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Der Spiegel

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18.11.2021
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Der Spiegel

Bei einem meiner antiquarischen Streifzüge durch Europa hatte ich einen kostbaren und außergewöhnlich verzierten Renaissance-Spiegel in einer Villa in Viseu in Portugal erstanden, den ich unter großen Umständen, aber sicher in mein Anwesen nach Sandrigde Hall hatte verfrachten lassen. Der Hinweis auf dieses einmalige Stück war von einem befreundeten Kunsthändler aus Portugal, Joaquin Villafranche, gekommen, der auf eine Kunstauktion aufmerksam geworden war, bei der der Spiegel veräußert werden sollte. Die Villa Fidalgo, aus der das Unikat stammte, gehörte dem kinderlosen Adeligen Rodrigo Vasces de Amada, der im Alter von 82 Jahren spurlos verschwunden und dessen Nachlass nicht geregelt war. Er hatte keine lebenden Verwandten mehr, und so wurden sämtliche Gegenstände aus seinem Besitz, die einen gewissen Wert besaßen, öffentlich versteigert. Ich war eigens aus England angereist. Joaquin versicherte mir, dass es sich lohnen würde, und ich wurde nicht enttäuscht. Die Villa war voll von antiquarischen Büchern und Möbeln, Uhren, alten Säbeln, Gemälden und Ölporträts von Rodrigos Vorfahren und auch ihm selbst. Aber es war vor allem der alte Spiegel, der mein Interesse geweckt hatte. Das Stück, um das es sich handelte, war etwa neun Fuß hoch und fünf Fuß breit. Seine Spiegelfläche war trotz des Alters makellos glatt und klar. Sein Rahmen war vergoldet und einen ganzen Fuß breit, und stellte ein reliefartiges, scheinbar willkürliches Sammelsurium an Dämonen, Fabeltieren, Arabesken und Fratzen dar, die alle auf sonderbare Weise miteinander verschlungen waren und sehr lebendig wirkten. Es gab keinen erkennbaren Anfang und Ende dieses Reliefs, alles war in einem Fluss rings um die Spiegelfläche angeordnet. Nur ein wahrhaft talentierter Schreinermeister konnte solch ein Werk vollbracht haben. Ich war sofort begeistert, ja geradezu besessen darauf, den Spiegel zu ersteigern. Und so war ich nicht wenig überrascht, dass ich ihn für eine meiner Meinung nach geradezu lächerlich niedrige Summe von 600 Pfund ersteigern konnte, nur knapp über dem Mindestgebot. Doch es gab für mich keinen Grund zu klagen, ganz im Gegenteil, ich war sehr zufrieden mit dem Handel.

“Was ist aus Rodrigo geworden, weiß man das?” fragte ich Joaquin wenig später, nachdem ich noch einige kleinere Kunstgegenstände ersteigert hatte und sich die Auktion dem Ende zuneigte.
"Das ist eine bizarre Geschichte”, antwortete er. “Rodrigo war eine angesehene Persönlichkeit in Viseu. Etwas verschroben vielleicht, aber viele kannten und schätzten ihn. Umso sonderbarer war es natürlich, dass er von einem Tag auf den anderen verschwand. Man fand keinerlei Hinweise auf seinen Verbleib, in seiner Villa war alles so wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass er beispielsweise für längere Zeit verreist war. Er war wie vom Erdboden verschluckt.”
Ich gab mich mit seiner Antwort zufrieden, und dachte beiläufig, dass diese mysteriöse Begebenheit den Wert des Spiegels für mich nur noch steigerte.

Ich blieb noch ein paar Tage in Portugal, und während ich den Transport in die Wege leitete, bat ich Joaquin, einige Erkundigungen über den Spiegel bezüglich seines Alters und seiner Herkunft einzuholen, was sich als gar nicht so einfach herausstellte. Der Spiegel hatte sich seit etwa 50 Jahren im Besitz von Rodrigo befunden. Er war ein Geschenk des Marquess Gonzáles de Mendoza an Rodrigo und Isabella de Braganza, Rodrigos Braut, zu ihrer Hochzeit gewesen, und stammte ursprünglich aus Spanien. Wo der Spiegel sich davor befunden hatte oder wo er herstammte, lag im Dunkeln, aber Gabriel Gutierrez, ein Kunstexperte, mit dem Joaquin zusammenarbeitete, konnte bestätigen, dass der Spiegel aus dem 16. Jahrhundert von einem unbekannten Meister aus Spanien stammte. Joaquin berichtete mir, dass sein Gespräch mit dem Gutierrez sonderbar verlaufen war. Sobald er ihm von dem Spiegel erzählt und ihn beschrieben hatte, veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes, und er wurde mit einem Schlag wortkarg. Es hatte Joaquin seine ganze Überredungskunst gekostet, mehr Informationen aus ihm herauszulocken. Der Mann machte nur vage Andeutungen und sagte schließlich, dass er auch nicht mehr über den Spiegel wisse, und Joaquin hatte das Gefühl, dass er ihm etwas verschwieg. Das wunderte ihn, weil Gutierrez wirklich als Koryphäe auf dem Gebiet der spanischen Renaissancemöbel galt.

Ich ließ den Spiegel schließlich in der Eingangshalle von Sandridge Hall aufhängen, und dort machte er sich prächtig. Alle meine Gäste, die die weiträumige Eingangshalle betraten, sahen ihn sofort, er war ein richtiger Blickfang. Ich erhielt viel Anerkennung für meine Neuerwerbung, vorranging natürlich von anderen Kunstsammlern und -kennern, die ich zu meinem Freundeskreis zählte. Sie waren fast ausnahmslos der Meinung, dass ich eine wirklich selten schöne und faszinierende Rarität erstanden hatte, und zu meiner anfänglichen Freude gesellte sich bald Stolz darüber, nun Besitzer dieses Spiegels zu sein.

Doch bereits nach wenigen Wochen begannen die sonderbaren Vorkommnisse, von denen ich im Folgenden berichten möchte. Es fing damit an, dass mich ein nicht erklärbares Unbehagen befiel, jedes Mal, wenn ich mich in dem Spiegel betrachtete, oder sogar, wenn ich nur an ihm vorbeiging. Es war merkwürdig, aber ich hatte fast das Gefühl, als würde ich beobachtet, als würde der Spiegel mich überwachen. Mehrere Male ertappte ich mich dabei, wie ich mich nach allen Seiten umsah, sobald ich an dem Spiegel vorbeiging oder mich dort drin betrachtete. Und dann war da dieses Geräusch, ein zunächst leises, kaum wahrnehmbares Brummen, welches ich in unmittelbarer Nähe des Spiegels wahrnahm, und welches innerhalb einiger Wochen immer lauter geworden war. Etwas war eigenartig mit dem Spiegel. Ich hatte mich schon von Anfang an gewundert, wieso die Spiegelfläche noch so gut erhalten, ja nahezu perfekt war. Auch schien niemals Staub oder sonstige Verunreinigungen auf der glatten Oberfläche haften zu bleiben (ich hatte zwar tüchtiges Personal, welches Sandrigde Hall regelmäßig putzte, doch bei der Größe des Gebäudes und der schieren Anzahl aller meiner Kunstgegenstände und Möbel konnten schon einmal mehrere Wochen vergehen, bis die jeweiligen Objekte wieder einmal entstaubt wurden). Und dann war da noch der bizarre Rahmen. Ich hatte jedes Mal den Eindruck, als würden sich die Gesichter und Figuren bewegen, aber das schob ich auf meine Einbildung. Beiläufig fragte ich meine Haushälterin, Mrs. Chapman, und Mr. Williams, meinen Butler, ob ihnen etwas Ungewöhnliches an dem Spiegel aufgefallen sei, und beide äußerten übereinstimmend, dass sie sich in Gegenwart des Spiegels unwohl fühlten, was sie sich allerdings nicht erklären könnten. Mrs. Chapman ging sogar so weit, dass sie steif und fest behauptete, mehrmals ein Flüstern aus dem Spiegel gehört zu haben und sich bei ihr ein Gefühl einstellte, von einem Unbekannten verfolgt zu werden. Mir kam das Ganze natürlich äußerst merkwürdig vor, und so nahm ich mir vor, den Spiegel näher zu untersuchen. Am nächsten Tag stieg ich auf eine Leiter und begutachtete den Rahmen von oben bis unten, ohne zu wissen, was ich eigentlich suchte. Ich ließ ihn sogar abnehmen, um die Rückseite zu inspizieren, aber ich fand nichts Ungewöhnliches. Ich redete mir ein, dass dies nur unser aller Phantasie entsprungen war. Sandridge Hall hatte, wie viele andere adelige Landsitze auch, eine lange, ereignisreiche Vergangenheit, und dazu gehörten natürlich auch Spukgeschichten und Legenden. Standen also unsere Wahrnehmungen in einer skurrilen Tradition dieser Hirngespinste?

Ich war wahrlich kein abergläubischer Mensch, doch auch ich gelangte im Laufe der folgenden Tage immer mehr zu der Überzeugung, dass etwas nicht mit dem Spiegel stimmte. Eines Abends ging ich vom Salon im Erdgeschoss durch die Eingangshalle, und kam an dem Spiegel vorbei. Das langsam anschwellende Brummen, sobald ich mich ihm näherte, war für mich schon zur Gewohnheit geworden, und auch das Gefühl, beobachtet zu werden, doch dieses Mal spürte ich einen sonderbaren Drang, zu dem Spiegel zu gehen und hineinzublicken. Es kam mir fast so vor, als würde mich der Spiegel zu sich hinziehen. Obwohl ich die Halle nur von der Tür zum Salon hinüber zur Treppe überqueren wollte, stand ich plötzlich vor dem Spiegel. Das Brummen war in meinem Kopf, stetig, pulsierend, und zunehmend unangenehm. Ich konnte mich eine Zeit lang nicht von einem Blick in die Spiegelfläche lösen und stand wie gebannt da. Die Spiegelfläche veränderte sich, sie wurde dunkel, und ein fast unmerkliches Licht schien in ihr zu pulsieren. Plötzlich erschrak ich fast zu Tode. Im Spiegel sah ich eine Fratze. Das geisterhafte Gesicht eines alten Mannes. Ich trat einen Schritt zurück, konnte meinen Blick aber nicht vom Spiegel abwenden. War das etwa ich? War ich auf einmal so alt geworden? Unwillkürlich fühlte ich an meinem Gesicht, aber ich konnte nicht diese tiefen Falten spüren, die das Gesicht durchliefen, alles war wie normal. Tief in meiner Erinnerung meinte ich, das Gesicht zu kennen und zu wissen, wer dieser Mann war. Der Mund öffnete sich, der Mann schien etwas sagen zu wollen. Doch das laute Knallen einer Porzellanschüssel, die auf den Marmorboden in der Halle zerschellt war, riss mich aus meiner Trance.

“Oh Gott, Mr. Dunlop, Sir, es tut mir so leid”, sagte Mrs. Chapman. Sie stand vor der Esszimmertür mit erschrockenem Gesicht. Ein Haufen Scherben lag vor ihr. “Ich war so überrascht, sie so dastehen zu sehen, dass mir die Schüssel aus den Händen geglitten ist.”
Ich ging zu ihr und half ihr, die größten Scherben aufzuheben.
“Was haben Sie gesehen?” fragte ich sie, und war etwas peinlich berührt bei dem Gedanken, dass sie mich möglicherweise minutenlang vor dem Spiegel hatte stehen sehen.
“Nun, ich kam aus dem Esszimmer und rechnete nicht damit, sie noch hier unten anzutreffen. Sie standen ganz nah vor dem Spiegel, und das erschreckte mich so, dass ich die Schüssel fallen ließ.”
Sie holte einen Besen und eine Schaufel, während ich nachdenklich nach oben in meine Gemächer ging. Was war mit mir vorgegangen? Wem gehörte dieses alte Gesicht im Spiegel? Ich war mir sicher, es schon einmal gesehen zu haben. Die ganze Sache wühlte mich so sehr auf, dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte.

Es vergingen einige Wochen. Ich war viel unterwegs und geschäftlich auf Reisen, und ich vergaß schon fast wieder diese Vorkommnisse, als eines Tages etwas Furchtbares passierte, was ich aber erst später in Zusammenhang mit dem Spiegel setzen sollte.

Ich hatte einen guten Freund und ehemaligen Kommilitonen des King’s College, den ehrenwerten James Fitzherbert, zwölfter Baron Stafford, zum Dinner eingeladen, und selbstverständlich hatte auch er meinen Spiegel lange und ausgiebig bewundert. Er war Junggeselle, Mitte 50 und lebte bei seiner Mutter, der Baroness Stafford, die zwar mittlerweile alt und gebrechlich, aber noch bei klarem Verstand war. Der Familie gehörte der altehrwürdige Landsitz Whitfield House in Essex, und weitläufige Ländereien, eine Kornmühle und ein Sägewerk. Sein Vater, der elfte Baron Stafford, sowie sein älterer Bruder George, der der eigentliche Erbe des Adelstitels sowie des Großteils des Familienbesitzes geworden wäre, waren früh verstorben, und dies hatte einen düsteren Schleier über die Familie gelegt. Er sprach es zwar niemals direkt aus, doch ich hatte das Gefühl, dass James mit seiner Lebenssituation nicht zufrieden war, und dass es um die Beziehung zu seiner Mutter nicht zum allerbesten stand, und dieser Umstand konnte vielleicht die späteren Ereignisse erklären. Ich hatte mich schon immer gewundert, wieso er immer noch Junggeselle war. Er war ein wohlhabender Adeliger, sah gut aus und hatte gute Umgangsformen. Außerdem war er sehr gesellig und vermittelte stets einen freundlichen, gut gelaunten Eindruck. Ein richtiger Gentleman und eine gute Partie, wie man wohl sagen würde. Aber ich merkte auch, dass James darunter litt, und sich oft einsam fühlte. Das Zusammenleben mit seiner alten Mutter konnte nicht eine Ehe oder das Zusammenleben mit einem anderen Menschen, zu dem man sich hingezogen fühlte, ersetzen. Nun, so dachte ich mir, er hatte eben noch nicht die richtige Frau an seiner Seite gefunden, oder er hatte eben keinerlei Absicht, eine Frau zu finden. Er war gern und oft bei mir, und ich hatte niemals irgendwelche Anzeichen feststellen können, dass er unter unserer Freundschaft mehr verstand als ich es tat. Ich war diesem Gedanken relativ liberal eingestellt, denn ich war der Meinung, dass jeder Mensch nach seiner Façon leben sollte. Er war also so oft außer Haus, wie es ihm möglich war. Manchmal saßen wir bis in die Nacht bei einem Scotch in meinem Studierzimmer, spielten Karten oder eine Partie Schach, und manchmal fragte er mich, ob er bei mir übernachten könne. Er war mir ein willkommener Gast, aber ich spürte bei ihm einen gewissen Widerwillen, in sein eigenes Heim zurückzukehren.
Wir saßen auch an diesem Abend lange in meinem Studierzimmer, und als er nach Hause gehen wollte und seine Garderobe holte, sah er sich noch einmal lange in dem Spiegel an, und ich dachte zunächst amüsiert, dass er sich selbstverliebt anblicken würde, dass der Spiegel ihn besonders vorteilhaft darstellen und er sich an seinem eigenen Anblick erlaben würde. Doch sein Gesicht war alles andere als des eines Narzissten. Es war ernst, und trug fast schon bösartige Züge, etwas, dass ich bei ihm noch nie gesehen hatte. Mit seinem Blick fixierte er irgendeinen unbekannten Punkt auf der glatten Spiegeloberfläche. Er tat dies mehrere Sekunden lang, ohne sich zu bewegen, gerade so, als befinde er sich in einer Art Trance, bis ich ihn am Arm berührte und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Zuerst reagierte er gar nicht, doch dann löste er seinen Blick nur widerwillig, und sah mich überrascht an.
"Ja, ja, natürlich”, stammelte er und sah aus als wisse er im Augenblick nicht, wo er war. “Du hast wirklich einen außergewöhnlichen Spiegel, mein Freund, wirklich außergewöhnlich.”

Ohne ein weiteres Wort des Abschiedes drehte er sich um und ging nach draußen. Dort wartete schon seine Droschke auf ihn. Ich blickte ihm mit einer eigentümlichen Mischung aus Besorgnis und Unverständnis hinterher und winkte noch einmal, ohne eine Antwort von ihm zu bekommen. Mein Erlebnis mit dem Spiegel von vor einigen Wochen kam mir wieder in den Sinn, und ich fragte mich, ob er dasselbe Erlebnis gehabt hatte. War er von ihm wie magisch angezogen worden? Hatte er etwas gesehen?

Erst einige Tage später erfuhr ich von den tragischen Ereignissen, die sich nach seiner Abreise von Sandridge Hall zugetragen hatten. Ich widmete mich beim Frühstück der Morgenzeitung, und las bestürzt vom plötzlichen Ableben der Baroness Stafford. Ich war wie vom Donner gerührt. Sie war im Schlaf erdrosselt worden, und man beschuldigte keinen Geringeren als ihren eigenen Sohn, meinen Freund James, der Tat. Scotland Yard leitete die Ermittlungen, die noch nicht abgeschlossen waren, doch es gab erdrückende Beweise gegen ihn. Ich ließ die Zeitung vor mir auf den Tisch sinken und zitterte am ganzen Körper. Wie konnte mein Freund zu so einer grausamen Tat imstande gewesen sein? Hatte ich ihn all die Jahre so falsch eingeschätzt? Und was mich noch mehr mitnahm war die Tatsache, dass er die Tat offenbar keine 24 Stunden nach seinem Besuch bei mir begangen haben sollte. Mit anderen Worten hatte ich womöglich einen Mörder bei mir im Haus gehabt, mit ihm zu Abend gegessen und mich mit ihm stundenlang unterhalten, ohne auch die kleinste Andeutung auf die zukünftige Tat erahnen zu können. Mir war nichts Ungewöhnliches an seinem Verhalten aufgefallen, was seine schlimme Tat erklären könnte, außer dem besagten Vorfall mit dem Spiegel. Ich reiste am nächsten Tag nach London, wo er in Untersuchungshaft saß, man ließ mich aber nicht zu ihm vor. Jedoch konnte ich ein Gespräch mit Chief Inspector Stevenson, dem leitenden Ermittler bei Scotland Yard, erwirken. Es stellte sich schnell heraus, dass er ohnehin an meiner Aussage interessiert war, da ich einer der letzten Personen gewesen war, die mit Baron Stafford am Tag vor der Tat gesprochen hatten.
“Mr. Dunlop, hat der Baron irgendwelche Andeutungen gemacht, die seine Bluttat erklären könnten? Haben Sie mit ihm über seine Mutter, die Baroness, gesprochen?”
“Nun, ich habe mich, wie es der Höflichkeit gebührt, nach ihrem Befinden erkundigt, und er schilderte mir, dass sie sich bester Gesundheit erfreue.”
Ich sah mich in der Pflicht, meine Vermutungen bezüglich der schwierigen Beziehung zwischen Mutter und Sohn mitzuteilen, hatte aber gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, möglicherweise eine Aussage gegen meinen Freund getätigt zu haben, ohne überhaupt im Zeugenstand zu stehen.
Am Sonntag darauf war die Trauerfeier der Baroness, und ich ging hin. Sie wurde in der Familiengruft auf dem Friedhof in Fimley, dem Familiensitz der Staffords, beigesetzt. Es war ein großes Aufgebot an Menschen, die der Baroness die letzte Ehre erwiesen, mit Ausnahme natürlich ihres nächsten Verwandten, ihres Sohnes und mutmaßlichen Mörders James, der immer noch im Gefängnis saß. Ich kam mit Mr. Bennett, dem Butler der Baroness, ins Gespräch, und der erzählte mir nach anfänglichem Zögern (was ich schätzte, gereichte ihm doch diese Verschwiegenheit seinem Berufsstand aller Ehre), dass James sich nach seiner Rückkehr vom Besuch bei mir seltsam verhalten hatte. Er hatte bisweilen abwesend gewirkt, zerstreut, hatte Dinge gesagt, die keinen Sinn ergaben, und ganz entgegen seiner Gepflogenheit, ihn und einige Angestellte harsch zurechtgewiesen, wenn sie seine Wünsche nicht zu seiner gänzlichen Zufriedenheit ausgeführt hätten. Ja, so sagte Mr. Bennett, er habe seinen Herrn kaum wiedererkannt, und er fragte mich, ob bei unserem Treffen etwas vorgefallen sei, was diese Wesensänderung des Barons erklären könne. Ich verneinte, und von dem Vorfall mit dem Spiegel erzählte ich nichts.

In den nächsten Wochen steigerte sich das Unbehagen, welches der Spiegel zu verbreiten schien. Und noch etwas fiel mir auf. Mein eigenes Verhalten hatte sich geändert, und zwar zum Schlechten, ganz so, wie es nach Aussage von Mr. Bennet meinem Freund James ergangen war. Ich war oft gereizt, launisch, ungehalten, und einige Male fuhr ich meine Bediensteten an, was sonst überhaupt nicht meine Art war. Ja, es gab Momente, wo ich regelrechten Groll gegen die Menschen in meinem Umfeld empfand. Es dauerte zwar meistens nicht sehr lange, aber dieser Groll kam plötzlich und ohne Vorwarnung, steigerte sich, entlud sich dann, und ebbte anschließend sofort wieder ab. Ich sah mich immer öfter genötigt, mich für mein unerklärbar rüdes Verhalten zu entschuldigen. Immer wieder berichteten mir zudem Leute, einschließlich meiner Bediensteten, dass sie sich in der Nähe des Spiegels unwohl und beobachtet fühlten, und mir ging es ähnlich. Eines Nachmittags nahm ich bei einem Rundgang durchs Haus einen dunklen Schatten im Glas des Spiegels wahr, der unmöglich mein eigener sein konnte, und war durch das plötzliche Auftreten und ein heftiges Gefühl der Anwesenheit eines anderen Menschen so erschrocken, dass ich ein Glas fallen ließ und mich umdrehte. Doch weder in meiner unmittelbaren Umgebung war jemand, und im Spiegel konnte ich auch nichts erkennen, nur das Gemälde auf der gegenüberliegenden Wandseite. Ich konnte es nicht länger leugnen, der Spiegel machte mir Angst.

Ich fasste einen Entschluss. Ich kann von mir behaupten, dass ich ein geselliger Mensch bin, und wollte meine Freunde und geschätzten Geschäftspartner, die zahlreich bei mir ein- und ausgingen, nicht vergraulen, und so ließ ich den Spiegel in meine Bibliothek im ersten Obergeschoss bringen. Ich muss gestehen, dass sich meine anfängliche Freude über den Erwerb des Spiegels gelegt hatte. Ja, ich empfand mittlerweile so etwas wie Beklemmung und gar Abneigung, wenn ich in seine Nähe kam. Ob dies nun real war oder damit zusammenhing, dass alle anderen es taten, vermochte ich nicht zu sagen. Die Klagen meiner Hausangestellten und meiner Besuche gingen nach dem Umzug des Spiegels deutlich zurück, denn die Bibliothek war, trotz meiner Liebe zu Büchern, der am wenigsten frequentierte Raum in Sandridge Hall. Wenn ich ein Buch holte, tat ich dies relativ rasch, ohne dass ich in die Nähe des Spiegels kam.

Der werte Leser mag nun anmerken, dass ich zu der Erkenntnis hätte kommen müssen, dass ein Wiederverkauf des Spiegels das Problem ein für alle Mal hätte beseitigen können. Ich muss gestehen, dass ich tatsächlich mehrmals darüber nachdachte. Doch jedes Mal entschied ich mich dagegen. Ich brachte es nicht über mich, nach all den Mühen, die es mich gekostet hatte, ihn hierher zu bekommen. Ja, vielmehr konnte ich den Spiegel nicht weggeben. Ich empfand es als Schande, gar darüber nachdenken. In meinem Kopf hatte sich die Idee eingenistet, dass es mir gar verboten sein würde, den Spiegel wieder abzugeben. So als würde der Spiegel selbst es mir befehlen und sich weigern, wieder aus meinem Besitz zu verschwinden. Er war mein, er gehörte nun genauso wie ich zu Sandrigde Hall.

Nun war es einige Wochen später, dass ich die Holzdielen im gesamten Obergeschoss neu versiegeln ließ. Dazu mussten sämtliche Teppiche und Möbel entfernt werden, und für diese Arbeiten engagierte ich wie immer die Schreinerfirma Brimley & Sons, die schon seit Jahrzehnten alles am und im Haus durchführte. Mr. Brimley, der Inhaber in der vierten Generation, war ein Mann Mitte 60, und hatte schon für meinen Großvater gearbeitet. Er war ein freundlicher, hagerer Mann mit lebhaften Augen und einem Schnurrbart. Er hatte zwei Lehrlinge mitgebracht, die ihm mit den Möbeln halfen und die Eimer mit dem Hartwachs von der Kutsche bis in den ersten Stock hochtrugen. Als ich wenig später nach oben ging, um mich über den Stand der Arbeiten zu informieren, sah ich Brimley in der Bibliothek ganz fasziniert dicht vor dem Spiegel stehen. Ich ging näher, aber er bemerkte mich gar nicht, sondern sah mit starrem, leicht schmerzverzerrtem Gesicht in den Spiegel. Ich hörte wieder dieses eindringliche Brummen, das von dem Spiegel ausging.
“Mr. Brimley? Geht es ihnen gut?”
Zuerst reagierte er nicht, und ich wiederholte meine Frage. Er drehte den Kopf zu mir und ich erschrak, einen solchen Gesichtsausdruck kannte ich von ihm gar nicht. Das war fast nicht Brimley, den ich da vor mir sah. Sein freundliches Gesicht war zu einer bleichen, gespenstischen Totenmaske geworden. Er starrte mich mit großen, bösen Augen an. Doch dann erwachte er langsam aus seiner Trance, sah aber verwirrt aus.
“Oh Mr. Dunlop, Sir”, stammelte er und sah sich unsicher um. “Ja...ja, mir geht es gut, es ist nur...ich muss wohl eingeschlafen sein, verzeihen Sie. Einen schönen Spiegel haben Sie da. Ja, wirklich ein sehr schöner Spiegel.”
Dann drehte er sich um, ohne mich noch weiter zu beachten und setzte seine Arbeit fort, als sei nichts geschehen. Ich stand noch eine Weile da und blickte zwischen ihm und dem Spiegel hin und her. Dann ging ich stirnrunzelnd wieder ins Erdgeschoss.

Am Abend ging ich nochmal in die Bibliothek und sah mir den Spiegel im Kerzenschein an. Was hatte Mr. Brimley gesehen? Ich nahm an, dass er ähnliche Empfindungen wie James und ich gehabt hatte, als wir tranceartig in den Spiegel geblickt hatten. Das monotone Brummen war wieder da, es war ein unangenehmes Geräusch, welches mir in meinen Kopf drang und mir Kopfschmerzen bereitete, je näher ich dem Spiegel kam. Ich fühlte einen dunklen Hass in mir aufsteigen, und die Spiegelfläche erschien mir dunkler, fast schwarz. Ich erwartete, ja verlangte geradezu, das Gesicht des alten Mannes wieder zu sehen, doch diesmal geschah nichts. Und wieder verspürte ich den Drang, dem Spiegel nah zu sein, und eine unbekannte Kraft schien mich geradezu in die Spiegelfläche zu ziehen, doch sie war nicht stark genug, und ich schaffte, es mich zu lösen. Was hatte das zu bedeuten? Ein Spiegel, der einen wie magisch anzog und verlangte, dass man in ihn eintrete? War ich verrückt geworden?

Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass mit dem Spiegel etwas ganz und gar nicht stimmte, so war es ein weiteres, furchtbares Ereignis. Es begann damit, dass Mr. Brimley zwei Tage später nicht auftauchte, um weiterzuarbeiten. Ich schickte einen Boten ins Dorf zu Mr. Brimley, um in Erfahrung zu bringen, was los sei. Er kam zurück und erzählte mir zu meiner Bestürzung, dass Mr. Brimley von der Polizei verhaftet worden sei. Mehr konnte er mir nicht erzählen. Ich war irritiert. Damit hatte ich nicht gerechnet. Der gute Mr. Brimley, verhaftet? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Ich ließ meine Droschke vorfahren und begab mich ins Dorf, wo ich direkt zur Polizeistation ging. Der Constable erzählte mir, dass Brimley bereits abgeholt und nach London gebracht worden sei.
“Was wird ihm denn vorgeworfen?” fragte ich.
“Haben Sie gar nichts mitbekommen? Das Dorf ist in heller Aufregung. Brimley hat eine junge Hure erstochen.”
Ich war wie vor den Kopf gestoßen.
“Brimley hat was? Und Sie sprechen von demselben Brimley, dem Schreiner, von Brimley & Sons?”
“So ist es. Er hat eine Hure im White Hart Inn aufgegabelt, doch als sie ihn abgewiesen hat, weil er kein Geld bei sich hatte, ist er ihr gefolgt und hat sie hinter der Schnapsbrennerei niedergestochen und getötet.”

Wie betäubt verließ ich die Polizeiwache und ging in den nächstgelegenen Pub, um erst einmal einen Scotch zu trinken. Ich rekapitulierte: Zwei Menschen, von denen ich es nie im Leben für möglich gehalten hätte, hatten grausame Taten begangen. Ich kam nicht umhin mich ernsthaft zu frage, ob es etwas mit dem Spiegel und ihrem sonderbaren Verhalten in seiner Gegenwart zu tun hatte.
Als ich wieder zuhause war, ließ ich den Spiegel mit einem großen Laken abhängen. Irgendetwas ging vor sich mit dem Spiegel, und es schien mit etwas zu tun haben, was die Leute im Spiegel selbst sahen. Um meine Theorie zu überprüfen, wollte ich den Spiegel verdecken, so dass niemand mehr in Versuchung geraten würde, ihn sich anzuschauen. Und tatsächlich nahm in den folgenden Tagen und Wochen das Brummen ab, meine Laune besserte sich, und auch meine Bediensteten fühlten sich besser.
Dennoch hatte die Sache ein ungutes Nachspiel. Sowohl James als auch Mr. Brimley konnte ihre Schuld nachgewiesen werden und sie wurden zum Tode verurteilt.

Ich schrieb einen Brief an Joaquin und bat ihn, erneut Kontakt mit Gabriel Gutierrez aufzunehmen, ich musste mehr über den Spiegel wissen. Nach längerem Hin und Her schrieb mir Gutierrez, und behauptete, dass dieser Spiegel verflucht sei. Er sei aus einem Holz gefertigt worden, das aus einem Wald in Galizien stammte, den man Bosque de los Malditos, den Wald der Verdammten nannte, in den seit Menschengedenken kein Mensch mehr einen Fuß gesetzt hatte. Es gebe mehrere solcher Spiegel in unterschiedlichen Größen und Rahmen. Er hätte nur von einem weiteren gehört, der im Castel del Todos Fierros in Andalusien, beim Duque de los Tolledos gehangen habe, dem wegen zahlreicher unerklärlicher und tragischer Todesfälle nachgesagt wurde, verflucht zu sein. Ich las Gutierrez’ Ausführungen mit einer Mischung aus Faszination und Besorgnis, und wollte nicht recht glauben, dass es sich dabei um mehr als nur Ammenmärchen handelte.
Zeitgleich hatte ich einen Dendrologen ausfindig gemacht, der sich den Holzrahmen näher begutachten sollte. Das Holz, aus dem der kunstvolle Rahmen gefertigt worden war, stellte sich als das Holz einer Stein-Eiche heraus, wie sie in Spanien um diese Zeit sehr verbreitet gewesen waren. Ob der Bosque de los Malditos wirklich existierte, und ob das Holz des Rahmens tatsächlich von dort stammte, konnte ich allerdings nicht eindeutig klären.

Es vergingen einige Wochen, und die Dinge normalisierten sich wieder etwas auf Sandridge Hall, so dass der Spiegel gar ein wenig in Vergessenheit geriet. Eines Tages besuchte mich meine Cousine Charlotte, und sie hatte ihre kleine 9-jährige Tochter Olivia mitgebracht. Die Kleine war ein wilder Feger und rannte im ganzen Haus herum, und spielte mit ihrem Kindermädchen verstecken. Wir hörten ihr Lachen im ganzen Haus, doch plötzlich war es verstummt. Das Kindermädchen kam zu uns und wirkte beunruhigt, und bat uns, ihr in die Bibliothek zu folgen. Ich hatte eine böse Vorahnung, und sah sie bestätigt, als ich mit Charlotte nach oben ging und Olivia vor dem Spiegel stehen sah. Sie hatte das Laken vom Spiegel angehoben, stand dicht vor dem Spiegel und starrte wie in Trance hinein.
“Olivia”, rief Charlotte und lief zu ihr. “Komm dort weg, du hast hier nichts zu suchen.”

Noch bevor ich etwas sagen konnte, hatte Charlotte ihre Tochter vom Spiegel weggezogen, doch plötzlich schlug Olivia mit ihren Armen wild um sich und stieß einen spitzen, langanhaltenden Schrei aus. Sie verfiel in einen Schreikrampf, der sich erst nach ein paar Minuten löste. Wir trugen sie nach unten in den Salon, legten sie auf das Sofa und versuchten, sie zu beruhigen. Mrs. Chapman brachte ihr einen Becher mit warmer Milch. Ich erzählte Charlotte nichts von den ungewöhnlichen Ereignissen in Verbindung mit dem Spiegel, um sie nicht zu verängstigen. Olivia hatte sich nun wieder beruhigt und verhielt sich so wie zuvor. Überraschend schnell hatte sie ihre Panik wieder abgelegt. Sie richtete sich auf und fragte, ob sie in die Küche gehen und sich etwas zu essen holen könne, was Charlotte ihr erlaubte. Minuten später vernahmen wir einen lauten Schrei aus der Küche. Wir sprangen auf und liefen rasch in die Küche. Olivia hatte ein blutiges Messer in der Hand, die Köchin lag vor Schmerz schreiend auf dem Boden. Sie hatte blutverschmierte Hände, mit denen sie sich den Bauch hielt. Dort hatte sich ein roter Fleck gebildet, und unter ihr auf dem Fußboden breitete sich eine Blutlache aus. Charlotte hatte nun auch angefangen, zu kreischen, und ich stand einen Augenblick wie erstarrt da. Dann besann ich mich aber und versuchte, auf Olivia einzureden, mir das Messer zu geben, während ich gleichzeitig meinem Butler zurief, einen Arzt zu rufen. Olivia stand wie versteinert da, den Blick wechselnd zwischen dem blutigen Messer in ihrer Hand und der niedergestochenen Köchin auf dem Boden. Mir gelang es schließlich ohne Mühe, ihr das Messer abzunehmen. Sie ließ es widerstandslos geschehen.
Meine Cousine und Olivia reisten am nächsten Tag ab. Meine Köchin überlebte knapp. Sie hatte eine tiefe Stichwunde im Bauch, der aber nicht lebensgefährlich gewesen war. Dennoch musste sie mehrere Wochen im Hospiz verbringen.

Ich hatte nun einen Entschluss gefasst. Ganz gleich, ob dieser Spiegel nun verflucht war, ob meine Erlebnisse und negativen Empfindungen in seiner Gegenwart nun Ausgeburten meiner Phantasie waren oder real, ich wollte ihn nicht länger in meinem Haus haben. All die mysteriösen Vorkommnisse und fürchterlichen Dinge, die geschehen waren seit ich den Spiegel ersteigert und in Sandridge Hall hatte aufhängen lassen, konnten sich nicht leugnen lassen, und auch wenn ich bislang der festen Überzeugung gewesen war, dass an Flüchen und derlei Schauermärchen nichts dran war, so hoffte ich doch inständig, dass es zu keinerlei dieser Ereignisse mehr kommen würde, sobald der Spiegel aus der Bibliothek entfernt und von Sandridge Hall abtransportiert war.

Doch das Entfernen des Spiegels erwies sich als unmöglich. Der Transport von der Eingangshalle hinauf in den ersten Stock war schon umständlich und zeitraubend gewesen, doch nun gelang es den Handwerkern, die ich dafür engagiert hatte, nicht einmal mehr, ihn von der Wand, an der er befestigt war, zu entfernen. Der Rahmen war lediglich an vier eisernen Ankern, die tief in die Backsteinwand eingelassen worden waren, aufgehängt, doch dort saß er nun fest wie in einem Schraubstock. Ein Arbeiter stürzte bei den Arbeiten von der Leiter und zog sich einen verstauchten Knöchel und eine Platzwunde am Kopf zu. Ein weiterer glitt bei dem Versuch, den Rahmen von der Wand zu stemmen, mit dem Brecheisen so unglücklich ab, dass es seine Hand durchbohrte und dabei die beiden mittleren Handknochen und einige Sehnen durchtrennte. Ein dritter quetschte sich acht Finger, als er den Spiegel von unten leicht anheben wollte. Der Rahmen, Augenblicke zuvor noch festsitzend, löste sich kurz von der Wand, schnellte dann aber wieder in seine ursprüngliche Position zurück.

Dass mein Spiegel verflucht oder verhext zu sein schien, hatte sich nun endgültig herumgesprochen, und es gelang mir nicht, noch irgendeinen Handwerker aufzutreiben, der sich in seine Nähe begeben und ihn abmontieren wollte. Der Spiegel wollte das Haus nicht verlassen, dessen war ich mir nun sicher. Und zu meinem eigenen Erschrecken war ich sogar froh darum. Ja, ich spürte eine tiefe Zufriedenheit, dass es den Arbeitern nicht gelungen war, aus meinem Haus abzutransportieren. Ich erkannte die Widersprüchlichkeit meiner Gedanken. Aus meinem anfänglichen Enthusiasmus, der Freude über den Erwerb des Spiegels, waren zunächst Ernüchterung, dann Abscheu und nun schließlich Besessenheit geworden. Ich konnte, wollte den Spiegel nicht mehr hergeben. Der Spiegel gehörte zu Sandridge Hall, so wie er zuvor zur Villa Fidalgo gehört hatte. Das war eine Erkenntnis, die mich faszinierte und zugleich erschreckte.

Eines Abends, ein paar Tage nach dem erfolglosen Versuch, den Spiegel zu entfernen, hörte ich wieder ein tiefes Brummen, und ich wusste sofort, dass es der Spiegel war. Es war, als riefe er mich zu sich. Ich ging hinauf in die Bibliothek. Ich stand vor ihm, das Brummen war ohrenbetäubend in meinem Kopf, etwas Schwarzes pulsierte in der Spiegelfläche und zog mich wie ein Magnet an. Plötzlich offenbarte sich in der Mitte der Schwärze ein heller Schemen, der nach einigen Augenblicken begann, Konturen zu bilden, und schließlich zu einer Fratze wurde. Und nun endlich begriff ich, wer das Gesicht in der Spiegelfläche war, und welches ich bereits einige Wochen zuvor gesehen hatte und das mir so bekannt vorgekommen war. Es war Rodrigo. Ich hatte ihn auf einem Gemälde in seiner Villa gesehen. Und nun war sein Gesicht vor mir, im Spiegel. Rodrigo war ebenso besessen gewesen von dem verfluchten Spiegel, und nur sein Verschwinden hatte es dem Spiegel möglich gemacht, aus der Villa entfernt zu werden. Rodrigo war in dem Spiegel, er war sein Gefangener. Der Spiegel hatte ihn zu sich gerufen und verschluckt, und hatte somit seine Bestimmung erfüllt. Nun rief er mich, seinen neuen Besitzer, zu sich, und mir sollte dasselbe Schicksal widerfahren. Rodrigo öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hörte ihn nicht, das laute Brummen übertönte jedes andere Geräusch in meiner Umgebung. Rodigos Gesicht begann, sich zu drehen, immer schneller, bis es zu einem konturlosen hellen Wirbel wurde, in dessen Mitte sich ein tiefschwarzes Auge auftat, das immer größer wurde. Der Wirbel drehte sich immer schneller und begann, sich aus der Spiegelfläche heraus auf mich zuzubewegen. Er zog an mir, bis ich schließlich nicht mehr widerstehen konnte.

Ich hob meinen rechten Fuß langsam und setzte ihn dorthin, wo die glatte Spiegelfläche begann. Er verschwamm zunächst und wurde dann vollständig von der Schwärze umschlossen. Der Wirbel hatte nun meinen Oberkörper erreicht und bildete Arme aus, die sich um meinen Rücken wanden. Das Brummen nahm nun alle meine Sinne in Beschlag und war so laut, dass alles um mich herum vibrierte. Ich vollendete meinen Schritt und ging in den Spiegel und verschwand.

 
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Hallo @fjordsurfer ,

herzlich willkommen im Forum (kann man ja sicher noch sagen). :)

Ich war neugierig auf einen neuen Horrortext, hab aber gerade gesehen, dass dies deine zweite eingestellte Geschichte ist und du noch gar keinen Kommentar unter einem Fremdtext hinterlassen hast. Ein besonders starkes Missverhältnis, weil dieser neue Beitrag extrem lang ist.

Es liegt sicher auf der Hand, dass dieses Forum nicht funktionieren kann, wenn alle nur Komms abgreifen und selbst keine verfassen. Du lernst auch selbst dazu, ist also nicht mal nur reines Geben. Kann man wirklich beobachten: Mitglieder, die sich unter den Texten anderer engagierten, werden schnell beim Schreiben besser.

Also, ich investiere keine Zeit hier, sorry. Es gibt Mitglieder, die sogar mit Komms einsteigen, bevor sie selbst was von sich hochladen.

Ein Tipp nur: Der Text heißt "Der Spiegel" und beim Scrollen fiel mir auf, dass das Wort überproportional häufig vorkommt: 110 Mal. :hmm: Da rate ich, das auf 10% zu reduzieren, ist ein totaler Overkill.

Ich wünsche baldige Besserung und dir noch viel Spaß hier, viele Grüße,
Katla

 

Hallo @fjordsurfer,

ich schließe mich Katla an, was das Kommentieren von Texten hier im Forum betrifft. Eine gegenseitige Unterstützung ist das Ziel - und du musst ja nicht jedes Mal lange Absätze schreiben. Eine kurze und ehrliche Meinung reicht bereits. Darüber freuen sich die meisten :)

Zu deiner Geschichte ist mir kaum etwas aufgefallen, was ich ändern würde. Sie ist bewusst altmodisch und verschachtelt geschrieben, was gut zur Atmosphäre und zum Zeitalter (ich nehme an, es handelt während der viktorianischen Ära) passt. Dafür gibt es bestimmt eine Zielgruppe.
Das Thema ist leider nicht sehr originell. Verfluchte Spiegel gibt es schon in vielen Geschichten, und du schreibst über nichts Neues, was diesen Text besonders machen könnte. Dementsprechend fand ich auch das Ende nicht überraschend, man ahnt es bereits.
Trotzdem habe ich den Text gerne gelesen und bin gespannt, was du noch auf Lager hast.

Viele Grüße
Michael

 

Hallo @fjordsurfer,

ich habe die Geschichte auch gerne gelesen, finde den Stil passend, wenn auch manchmal ausschweifend. Es gibt eine Entwicklung / Steigerung mit einem (leider vorhersehbaren) Höhepunkt.

Drei Empfehlungen habe ich:

  1. Den Text ein wenig straffen / kürzen. Nicht alles muss in dieser Länge erzählt werden.

  2. Das "Brummen" überzeugt mich nicht, hier empfehle ich ein anderes Geräusch, dass weniger technisch und mehr "okult" oder verzaubernd / hypnotisierend wirkt.

  3. Schau mal nach "obligatory scenes" für horror nach (storygrid), wenn Dein Englisch passabel ist, sollte das helfen.

    Horror lebt davon, dass wir mit einem Schicksal konfrontiert werden, das "schlimmer ist, als der Tod". Einfach nur zu verschwinden ist nicht erschreckend genug.

Lass uns noch deutlicher erahnen, was mit den Menschen passiert, die in den Bann des Spiegels gelangen und tatsächlich eintreten. Lass uns Deine Angst stärker spüren ...

Und verändere das Ende oder den Erzähl-Rahmen. So fühlt sich der Leser veräppelt, weil Du in der Ich-Perspektive erzählst und dann verschwindest. Wer erzählt also warum und WIE diese Geschichte? Den Fehler habe ich an anderer Stelle auch gemacht.

Du bewegst Dich ja vom Stil und vom Setting ein wenig in Richtung Lovecraft und Konsorten. Schau mal, wie er das macht, wenn seine Protagonisten verschwinden.

Viele Grüße,
Gerald

PS: Ich stimme meinen Vorrednern zu, was die Aktivität hier im Forum angeht.

 

Hallo @Katla @Michael Weikerstorfer @C. Gerald Gerdsen , und vielen Dank für die Kommentare!

Ja ich werde mir die Kritik zur Beteiligung an Kommentierung anderer Texte und Geschichten zu Herzen nehmen.

@C. Gerald Gerdsen : Ja, Gerald, diesen "Bug", dass der Ich-Erzähler verschwindet und theoretisch gar nicht von seinen Erlebnissen hätte berichten können, ist mir bewusst, und er war mir am Ende egal, weil ich einfach lieber in der Ich-Perspektive erzähle :-) Mal schauen, wie ich das löse.

Gruß, Philipp

 

Hallo @fjordsurfer

Mir hat deine Geschichte gut gefallen, dein Schreibstil ist angenehm zu lesen.

Als einzige Anmerkung hätte ich vielleicht, dass du für meinen Geschmack etwas zu weit ausgeholt hast bei den (familiären) Umschreibungen. Das hat mich aus dem Lesefluss gezogen und ich habe mich ständig gefragt, wie es nun mit den Spiegel weitergeht. Immerhin ist er ja das Hauptthema :) Vielleicht könntest du ja den zeitlichen Ablauf etwas straffen, um so etwas mehr Spannung aufzubauen.

Liebe Grüße

Tea

 

Abend.

Ich habe die Geschichte noch nicht zu Ende gelesen, was ich aber noch vor habe. Das ist ein gutes Zeichen, denn das zeigt von meinem Interesse. Die Sprache finde ich sehr angenehm, ebenso die Beschreibungen. Es fällt mir leicht mir ein Bild zu machen im Kopf. Vielleicht schreibe ich noch etwas dazu, wenn ich durch bin.

Gruß
Becker

 

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