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Der Samaritereffekt

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20.09.2008
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Der Samaritereffekt

“Was für ein Scheißtag”, fluchte Sascha, als sie ihre Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Heute war einfach alles schief gelaufen was schief gehen konnte. Ihre Kollegin, mit der sie sich eigentlich immer gut verstand, hatte heute ganz besonders schlechte Laune gehabt und hatte diese an ihr ausgelassen. Und dann waren die Arbeiten an dem Manuskript auch nicht so gut gelaufen wie Sascha es gerne gewollt hätte. Sie wusste, dass das Buch bald erscheinen sollte und die Zeit langsam knapp wurde. Schließlich wollte ihr Chef langsam mit der Werbung beginnen, dass Konzept war schon vor drei Wochen fertig geworden.
Sascha versuchte die Gedanken an diesen Tag zu verdrängen und ging in die Küche. Schon ihre Großmutter hatte ihr beigebarcht, dass die Welt nach einer Tasse Tee viel besser aussah. Nachdem der Tee endlich fertig war, ließ sie sich auf ihr gemütliches Sofa fallen. Von dort konnte sie aus dem großen Fenster auf die erleuchtete Stadt herunterblicken. Normalerweise heiterte dieser Anblick sie immer auf, aber heute wollte es ihr nicht so recht gelingen.
Überall waren graue Wolken aus denen es regnete. Die Hochhäuser zeichneten sich traurig ab. Die buntgefärbten Blätter lagen nass und matschig auf den Wegen des großen Parks. Niemand beachtete sie.
Obwohl es draußen noch immer in Strömen regnete, ging Sascha noch einmal nach draußen. Ein Spaziergang im Park sollte ihr Zeit zum nachdenken geben, sie wollte wieder einen klaren Kopf bekommen.
Gerade als sie einen Weg überqueren wollte, fuhr ein Fahrrad schnell an ihr vorbei. Sascha schenkte ihm keine weitere Beachtung, sah nur aus den Augenwinkeln, dass das Fahrrad durch das nasse Laub wegrutschte. Der Sturz des Fahrers kam ihr wie in Zeitlupe vor. Nachdem sie den ersten Schock verwunden hatte, rannte Sascha zu dem Fahrer und half ihm wieder auf die Beine. Sie wollte sicher gehen, dass ihm nichts schlimmes passiert war, der Sturz sah wirklich böse aus. Noch immer saß der Fahrer völlig benommen neben seinem Fahrrad.
“Ist alles in Ordnung bei ihnen?”, wollte sie aufgeregt wissen, nachdem sie ihn erreicht hatte. Es dauerte einen Moment bis er sie wahrnahm, doch dann blickte er sie direkt an.
“Ich denke schon. Ich glaube mir ist nichts passiert. Vielen Dank”, antwortete er schließlich. Trotzdem blieb Sascha bei ihm stehen und hob sein Fahrrad vom Boden auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass er am Kinn blutete. Mit einem schnellen Griff holte sie ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und drückte es auf die Wunde. Erst jetzt bemerkte Sascha seine wunderschönen blaue Augen. MAn schien in ihnen versinken zu können. Auch der Rest war sehr ansehnlich und sie schenkte ihm ein Lächeln. Beide schwiegen wieder, was hätten sie in dieser Situation auch sagen sollen? Nachdem der Unbekannte noch einmal versichert hatte, dass alles in Ordnung sei, stieg er wieder auf und fuhr langsam davon. Sascha sah ihm so lange nach, bis er hinter einer Kurve verschwand.
Nachdem sie wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt war, ging es ihr besser als vorher. Der Tag schien nicht mehr ganz so misslungen zu sein, wie sie geglaubt hatte. Und morgen würde sie die Korrekturen an dem Manuskript fast fertig stellen, da war sie sich sicher. An diesem Abend dachte sie noch lange über den Vorfall im Park nach und schlief mit den Gedanken an den Sturz ein. Hoffentlich war wirklich alles in Ordnung mit ihm, die Wunde an seinem Kinn war ihr nicht harmlos vorgekommen.
Als sie am nächsten Morgen wieder in ihrem Büro saß und arbeitete, kehrten ihre Gedanken in jeder freien Minute an die Begegnung des Vorabends zurück. Ob sie ihn wohl jemals wiedersehen würde? Normalerweise war Sascha eine rational denkende Frau, die sich durch nichts und niemanden leicht beeindrucken ließ. Aber, obwohl sie dem Fahrradfahrer nur fünf Minuten gesehen hatte, bestimmte er auf einmal ihre gesamte Gedankenwelt. Sie konnte sich das alles nicht erklären, obwohl sie sich immer gut gekannt hatte. Schließlich war er nicht der erste Mann gewesen, dem sie geholfen hatte und er würde bestimmt auch nicht der letzte sein.

Zur gleichen Zeit saß ein junger Mann in seiner Wohnung und blickte auf die Stadt hinaus. Es regnete schon wieder, aber heute schien es Rob nicht zu stören. Eigentlich hätte er um diese Zeit arbeiten müssen, aber sein gestriger Sturz hatte doch einige Folgen gehabt, mit denen er am Anfang nicht gerechnet hatte.
Kurz nach seinem Sturz war er davon überzeugt gewesen, dass er sich kaum verletzt hatte. Doch nachdem der erste Schock überwunden war, merkte er den stechenden Schmerz in seinem rechten Handgelenk. Die Schmerzen waren ihm wie kleine Stromstöße vorgekommen, deshalb war er noch am gleichen Abend zur Notaufnahme gegangen. Dort stellte man fest, dass er sich bei seinem Sturz das rechte Handgelenk gebrochen hatte und der Arm wurde sofort eingegipst.
Und nun saß er hier in seiner Wohnung und schaute aus dem Fenster. Er dachte immer wieder an die junge Frau, die er gestern im Park getroffen hatte. Ihre Begegnung war nur kurz gewesen aber noch immer war er von ihrer Erscheinung gefesselt. Sie war einfach wunderschön gewesen, einmalig. Ihr langes blondes Haar war vom Regen nass gewesen und sie hatte ihn aus ihren großen braunen Augen sorgenvoll angesehen. So hatte er sich immer seine Traumfrau vorgestellt. Und nun hatte er sie getroffen und war keinen Schritt weiter. Er wusste nicht von ihr, noch nicht einmal ihren Namen. Rob hoffte, dass er sie irgendwann wiedersehen würde, aber er wusste, dass die Chancen sehr gering waren. Schließlich lebten sie in einer großen Stadt und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihm einfach wieder über den Weg laufen würde.
Am Abend kamen ein paar Freunde von ihm vorbei, sie wollten ihn ein wenig ablenken und prahlten mit ihren neuesten Eroberungen. Doch sie stellten ziemlich schnell fest, dass Rob ihnen nicht zuhörte. Nachdem sie eine Weile auf ihn eingeredet hatten, berichtete er ihnen von der Begegnung im Park.
Zusammen schmiedeten sie die tollsten Pläne, wie Rob sie wiedersehen könnte. Man schlug das Internet vor oder eine Zeitungsanzeige. Vielleicht las sie den Artikel und meldete sich bei ihm. Zuerst war Rob skeptisch, aber schließlich konnte er sich mit den Gedanken anfreunden. Es war ein Versuch wert, er hatte schließlich nichts zu verlieren.
Nachdem er eine Suchanzeige in den zwei größten Zeitungen der Stadt aufgegeben hatte, konnte Rob nur noch hoffen und abwarten.

Die nächsten Tage waren sehr anstrengend für Sascha. Sie hatte kaum eine freie Minute, worüber sie aber nicht traurig war. Wenn sie abgelenkt war, konnte sie nicht mehr an den Unbekannten aus dem Park denken. Doch wenn sie Nachts allein in ihrem großen Bett lag, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu ihm zurück. Sascha wollte ihn so gerne wiedersehen, wusste aber nicht, wie das möglich sein sollte. Schließlich wusste sie absolut nichts über ihn. Die Begegnung war nur ein flüchtiger Augenblick gewesen und sie musste sich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass das auch so bleiben würde.
Erst am Samsatag hatte sie endlich die Zeit, die Zeitungen der letzten Tage zu durch- forsten. Während sie gemütlich frühstückte kämpfte sie sich durch die Nachrichten der letzten Tage. Gerade als sie die Zeitung vom Mittwoch zur Seite legen wollte, fiel ihr Blick auf eine kleine Anzeige auf der letzten Seite. Sascha konnte einfach nicht glauben, was dort stand. Das konnte nur ein Traum sein. Es musste ein Traum sein.

“Ich suche dich. Du hast mir im Park nach einem Fahrradsturz geholfen und ich möchte mich gerne bei dir bedanken. Bitte melde dich unter folgender Nummer" Ganz unten entdeckte Sschaseine Telefonnummer und fing an zu grübeln.

Sascha überlegte einen Moment, schließlich konnte jede Frau der Stadt gemeint sein. Wie hoch waren die Chancen, dass der Unbekannte augerechnet nach ihr suchte? Sie überlegte noch lange, kam aber dann zu der Überzeugung, dass sie nichts zu verlieren hatte. Ohne noch einen Moment zu zögern griff sie zu ihrem Telefon und wählte die angegebende Nummer aus der Anzeige.

Als sein Telefon klingelte, zuckte Rob kurz zusammen. Er war in Gedanken wieder bei der Unbekannten gewesen. Er war ein wenig enttäuscht, dass sie sich nicht gemeldet hatte. Obwohl er ein Realist war, hatte er doch darauf gehofft, dass ihm das Schicksal ein wenig unter die Arme greifen würde und sich die Unbekannte endlich melden würde.
Das Telefon klingelte noch einmal, langsam hob Rob ab.
“Entschuldigen sie meinen Anruf. Ich habe gerade ihre Anzeige gelesen, weiß aber nicht ob ich gemeint bin…” hörte er eine weibliche Stimme, die aufgeregt in den Hörer sprach.
“Dann erzählen sie mir doch einfach ihre Geschichte. Dann kann ich ihnen sagen, ob sie die Gesuchte sind”, schlug Rob ihr vor und spürte wie sein Herz sofort schneller schlug.
Nachdem sie noch einmal tief Luft holte, begann Sascha langsam ihre Geschichte zu erzählen.
“Ich bin am Montag Abend durch den Park in der Nähe meiner Wohnung gewesen. Gerade als ich einen Weg überqueren wollte, fuhr ein Fahrradfahrer an mir vorbei. Kurz darauf stürzte er und ich half ihm wieder auf. Der Fahrer versicherte mir, dass mit ihm alles in Ordnung sei, obwohl sein Kinn stark blutete. Ich habe ein Taschentuch darauf gedrückt und er fuhr nach einer Weile weiter… ” Nachdem sie ihre Geschichte fertig erzählt hatte blieb es lange still in der Leitung.
Rob konnte es einfach nicht fassen, es war wirklich die Frau die er gesucht hatte. Sie hatte sich endlich gemeldet. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er noch immer nichts gesagt hatte.
“Sie sind die Frau die ich suche. Ich wollte mich bei ihnen bedanken und sie deshalb in ein kleines Café einladen. Hätten sie heute Zeit?”, wollte er schließlich von ihr wissen.
“Das hört sich gut an. Ich würde mich gerne mit ihnen treffen. Aber meine Eltern haben mir beigebracht, dass ich mich nicht mit Fremden treffen darf,“ erklärte sie ihm, denn sie wusste noch immer nicht seinen Namen und hoffte, dass er den Wink verstehen würde.
“Oh Entschuldigung. Mein Name ist Rob Johnson. Darf ich auch ihren Namen erfahren?”
“Aber natürlich. Gleiche Rechte für alle...ich heiße Sascha. Sascha Davidson.”
Sie verabredeten sich zu einem kleinen Café, danach legten sie auf. Sascha konnte es noch immer nicht glauben. Es war so einfach ihn wiederzusehen. Darauf hatte sie gehofft, davon hatte sie geträumt. Und nun sollte sie ihn endlich wiedersehen.

Rob stand noch immer am Telefon, den Hörer hielt er noch immer in seiner Hand. Sie hatte sich wirklich bei ihm gemeldet. Endlich. Eigentlich hatte er die Hoffnung schon längst aufgegeben, doch das Schicksal war ihm treu geblieben. In drei Stunden würden sie sich endlich gegenüberstehen. Hoffentlich würde er Sprechen können.

Pünktlich erschien Sascha am Café, Rob wartete schon ungeduldig auf sie. Als er sie bemerkte, kam sie ihm noch schöner vor. Der Wind spielte mit ihrem langen blonden Haar, und in ihren Jeans sah sie einfach fantastisch aus. Mit klopfenden Herzen näherte sich Sascha dem Treffpunkt und war froh, als sie ihn sah. Es war wirklich der Unbekannte, der ihr einfach nicht mehr aus den Kopf gehen wollte.
Gemeinsam setzten sie sich an einen freien Tisch. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, unterhielten sie sich das erste Mal richtig miteinander.
“Was ist mit deinem Handgelenk?”, wollte Sascha wissen, als sie den Gips bemerkte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass der Arm schon am Montag verletzt war.
“Als mich mein Drahtesel abwarf, hat mein Handgelenk doch etwas mehr abbekommen als erwartet,” erklärte er ihr und Sascha strich vorsichtig darüber hinweg.
Den Nachmittag verbrachten sie zusammen mit langem Gesprächen. Dabei stellten sie fest, dass sie einige Gemeinsamkeiten hatten. Sascha erklärte ihm, warum sie sich erst heute gemeldet hatte und als sich der Nachmittag dem Ende neigte, versprachen sie sich bald wieder zu sehen.
Sooft es ihre Zeit zuließ trafen sie sich. Sie gingen ins Kino, gemeinsam Essen und machten lange Spaziergänge. Schnell hatten Rob und Sascha festgestellt, dass sie sich über alles unterhalten konnten. Sogar das heikle Thema Exbeziehungen schafften sie ohne große Problem.
Mit jeder weiteren Begegnung schlugen ihre Herzen füreinander schneller.
Wenn er sie küsste, vergaß sie alles andere um sich, lebte nur für dikesen Augenblick. Niemals wollte sie ihn wieder gehen lassen. Noch niemals zuvor, waren sie so glücklich gewesen.
Bereits nach einem halben Jahr zogen sie zusammen, denn jeder war sich sicher, dass Nichts und Niemand sie jemals wieder trennen könnte.
Jedesmal wenn sie an ihre erste Begegnung zurückdachten, mussten sie lachen und sich eingestehen, dass der Sturz von Rob ein Geschenk des Himmels war.

 

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