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Der Schnitt
Ich gehe mir unter die Haut. Ich schneide mir ins eigene Fleisch und das gern. Manchmal schon morgens, wenn die Welt draußen anfängt zu lärmen. Die Küchenvorhänge ziehe ich zu, damit die Welt nicht rein kann mit ihrem unerträglichem Licht und hole mein Messer. Das schöne Edelstahlfleischmesser aus der oberen Küchenschrankschublade.
Es ist ein Ritual. Ein Ritual, das mir hilft, die Zeit schneller fliessen zu lassen, mich durch den Tag zu hängeln, bis endlich wieder Nacht ist. Dieses Messer mag ich gern. Ich habe ihm viel zu verdanken. Als Karl sagte "Ich gehe jetzt!", war es da und lag kühl und elegant an meinem Schenkel. Dieser Moment vor dem Schnitt ist fast so gut wie der Moment, in dem das Metall meine Haut zeichnet, für immer markiert. Die Anderen trinken morgens Kaffee, duschen und all diesen Blödsinn. Ich brauche morgens mein Messer, damit es geht. Ich lächeln kann im Büro, wenn der Chef meinen Schreibtisch passiert und Aktenberge hinknallt, damit ich das Geschwätz meiner Kolleginnen ertrag. Ich scheiße auf euren Kaffee in euren blanken Bechern. Eure Muntermacher. Mein Wiederbeleber trägt einen anderen Namen. Ich sitze ganz entspannt auf meinem Küchenstuhl und schneide mir lange, schöne Streifen in die Haut meiner Oberschenkel. Gelegentlich auch kurze, wenn ich wieder mal spät dran bin, mich beeilen muß. Meine Oberschenkel brauchen keinen Tätowierer, das mach ich selbst. Jede Narbe erzählt eine Episode aus meinem beschissenen Dasein. Keine Sorge, ich komme klar.
Letzte Woche habe ich Karl in der Innenstadt gesehen. Eine keimfreie Blondine hing an seinem Arm, die stinkt sicher nie, selbst ihre Körperausscheidungen riechen nach "j´adore" von Dior.Passt zu ihm. Dem Mann, der nichts mag, was dreckig ist und Probleme macht. Zum Glück sah er mich nicht. Ich habe schnell die Strassenseite gewechselt, wollte sowieso in die Apotheke Desinfektionsmittel kaufen. Fast hätte ich das Pflaster vergessen. Mistkerl.