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Der Sommer nimmt und der Sommer gibt
Als ich noch ein Kind war, lehrte mich meine Mutter ein Sprichwort: Der Sommer nimmt und der Sommer gibt. Nun hatte er mir meine Mutter genommen und ich fragte mich, was würde er mir dafür geben? Sie hatte das Amt der Schamanin an mich weitergegeben, wie es im Stamm seit Generationen von Mutter zu Tochter üblich war. Die Bürde, die sie mir damit auferlegte, lastete schwer auf meinen Schultern.
Momentan blieb mir keine andere Wahl, als weiter der Karawane zu folgen. Ich spürte den Stich der Hitze im Nacken, denn mein Kapuzenmantel vermochte nicht länger zu kühlen. Die Sonne hing am Himmel wie ein unerbittlicher Herr, der mit glühender Peitsche die Menschen wie Vieh vor sich hertrieb. Die Schritte vor mir wurden langsamer. Es waren vor allem die Kranken und Schwachen, die unser Fortkommen verzögerten. Vor mir ging ein Mann, der häufig hustete. Als er sich zu mir umdrehte, blickte ich in ein langgezogenes Gesicht mit trockener, sonnengegerbter Haut und müden Augen, in denen die Hoffnung schwand. Mir selbst erschien die Aussicht auf eine Wasserquelle inzwischen wie ein weit in die Ferne gerückter Traum. Eine andere Frau neben mir griff nach ihrem Trinkschlauch und versuchte die letzten Tropfen auszuringen, in dem sie den Beutel in die Höhe hielt und ihn mit den Fingern quetschte. Ich bot ihr einen Schluck aus meinem Schlauch an, doch sie schüttelte nur mit dem Kopf und strich sich mit der Zunge über den trockenen Mund. Hinter mir hörte ich das Quengeln erschöpfter Kinder. Ihre Eltern hatten große Mühe, sie mit dem hoffentlich baldigen Ende des Marsches zu beschwichtigen.
Wir sahen Bäume mit aufgeplatzter Rinde, die als eine der wenigen Zeugen einer besseren Zeit inmitten des Ödlands standen. Die Blätter hatten jegliches Grün verloren und die Schatten ihrer knorrigen Äste begannen unter den sengenden Strahlen weiter zu schrumpfen. Manchmal waren wir gezwungen dornigen Sträuchern auszuweichen, die in ihrer graubraunen Farbe weder wirklich tot noch lebendig wirkten. Vereinzelt erblickte ich Gräser, die die gleiche Farbe von ausgeblichener Trockenheit wie der Erdboden angenommen hatten, als verkomme alles langsam zum gleichen eintönigen, gelben Staub, der uns am Horizont die Sicht versperrte.
Wir passierten ein langgezogenes Becken mit einem Zentrum, das von tiefen Rissen durchzogen war. Entlang des Randes lagen Tierkadaver großer Wassertiere. Ich zog mir meinen Gesichtsschal über die Nase, als der Verwesungsgeruch zu mir vordrang. Trotzdem gelangte der beißende Gestank durch den Stoff in meine Nase. Mir wurde übel und einige Menschen um mich herum mussten würgen. Die Geier labten sich an den Kadavern, in dem sie Fleischreste mit ihren großen blutigen Schnäbeln herausrissen. In die Geräuschkulisse der quengelnden Kinder mischte sich nun das Wehklagen der Erwachsenen. Ich konnte sogar lautstarke Flüche heraushören, die gegen den Marsch zürnten. Drohte uns bald dasselbe Schicksal wie das der Kadaver?
Solvar, die Zwillingsgottheit des Sommers, forderte ihren Tribut von Menschen, Tieren und Pflanzen. Ich musste wieder an die eine Nacht denken, als Solvar mir die Vision von der Halle mit den Höhlenmalereien zeigte. Der Ort der Quelle, aus der das rettende Wasser für den Stamm fließt. Seitdem hatte ich das wiederkehrende Gefühl, als seien Solvars Augen auf mich gerichtet. Die lange Trockenheit dieses Sommers war verglichen mit den Jahren zuvor verheerend. Wir konnten nicht länger auf den Regen warten. Es war eine große Prüfung, die Solvar dem Stamm und mir auferlegte. Die Quelle war unser einziger Ausweg. Seit Generationen lebten wir unter Solvars Gunst und die Geschichten unserer Ahnen erzählten von den zahlreichen Helden, die um die Zukunft des Stammes rangen. Doch seit dem Tod meiner Mutter zeigte sich Solvar in seiner ganzen Härte, als gräme auch er sich über den Verlust. Und nur ich als Schamanin konnte das lang ersehnte Wasser bringen, in dem ich das Band meiner Mutter neu knüpfte, um Solvar gnädig zu stimmen.
Ich konnte bereits das Ende des Beckens erkennen, als ein Horn aus der Ferne ertönte. Es hatte den unverwechselbaren Klang des Büffelhorns, wie es in seiner Verwendung nur den Stammeskriegern gestattet war. Einer von ihnen eilte zu mir herüber. Er trug einen Speer in der Hand, dessen Ende silbrig in der Sonne glitzerte, und die Embleme auf seiner Kleidung wiesen ihn als einen der erfahrenen Krieger aus, die schon viele Sommer gesehen hatten.
»Werte Schamanin«, sagte er, »wir haben die Höhlen erreicht. Der Häuptling bittet um eure Anwesenheit!«
»Führt mich zu ihm«, antwortete ich, und ich folgte dem Krieger vorbei an den in Aufruhr geratenen Menschen, die weiter nach vorne strebten. Ihre Blicke waren geradeaus zum staubbedeckten Horizont gerichtet, wo sich ein Schemen von imposanter Größe abzeichnete. Doch einige sahen erwartungsvoll zu mir herüber, als der Krieger und ich sie festen Schrittes überholten. Dann kam Wind auf und der Staub gab die Sicht auf den Berg frei, als weise Solvar uns den Weg. Ich konnte nun die Eingänge zu den Höhlen erkennen, wie ich sie nur aus den Erzählungen meiner Mutter kannte. Sie ragten stolz empor wie die steinernen Gesichter unserer Ahnen, die mit unergründlicher Miene das Tor zu ihrem dunklen Reich bewachten.
Vor dem Eingang bildete sich eine Traube von Menschen. Ihre Stimmen mischten sich zu einer Dissonanz von Kinderschreien, Stöhnen und Jubel. Ich konnte nicht sagen, ob es Freude oder Klage war, die sie erfüllte.
Der Häuptling tauchte seine Finger in die mit Farbe gefüllte Tonschale und strich mir die Symbole von Solvar über Wangen und Stirn. Sie zeigten die zwei Gesichter des Sommers. Der eine Zwilling mit strenger Miene, der die Trockenheit bringt und Prüfungen auferlegt, und der zweite Zwilling, der das Wasser bringt und Güte zeigt.
»Nun liegt es allein an euch. Erneuert das Band und rettet den Stamm«, sagte der Häuptling, und in seiner Stimme schwangen sowohl Zweifel als auch Erwartung mit.
»Der Sommer wird uns geben«, entgegnete ich. »Es ist der gleiche Ort wie in meinem Traum. Das muss der letzte Teil der Prüfung sein. Die Quelle muss direkt vor uns liegen.« Der Häuptling schwieg für einen Moment und wischte sich die Finger an einem Leinentuch ab, das ihm einer der Krieger reichte. Er musterte mich mit dem Blick seiner tiefliegenden, alten Augen.
»Was ist, wenn es wahr ist, was die Ältesten des Stammes erzählen. Was ist, wenn Solvar uns verlassen hat? Ihr wisst doch, die Quelle wird sich nur offenbaren, wenn ihr euch Solvar als würdig erweist.«
»Er wird sein zweites Gesicht bald offenbaren«, sagte ich entschlossen, »während des Marsches erblickte ich wieder die Zeichen, so wie meine Mutter es mich lehrte. Ich sah es im Flug der Geier und im Wurf der Schatten.«
»Der Marsch hat uns zu viel abverlangt. Eure Mutter hätte den Marsch nicht gewagt, denn sie kannte die Unbarmherzigkeit des Sommers. Ihr seid fast noch ein Kind. Die wenigen Sommer, die ihr erblicktet, waren reich an Wasser.«
Ich spürte, wie die Zuversicht in meinem Kopf wie der Boden unter meinen Füßen Risse bekam. Da war sie wieder, die Verantwortung, die der Tod meiner Mutter mir aufgebürdet hatte.
»Ich bin mir sicher, Solvar wird mich anerkennen und als Zeichen unseres Bunds wird er den Stamm mit Wasser beschenken«.
Der Häuptling presste die Lippen aufeinander und nahm meine Hand. »Einen weiteren Marsch durch das Ödland schaffen wir nicht. Beweist mir, dass es klug war, auf euren Rat zu vertrauen.«
Ich brachte kein weiteres Wort über die Lippen und nickte nur. Die Geste eines der Stammeskrieger, der mit dem Speer auf den Eingang der Höhle wies, riss mich aus meiner Starre. Ich ging voran und die Krieger des Stammes folgten mir. Um mich herum wurde es dunkel.
Der Schein der Fackeln erhellte den schmalen Durchgang, der tiefer in das innere des Berges führte. Die Stimmen der Menschen wurden zu einem hintergründigen Rauschen und verstummten schließlich. Das Knistern der Fackeln und die eigenen Schritte auf dem blanken Fels drangen in den Vordergrund. Glattgeschliffenes Gestein erzählte die Geschichte von Wasser, das einst diesen Gang erschaffen hatte. Ich versuchte, nach der Quelle Ausschau zu halten, doch die Unebenheiten des Bodes zwangen mich immer wieder meinen Blick nach unten zu richten, um nicht zu stolpern. Wir stiegen immer weiter in die Tiefe hinab und die Temperatur schien mit jedem Schritt weiter abzunehmen. Die Dunkelheit und die Kühle fühlten sich nach dem langen Hitzemarsch seltsam an. Manchmal wurde die Decke so niedrig, dass wir uns bücken mussten. Der schmale Gang wurde irgendwann immer breiter und ging in eine große natürliche Halle über, deren Ausmaß ich nicht erkennen konnte. Um uns herum war nur noch die Stille einer nicht enden wollenden Dunkelheit. Ich tastete mich langsam weiter voran und meinen eigenen Gedanken erschienen mir ungewöhnlich laut. Die Worte des Häuptlings lasteten schwer auf mir. Ich sah den Marsch der letzten Tage vor meinen Augen, das Leid, das ich dem Stamm aufgebürdet hatte, und das Gesicht meiner Mutter in ihren letzten Atemzügen, als die Hitze des Sommers ihr das Leben nahm. Mit meiner Entscheidung hatte ich alles in die Waagschale geworfen. Mein Schicksal als Tochter der Schamanin war das Schicksal des Stammes geworden.
Wir gingen weiter durch die Halle, die mir inzwischen endlos erschien. Doch dann erreichten wir wieder Felsgestein und vor mir wurde ein Torbogen sichtbar, dessen perfekter Schwung kein Wasser auf natürliche Weise formen konnte. Höhlenmalereien säumten die Wände und zeigten Menschen unter den zwei Gesichtern der Sommers. Manche kauerten auf dem Boden unter der Sonne und beteten und andere stürzten mit erhobenem Speer nach vorne oder wurden mit Wasser übergossen. Es war der Ort, den ich zuvor im Traum gesehen hatte. Es fühlte sich so an, als hätte ich diesen Moment schon einmal durchlebt. Es war wieder so, als sei Solvar direkt neben mir und weise mir den Weg. Als ruhte der Blick der Zwillinge auf mir und beobachtete genau jeden meiner Schritte.
In der Mitte des Torbogens klaffte ein dunkles Loch. Ein Graben zog sich von dort durch den Boden der Halle und verschwand irgendwo in der Tiefe. Wir hatten die Quelle gefunden. Ich lief vorweg und die Krieger blieben zurück, da es nur mir gestattet war, den heiligen Bereich zu betreten. Als ich den Torbogen erreichte, traf mich die Last der letzten Tage wie ein Schlag. Ich griff mit der Hand nach dem Wasser, doch alles was ich fand, war trockener Sand, der mir durch die Finger rann. Das letzte bisschen Hoffnung verließ in diesem Moment meinen Verstand.
»Solvar hat uns verlassen«, hauchte ich und wagte es nicht, meinen Kopf zu wenden. Obwohl ich allein war, hatte ich das Gefühl, dass mich Solvars Blicke und die des Häuptlings und des ganzes Stammes in diesem Moment zu Boden drückten.
Der Aufstieg kam mir vor wie eine Ewigkeit. Wir alle schwiegen und unsere Blicke wichen einander aus. Wie konnte ich noch die Kraft aufbringen, meinem Stamm die fürchterliche Botschaft zu überbringen? Mein Herz pochte, als wir wieder in das Licht traten, doch dann ergoss sich Wasser wie ein gewaltiger Quell über unsere Köpfe. Der Horizont zerfloss in einer Wand aus Regen und Wind und verwandelte den trockenen, rissigen Boden in Schlamm. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich die Menschen tanzen, singen und lachen sah. Der Sommer hatte mir meine Mutter genommen, doch er hatte mir und meinem Volk eine neue Zukunft gegeben.