich langsam umzusehen und mir wurde heiß. Mein Bauch fühlte sich an, als hätte ich ein glühendes Stück Holzkohle verschluckt. Ich spürte, wie Adrenalin meinen Körper flutete, wie es Blutgefäße verengte und wie es jedes Haar meines Körpers dazu brachte sich aufzurichten.
Der Mann blickte in alle Richtungen. Er suchte nach unerwünschten Zeugen. Warum ich nicht wegsah, kann ich mir bis heute nicht erklären, ich schien in eine ähnlich Starre verfallen zu sein, wie zuvor der Alte. Der Blick des schwarzhaarigen Mannes wanderte über die ganze Straße und endete schließlich beim Schaufenster der Fleischerei. Wir blickten einander in die Augen. Ich versuchte möglichst unschuldig auszusehen und hoffte, dass mir noch keine Schweißperlen auf der Stirn standen.
Seine Augen waren nicht von dieser Welt. Ich kann bis heute nicht sagen, was es war, aber ich konnte durch seine Verkleidung sehen, und was sich dahinter verborgen hatte, lässt mich bis heute nicht mehr ruhig schlafen, auch wenn ich nicht beschreiben könnte, was ich damals eigentlich gesehen hatte.
Er sah mich an und schien unschlüssig zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass in diesen drei Sekunden darüber entschieden wurde, ob ich weiterleben durfte. Dann war er zu einem Ergebnis gekommen. Er ließ mich keine Sekunde aus den Augen, er blinzelte nicht einmal, zeigte dann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich, hob den Finger dann an seine Lippen und machte die universell verständliche "psst"-Geste, dann zeigte er noch einmal auf mich, wandte sich - ohne eine Reaktion meinerseits abzuwarten -- ab und ging. Diese Warnung war nicht miss zu verstehen.
Ich war der nächste in der Reihe und bestellte 50 Schnitzel, die mir der Fleischer fröhlich pfeifend aufschnitt. Ich sah auf den Zettel, den mir der alte Mann gegeben hatte. Es waren Listen. Namen von Firmen und Personen, Verweise auf Bücher URLs und email-Adressen.
Wenn ich an diesem Tag den großen Bogen um den Propheten mit allen anderen mitgemacht hätte, wäre mein Leben wohl anders verlaufen. Langsam dämmerte mir, dass mir der Alte mehr als nur diesen einen Tag verdorben hatte.