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Der Tag, an dem Kinder regierten

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29.03.2017
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Der Tag, an dem Kinder regierten

„Wenn es so weiter geht“, ruft die siebenjährige Hanna ins Mikrofon, „haben wir ein Problem.“
Von ihrem Podium aus sieht Hanna sie die vielen Kinder; Lollis, die gelutscht werden, Fahnen mit Figuren aus Trickfilmen, die geschwenkt werden, und jemand hat sogar ein Spielzeug-Traktor dabei. Plötzlich hupt es gewaltig. Laut wie ein echter Traktor! Dreimal nacheinander. Eine Handvoll Kinder fangen an zu weinen, und sie hören erst damit auf, als ihnen Lollis angeboten werden, worüber sie sich sogar freuen.
„Halloooo“, ruft Hanna ins Mikrofon, „seid ihr noch da?“
„AAAAAAOOOOOOUUUUUUUUU.“
„Seid ihr bereit?“
„AAAAAAOOOOOOUUUUUUUUU.“
„Wann geht es los?“
„JETZT GEHT ES LOS!“
„Wann geht es los?“
„JETZT GEHT ES LOS!“
„Wann?“
„JETZT!“
Die Kinder mischen sich untereinander, wie die Schafe auf der Weide. Hanna schlürft derweil an ihrer Capri-Sonne.

„Hanna, wo bist du?“, ruft Irene.
„Draussen im Zelt, Mama.“
„Kommst du, es gibt Essen.“
„Komme, Mama. Gib mir noch zwei Minuten, ich bin gleich fertig.“
Am Tisch gibt es, wie immer, einiges zu besprechen. Während Irene die Suppenteller herumreicht, berichtet sie kopfschüttelnd von ihrer Schule. Dann muss sie schmunzeln. Kaum hat Irene zu Ende gesprochen, ruft Till „Oh du meine Güte.“ Er fasst sich mit beiden Händen an den Kopf und wiederholt „Oh du meine Güte. Oh, du meine Güte.“ Till meint, dass sie noch nie so wenige Bücher verkauft haben wie diesen Sommer. Er schüttelt auch den Kopf, hat aber tiefe Falten auf der Stirn, zum Schmunzeln ist ihm aber nicht zumute. Aus Rücksicht vor Till (und weil sie Büchern den wohlverdienten Respekt erweisen wollen) bleibt die Familie ernst. Gerade Irene, die immer lustig ist, muss schauen, dass sie vor lauter Unterdrückung nicht losprusten muss. Sie hält sich beide Hände vor den Mund und tut so, als würde sie mit einem Zahnstocher spielen. Als Hanna schließlich von ihrem Tag erzählt, gibt sie sich frohmütig. Wie eine Visionärin, die von einer besseren Welt träumt. Plötzlich fängt das Baby an zu lachen, und fällt beinahe vom Stuhl. Irene kann nicht mehr, während Hanna Messer und Gabel in die Luft streckt und angestachelt von der Heiterkeit komisches Zeugs ruft. Sogar Till platzt, und verschluckt sich beinahe, wofür er sich mit wilden Handgesten auch gleich entschuldigt. Ein ganz normaler Tag bei den Fischers.

Endlich läutet die Pausenglocke. Hanna hält es an ihrem Platz nicht mehr aus. Sie ist natürlich die Erste im Versteck. Augenblicke später formt sich ein Kreis, in deren Mitte Hanna mit einem Zettel in der Hand steht. Als Hanna mit dem Finger schnippt, setzen sich die Kinder auf den Boden.
Während fünf Minuten lauschen die Kinder einem ruhigen und sachlichen Vortrag. Sie sind gebannt, als stünde die gesamte Paw-Patrow-Crew vor ihnen. Hanna bewegt sich kaum, vermittelt jedoch einen knallharten Eindruck - wäre eine Raupe auf ihrem Handrücken, sie würde ohne zu zögern zuschnappen und ostentativ darauf herumkauen, nur um zu zeigen, wie ernst sie es meint.
Gelegentlich geht ein Raunen um; die Kinder schauen sich dann gegenseitig an, nicken mit dem Kopf und wiederholen mehrmals „mhm, ja genau. Mhm, ja genau. Mhm, ja genau.“
Ob es Fragen gibt, möchte Hanna wissen. Da sich niemand meldet, verabschiedet sie alle mit einem „AAAAAAOOOOOOUUUUUUUUU.“
„AAAAAAOOOOOOUUUUUUUUU“, rufen die Kinder zurück.
Nachdem alle gegangen sind, tritt der schmächtige Jonas an sie heran. Er öffnet seinen Mund, und hat offensichtlich eine Frage.
„Eeeehm … Entschuldigung.“
Hanna hört ihn leer schlucken. Wie ein Wal, der mit geschlossenem Mund rülpst.
Hanna beugt sich zu ihm herunter, und schaut mit ihren Kulleraugen direkt in sein Gesicht. Da schluckt Jonas erneut. Hanna streichelt sanft seinen Kopf. Sagt aber nichts, schmunzelt nur freundlich.
„Ich … ich möchte das abgeben.“ Jonas streckt ihr einen zusammengefalteten Zettel hin. Er möchte sofort den Blick senken, ja, am liebsten so schnell es geht nach Hause rennen und erst anhalten, wenn er die Bettdecke über seinen Kopf gezogen hat. Doch er ist wie paralysiert. „Aber … aber …“ Jonas linkes Bein zappelt enorm. „Aber … aber nicht lesen. Erst, wenn du mich nicht mehr siehst. Ok?“
Jonas springt davon. Hanna sieht ein Strich auf zwei Stelzen davon humpeln.
Jonas ist noch in der ersten Klasse, also eine unter Hanna. Und dort sogar, findet Hanna, ist er mit Abstand der niedlichste Schüler, die Mädchen einbezogen. Daher überrascht sie, was auf dem Zettel geschrieben steht. Es passt eigentlich nicht zu Jonas. Und obwohl sich Hanna dadurch in die Enge getrieben fühlt, lobt sie seinen Mut. Sie wägt ab, und kommt zum Schluss, dass sie gerade noch damit umgehen kann. Sie findet sogar, in Jonas steckt ein Leader, und will ihn unter ihre Fittiche nehmen. Es ist dies das erste Mal in der Geschichte des Kinder-Bürger-Parlaments: Eine Stabsstelle wird eigens für die Herrscherin geschaffen.
Auf dem Dachgeschoss späht etwas aus dem Fenster. Es denkt sich: Dieser Anblick ist grotesk: ein Opfer und seine Gebieterin, eine Herrscherin, eine liebevolle Tyrannin.
Auf der Toilette zündet Hanna den Zettel mit einem Streichholz an, und hält es so lange mit zwei Fingern fest, bis das Feuer bedrohlich wird, und sie es in die Toilette fallen lässt. Anschließend begibt sie sich zurück in ihre Klasse, wo sie in mehr als zwanzig Gesichter blickt, die sogleich alle wegschauen, ehe Hanna durch die Türe marschiert. In ihrer Klasse hat sie nur drei Kinder für tauglich befunden. Die Auslese ist streng. Qualität ist ihr oberstes Gebot. Noch wichtiger als Gehorsam - auch eine amputierte Raupe wäre willkommen bei ihr - so lange sie macht, wovon Hanna denkt, dass es das richtige ist, ansonsten lautet das Credo: Man bleibt dem Club fern.

„Mein Schatzi, wie lief es denn heute in der Schule?“ Irene, die lustige, ist wieder gut aufgelegt.
Hanna steht vom Esstisch auf und macht die Superman Pose. Das sagt sie dann auch (dass sie Superman sei), woraufhin Till mit dem Finger mahnt und den Kopf leicht schräg hält, während er „Super Girl“ sagt. Dabei verzehrt er sein Gesicht zur Unendlichkeit.
„Ach du wieder - haha“, sagt Irene, während sie noch mehr Fleisch mit Soße auf ihren Teller klatscht, und Till dabei zusieht, wie ihm die Kinnlade runter klappt, wie ein rostiges und quietschendes Tor einer Burg. Er will böse schauen. Doch Irene schaut nicht hin.
„Die Bücher“, sagt Till, „man o Mann, keiner will mehr Bücher. Wieso will denn keiner mehr Bücher kaufen?“
„Mama, Mama, ich muss dir was sagen, Mama, bitte, darf ich etwas sagen?“ Hanna streckt beide Hände, und ihre Finger berühren beinahe die Decke.
„Aber selbstverständlich, mein Schatz“, sagt Irene.
Plötzlich macht das Baby ein lautes Geräusch, ähnlich wie das einer Sau, nur einmal und nur ganz kurz, doch laut genug, dass alle innehalten und zum Baby starren. Der Esstisch wird zu einem Platz der absoluten Stille. Dann fängt das Baby an, Grimassen zu schneiden. Zwischendurch kichert es. Das Tempo wird erhöht, und Grimassen und Kichern wechseln sich immer rascher ab. Grimasse-Kichern-Grimasse-Kichern-Grimasse-Kichern. Im Mittelpunkt zu sein, scheint dem Baby zu gefallen. Und ihre Grimassen werden immer heiterer. Nun steht wirklich bei allen der Mund offen. Was passiert hier gerade? Doch das Baby lässt sich nicht irritieren. Und ihr Kichern nimmt nochmals an Heftigkeit zu; ein intensives Baby, das nicht mehr aufhören kann, immer weiter macht, bis sie mit den Händen ihr Gesicht verdeckt, und ihre Familie mit der abscheulichsten Grimasse zu Tode erschreckt, dann ihre Backen aufbläst, und mit den Händen von beiden Seiten auf das Gesicht zudrückt, und Seifenblasen aus ihrem Mund strömen, abertausende, bis der Punkt kommt, wo alles wieder zur Normalität gelangt, Hanna und Irene zu lachen anfangen, zunächst verhalten, dann immer losgelöster. Alle haben Spass, außer Trübsal-Till.

Hanna ist um eine sachliche Ausdrucksform bemüht. Ihre Haltung will sagen: Ich bin nicht nur seriös, ich meine es auch so. Weil sie auf einem Podium hinter dem Rednerpult steht, sehen die anderen nur ihren Oberkörper. Was nichts zur Sache tut, denn sie bräuchten nicht mal hinzusehen, um zu erkennen, dass Hanna bebt; sie hören und spüren es, und riechen sogar den Staub vom Verputz der Wände, der bei ihrer Rede zu bröseln anfängt. Dabei sagt sie nicht mal etwas Elementares, nur, dass sie einen Assistenten hat. Und dass sie stolz auf sich sei. Die Superman Pose machend ruft sie „Ich bin die Beste, yeey, ich bin die Beste!“

Eine Woche später beschließt Hanna, Jonas zu sich nach Hause einzuladen. Sie will ihm etwas zeigen, und führt ihn in den Garten.
„Schau“, sagt sie, „das ist meine Arena. Und hier das Podium.“ Sie öffnet den Vorhang. „Und hier die Lautsprecher.“ Dann fängt ihr Gesicht an zu glühen, während sie wie eine Hexe lacht. „Und hier steht das Mikrofon. Mein Mikrofon. Siehst du die Figur?“ Hanna holt tief Luft und bauscht sich auf. „Jap. Jap. Jap. Ganz genau, das bin ich darauf. Und da hinten, schau mal, siehst du es?“ Nun zeigt sie auf den Monitor hinter der Bühne. Dann drückt sie auf einen Knopf, und Hanna, die Figur taucht auf dem Bildschirm auf - in Nahaufnahme! Der Kopf ist seltsam geformt, und die Hautfarbe stimmt überhaupt nicht. Als die Figur anfängt, sich zu bewegen, zuckt Jonas zusammen, und es scheint, als müsse er gleich weinen. Hanna hält ihn derweil am Handgelenk fest und grinst. Mit etwas Mühe schafft es Jonas, sich von ihrem Griff zu befreien. Während diesem kleinen Tumult hört man im Hintergrund die Figur, wie sie eine Rede hält, sie hat die Stimme von Hanna.
„Ich muss Pippi machen“, sagt Jonas.
„Ok“, sagt Hanna, „aber erst möchte dir noch etwas zeigen.“
„Ich muss dringend“, sagt Jonas.
Plötzlich steht Till vor ihnen, und Hanna trillert vor sich hin, während sie ihren Vater verstohlen von der Seite anschaut.
„Jonas, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist bleich wie Milch. Hanna! Warum ist Jonas bleich wie Milch?“
„Oh, was? Milch, mmh, gute Idee.“
Hanna rennt in Richtung Haus, und stürmt durch die Türe.

Jonas macht es inzwischen ganz recht. Das sagt Hanna ihm auch, während sie ihm brutal auf die Schulter klopft. In der Nacht muss Jonas deswegen zum Notfall. Er bekommt eine Schlinge. Den anderen erzählt er, er sei beim Skateboard-fahren umgefallen.

Als Hanna schläft, schauen sich Till und Irene einen Film an: die Truman Show. Beide sitzen in ihrem Sessel, dazwischen stehen zwei kleine Tische, jedem der seine. Till beschleicht ein seltsames Gefühl. Während er Popcorn aus der Schüssel nimmt, schaut er vorsichtig zu Irene rüber, bewegt kaum seinen Kopf, neigt ihn nur einen knappen Millimeter und schielt so stark wie möglich. Allmählich erblickt er ihr Profil. Dann endlich, vom Licht der Leinwand geblendet, sieht er sie, scharf und deutlich. Als Irene sich zu ihm dreht, zuckt er zusammen.
„Was ist?“, fragt Irene.
„Nichts. Nichts. Nichts. Gar nichts.“
„Warum dann dieser irre Blick?“
„Ohh, ja, Augentraining.“
„Bitte?“
„Mein Optiker meinte, ich solle Augentraining machen, damit meine Augen nicht schlechter werden.“
„Seit wann gehst du zum Optiker?“
Gerade als Till etwas sagen wollte, dröhnte Jim Carrey’s Stimme aus dem Heimkino „HAHAHAHA“. Und Irene steigt ein, „HAHAHAHA“. Aus ihr platzt es so richtig heraus. „HAHAHAHA“. Till hält ihren Blick nicht stand und schaut zur Leinwand, wo er einen grinsenden Jim Carrey in Nahaufnahme auf seine Augen projiziert bekommt. „HAAAAA-HAAAAA-HAAAAA“.
Till schleppt sich nach oben, um sich schlafen zu legen, auf der Treppe hört er noch immer das Gelächter der beiden. Ihm wird schwindelig, und er fühlt sich an seine Schulzeit zurückversetzt. Manchmal hat er die Luft angehalten, in der Hoffnung, er falle tot um. Umgefallen war es zwar schon öfter, allerdings wegen seines Blutdruckes. Für einen kurzen Augenblick denkt er, er müsse rückwärts die Treppe hinunterstürzen. Doch er schafft es gerade noch, oben anzukommen.

Die Nacht ist grausam. Fürchterlich. Teuflisch. Till ist ein armes Kerlchen. Man kann es nicht anders sagen. Das geht schon länger so, und es sieht nicht nach Besserung aus. Till weiß das ganz genau. Er muss nur ein Buch aufschlagen. Hoffentlich kann ihm der Optiker helfen.
„Nun, hören sie, wie soll ich’s ausdrücken … nun, es ist so, wissen sie, wie alt sind sie noch einmal, vierzig, gut, gut, vierzig ist halt nicht mehr zwanzig, hören sie, was ich sagen will, am besten buchen sie einen Termin bei meinem Kollegen, er ist Spezialist. Ja, ich würde diesen Termin buchen. Wie? Nein, warten sie nicht zu lange. Was sie haben? Nun … ich weiß es nicht. Ja, in Ordnung, dann sage ihnen, was ich denke, also, wenn sie mich fragen, ich vermute eine schwere Form von Mikrophthalmie. Oder eine altersbedingte Makuladegeneration.“
Der Arzt greift zu Stift und Papier, schreibt ein paar Sachen auf, und streckt Till den Zettel entgegen. Dann steht er unvermittelt auf, und verabschiedet seinen Patienten, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Als Till wieder auf der Straße ist, muss er sich erst mal setzen, und sich sammeln. Ein paar Minuten später, nachdem das Schwindelgefühl verschwunden ist, ballt er seine Hände zu Fäusten und will schreien, doch davon wird ihm nun übel. Till schwankt wie ein Betrunkener. Er setzt sich erneut hin. Nach ein paar Atemübungen kann er wieder gerade laufen. Till findet es nicht richtig, dass der Arzt eine ganze A4-Seite für die Nummer seines Kollegen genutzt hat. Er empfindet es als Hohn und Spott. Till überlegt, ihn zu verklagen. Ha! Gute Idee! Er möchte schon die Nummer eines Freundes in sein Telefon tippen, der sich auf neuartige Probleme im 21. Jhd. spezialisiert hat, als ihm erneut schwindelig wird, und er sich abermals hinsetzen muss.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite späht etwas aus dem Fenster. Es denkt sich: dieser arme Kerl, ein Opfer und ein Täter, ein melancholisches und selbst bemitleidendes Geschöpf, ein Machtbesessener, ein liebevoller Tyrann.
Till nimmt sich den Tag frei. Der Chefin sagt er, dass er Kopfschmerzen habe.

Zum Nachtessen gibt es Brokkoli-Auflauf, das mag Till, und in seinem Kopf herrscht kurze Zeit Frieden. Doch als er mitansehen muss, wie das Fett der Bratwürste auf seinen Teller spritzt, weil diese aus zwei Meter Höhe auf Hannas und Irenes Teller serviert werden, vergeht ihm nicht nur der Appetit, sondern kehren blitzartig seine Kopfschmerzen zurück. Till versucht Irenes Blick zu erwidern, doch sie scheint nicht daran interessiert zu sein. Till verkrampft sich.
Derweil setzt sich Hanna an den Tisch. Und sie legt gleich eine Bombe. Von ihrem verschmitzten Lächeln ist nicht mehr viel übrig geblieben. Stattdessen hat sie Gabel und Messer im Griff, und drückt kräftig zu. Jonas ist der Erfolg zu Kopf gestiegen, erzählt sie. Und überhaupt, Jonas brauche gar nicht zu meinen, er ist nämlich jünger als sie, und unerfahrener, dieser Bengel. Undankbares Frettchen. Hanna bekommt ein knallrotes Gesicht. Doch das Besteck aus Metall kann nicht zerdrückt werden.
Till ist längst woanders, schwebt zwischen Erde und Mond. Ihm wird wieder schwindelig, vielleicht wegen des Sauerstoffmangels. Er überlegt: Hat das Haus ein Leck? Gibt es noch alte Schadstoffe; Schimmel, Asbest? Sollte ich auch zum Lungenspezialisten gehen? Werde ich bald sterben?
„HÖRT MIR EIGENTLICH JEMAND ZU?!“
Die Stühle von Hanna, Till und auch dem Baby stehen kurz auf zwei Beinen, die Haare sind streng nach hinten gekämmt, und die Gesichter sind komisch verformt. Als fegte gerade ein Orkan über sie hinweg.

Till wälzt sich hin und her, möchte einfach nur schlafen. Er holt sich einen nassen Lumpen aus dem Badezimmer, und legt es auf seine Stirn, in der Hoffnung, dass er bald Frieden findet. Und obwohl die gigantischen Kopfschmerzen sogar noch stärker werden, kommt eine Tablette nicht infrage - aus Gründen der Überzeugung. Till zieht sich die Bettdecke über den Kopf, drückt den Lumpen fest auf seine Stirn, und wispert etwas vor sich hin. Der verstörende Ton jagt ihm fürchterliche Angst ein. Doch verstehen tut er so gut wie nichts. Und so wie er dies realisiert, überkommt ihn plötzlich eine schauernde Erkenntnis. Hastig reißt Till die Bettdecke von seinem Kopf und starrt ins Dunkel. Irene hat recht - ich bin Irre.

Derweil, ein Stockwerk weiter unten: Hanna ist noch immer mit Jonas beschäftigt. Seine Attitüden gefallen ihr ganz und gar nicht. Mit einem grimmigen Gesicht verspricht sie ihrer Mutter, ihm gefälligst den Marsch zu blasen. Dann entsteht eine Pause. Und ehe Hanna weiter sprechen kann, neigt Irene den Kopf zur Seite und schaut mit zugekniffenen Augen ihre Tochter an.
„Den Marsch blasen“, sagt sie mit kritischem Ton, „weißt du, was das bedeutet?“
Die Spannung hält für ein paar Sekunden an, löst sich dann aber, als Irene ein sanftes Lächeln aufsetzt. Nun muss Hanna verlegen schmunzeln. Doch Irene hakt nach.
„Und, weißt du, was es bedeutet?“
„Es heißt, zu sagen, was man will.“
Pause. Und wieder Spannung. Diesmal kippt Irene beinahe vom Stuhl, so weit neigt sie ihren Kopf zur Seite.
„Oder?“, fragt Hanna, wieder verunsichert.
Irene beugt sich nun zu Hanna und flüstert „Und es durchsetzen, was man will.“
Entspannt essen sie ihre Rösti, Bratwurst und die viel zu vielen Zwiebeln zu Ende.

Wieder einmal hat dieser Schlappschwanz nicht im Ehebett geschlafen. Wieder einmal musste sie es sich selbst besorgen. Wieder einmal könnte Irene Till auf den Mond schießen. Diese Weich-Eier-Haltung - zum Kotzen. Da gibt es nichts, aber auch gar nichts zum Abwägen. Till ist ein Weichei. Sie überlegt, sich einen Hammer zu holen, um die Wohnung kaputtzuschlagen, zur Beruhigung. Oder noch besser, gleich auf ihn losstürmen, und der Sache ein Ende bereiten.
Mit gefletschten Zähnen schaut Irene in den Spiegel. Ihr gefällt der Anblick eines wild gewordenen Hundes. Dann spuckt sie Blut ins Spülbecken. Als sie dann ihr Gesicht genauer betrachtet, findet sie vom blonden Flaum, zu den leicht-Busch-artigen-Augenbrauen, bis hin zur unreinen Haut alle gängigen Vorstellungen eines traditionellen Mannes. Sozusagen Männlichkeit in reinform. Auch das gefällt ihr. Irene überlegt sogar, sich zu rasieren, um ein Ausrufezeichen zu setzen, lässt es dann aber doch sein.
Stattdessen schlurft sie am Arsch kratzend zum Kühlschrank, öffnet eine Flasche Bier und setzt sich auf die Couch, stellt den Fernseher an, und schläft bald ein, denn es ist Dienstag, halb zehn Uhr morgens.

 

„AAAAAAOOOOOOUUUUUUUUU.“

Wie soll das ausgesprochen werden,

verehrte/r @slei,

ein schlichtes „au“ kann’s ja nicht sein, wiewohl das nach dem ersten (und zugegeben, einzigen Mal) Lesen mein erster Gedanke war und ich überzeugt bin, dass da ein halbwegs kinderloser, erwachsener Mensch einen Alphabetisierungsversuch startet und die zu Anfang genannte siebenjährige Hanna ein kluges Mädchen ist

„Wenn es so weiter geht“, ruft die siebenjährige Hanna ins Mikrofon, „haben wir ein Problem.“
denn die drei ersten Zeilen offenbaren ein durchgängiges Problem, da kämpfen der Name und das Pronomen
Von ihrem Podium aus sieht Hanna sie die vielen Kinder;
wer denn da verwendet werden soll und der Traktor fällt in die Fälle-Falle, wenn statt des „einen“
..., und jemand hat sogar ein Spielzeug-Traktor dabei.
genannt wird und Ein- und Mehrzahl lustig durcheinander purzeln
Eine Handvoll Kinder fangen an zu weinen, und sie hören erst damit auf, als ihnen Lollis angeboten werden, worüber sie sich sogar freuen.

Hier werden sie nun den Schafen gleichgesetzt
Die Kinder mischen sich untereinander, wie die Schafe auf der Weide.
wobei ich mich nach dem Grund der Kommasetzung frage ...

Und als ein Betrug versucht wird

„Hanna, wo bist du?“, ruft Irene.
„Draussen im Zelt, Mama.“
hab ich den Papp auf, denn Du hast weder eine angloamerikanische noch Schweizer Tastatur, der Beleg ist nu wenige Zeilen weiter unten zu finden, wenn es heißt

Als Hanna schließlich von ihrem Tag erzählt, gibt sie sich frohmütig.

Das gesprochene Wort ist gnädig, wenn es zum einen Ohr herein und zum andern wieder hinaus fliegt. Die Schriftform ist gnadenlos,

und dennoch herzlich willkommen hierorts!,

Friedel

 

@Friedrichard

Hallo Friedel,

herzlichen Dank.

Offensichtlich bin ich trotz meiner 35 Jahre ein Newbie in diesem Forum.
Ich habe also noch nicht viele Kommentare gelesen, gegeben und bekommen.
Deine aber hat mich fasziniert.
Zwar kurz, aber inspirierend in der Art und Weise.

Samuel

 

Woll'n ma' nich' übatreiben,

lieber @slei / Samuel,

bin der Auffassung, was ich kann, kann jeder.
Bissken Konzentration und
Deinen Komm. noch mal durchgesehen -
und Du weißt, wa ich mein ...

Wird schon werden, behaupt' ich mal!

Bis bald,

Friedel

 

Moin @slei!

Deine Geschichte lässt mich ehrlich gesagt mit einigen Fragezeichen zurück ...

Ich finde die Grundthemen (Mädchen, dass die Anführerin einer "Kindersekte" ist, der in den Wahn abdriftende Ehemann mit dem Verhältnis zu seiner Frau) eigentlich sehr interessant. Aber wohin du den Leser dann leitest, fand ich an etlichen Stellen irritierend.
Mal der Reihe nach, angefangen bei den Formulierungen:
Vieles, was du schreibst, macht von der Logik her wenig Sinn oder passt zumindest nicht so recht zum Kontext, wie diese Beispiele hier:

Eine Handvoll Kinder fangen an zu weinen, und sie hören erst damit auf, als ihnen Lollis angeboten werden, worüber sie sich sogar freuen.
Das Wort passt nicht gut. Ich weiß, was du damit sagen willst, nämlich dass die Kiddies trotz des Schreckens wieder gute Laune haben, aber es klingt fast so, als würden sie sich üblicherweise nicht freuen, einen Lolli zu bekommen. Du verstehst?


Er schüttelt auch den Kopf, hat aber tiefe Falten auf der Stirn, zum Schmunzeln ist ihm aber nicht zumute.
Was soll das "aber"? Ihm ist nicht zu schmunzeln zu mute, ganz einfach, ohne wenn und "aber" ;)

Hanna hört ihn leer schlucken. Wie ein Wal, der mit geschlossenem Mund rülpst.
...oder wie ein Mensch, der mit geschlossenem Mund rülpst? Verstehe nicht ganz, wieso du hier einen Wal zum Vergleich an Land ziehen musst.

Und obwohl sich Hanna dadurch in die Enge getrieben fühlt, lobt sie seinen Mut.
Klingt so, als sei Jonas dabei anwesend, aber sie denkt das ja nur in seiner Abwesenheit.

Noch wichtiger als Gehorsam - auch eine amputierte Raupe wäre willkommen bei ihr
Wie der Wal passt hier eine Raupe m.E. nicht so ganz in den Kontext, weder zur Szene, noch zu einer Amputation.

Beide sitzen in ihrem Sessel, dazwischen stehen zwei kleine Tische, jedem der seine.
Finde die Formulierung umständlich und gestelzt, lieber sowas wie "jeder hat einen kleinen Tisch neben sich stehen". Und "seine" an der Stelle m.E. groß geschrieben.

Und sie legt gleich eine Bombe.
Hier auch nicht ganz passend, finde ich. Wenn, dann würde ich lieber "sie ließ die Bombe platzen" schreiben.

Die Stühle von Hanna, Till und auch dem Baby stehen kurz auf zwei Beinen, die Haare sind streng nach hinten gekämmt, und die Gesichter sind komisch verformt. Als fegte gerade ein Orkan über sie hinweg.
"Gekämmt" klingt sehr akkurat, da denkt man nicht an das Chaos, das ein Orkan verbreitet.

Hanna ist noch immer mit Jonas beschäftigt.
Klingt auch wieder, als sei Jonas anwesend, aber sie beschäftigt sich ja nur im Geiste mit ihm, oder hab ich das falsch verstanden?

Nun zeigt sie auf den Monitor hinter der Bühne. Dann drückt sie auf einen Knopf, und Hanna, die Figur taucht auf dem Bildschirm auf - in Nahaufnahme!
Das mit der Figur habe ich so gar nicht kapiert: Hat sie eine Puppe von sich? Oder nur ein Bild? Wenn ja, warum?? Wo hat sie die her, was will sie damit anstellen?? :drool: Wär gut, wenn du das genauer ausführend würdest!

Jonas macht es inzwischen ganz recht. Das sagt Hanna ihm auch, während sie ihm brutal auf die Schulter klopft. In der Nacht muss Jonas deswegen zum Notfall. Er bekommt eine Schlinge. Den anderen erzählt er, er sei beim Skateboard-fahren umgefallen.
In dem Abschnitt reihen sich gleich mehrere Ungereimtheiten aneinander:
Den ersten Satz finde ich komisch formuliert, ich kenne nur "jemandem etwas recht machen" oder "etwas zufriedenstellend machen", je nachdem, was du ausdrücken willst.
Dann haut sie ihm auf die Schulter, dass er zum "Notfall" ("in die Notaufnahme"?) muss? Also eine Siebenjährige (!) klopft einem anderen Kind anerkennend auf die Schulter, langt dabei aber versehentlich so heftig zu als wäre sie Klitschko?? Welchen Sinn ergibt das? :eek:
Und "umgefallen" klingt arg harmlos. Lieber "gestürzt".

Dann endlich, vom Licht der Leinwand geblendet
Haben die Eltern wirklich ein Heimkino mit Leinwand und Projektor? (Gibt es ja...) Oder meintest du den Fernsehbildschirm?

Dann spuckt sie Blut ins Spülbecken.
??? Wieso spuckt sie einfach so Blut ??? Hab ich was verpasst?? Und sie steht vor einem Spiegel, hat unter sich aber ein Spülbecken. Spiegel assoziiere ich mit dem Badezimmer, ein Spülbecken aber mit der Küche. Oder meintest du "Waschbecken"?

Stattdessen schlurft sie am Arsch kratzend zum Kühlschrank, öffnet eine Flasche Bier und setzt sich auf die Couch, stellt den Fernseher an, und schläft bald ein, denn es ist Dienstag, halb zehn Uhr morgens.
Sie arbeitet doch in irgendeiner Schule, oder sind Ferien?

Dann hast du viele Passagen drin, wo man zwar versteht, was du meinst, aber die wie ich finde sehr gestelzt formuliert sind, z.B. fast überall, wo mehrere Menschen als Gruppe interagieren, wie bei den Tischszenen. Da erzählst du im Detail, wie welcher Charakter was in welcher Reihenfolge macht. Das wirkt aber mechanisch und sehr drehbuchhaft, obwohl du da sicher einen organischen Flow einbauen wolltest. Würde da zumindest ein paar Sätze straffen (z.B. wo das Baby rumblödelt).
Ähnliches ist mir auch bei den Szenen im Kinderparlament (oder was das sein soll) aufgefallen. Oft hatte ich da auch den Eindruck, dass sich die Kinder mehr wie Erwachsene als wie Grundschüler benehmen, hier z.B.:

Während fünf Minuten lauschen die Kinder einem ruhigen und sachlichen Vortrag.
Gelegentlich geht ein Raunen um; die Kinder schauen sich dann gegenseitig an, nicken mit dem Kopf und wiederholen mehrmals „mhm, ja genau. Mhm, ja genau. Mhm, ja genau.“

Und dann beschreibst du ganz oft die Bewegungen und Gesten der Charaktere, die die Szene wohl authentischer wirken lassen sollen, aber stattdessen fast schon komödiantisch übertrieben sind:
Jonas linkes Bein zappelt enorm.
Er ist nervös, er hat keinen epileptischen Anfall...
ein intensives Baby, das nicht mehr aufhören kann, immer weiter macht, bis sie mit den Händen ihr Gesicht verdeckt, und ihre Familie mit der abscheulichsten Grimasse zu Tode erschreckt, dann ihre Backen aufbläst, und mit den Händen von beiden Seiten auf das Gesicht zudrückt, und Seifenblasen aus ihrem Mund strömen, abertausende
Was nichts zur Sache tut, denn sie bräuchten nicht mal hinzusehen, um zu erkennen, dass Hanna bebt;
Dann fängt ihr Gesicht an zu glühen, während sie wie eine Hexe lacht.
Diesmal kippt Irene beinahe vom Stuhl, so weit neigt sie ihren Kopf zur Seite.

Wolltest du mit diesen Übertreibungen Komik erzeugen, oder bist du nur versehentlich übers Ziel hinausgeschossen? So oder so finde ich das unpassend bis störend, ich würde da überall weniger intensive Worte wählen.

Ansonsten sind da ein paar Stellen drin, die ich auch beim zweiten Lesen nicht nachvollziehen konnte, angefangen beim Titel:
Die Kinder regieren doch nicht, da regiert nur ein Mädchen über ein paar andere Kinder?
Wo sich bei mir die Frage stellt: Was ist das für ein "Parlament", oder wie du es nennst? Ist das ein aus dem Ruder gelaufenes Schulprojekt ("Die Welle" lässt grüßen)? Was haben sie vor? Dann schaut an zwei Stellen jemand (oder "etwas") vom Dachgeschoss auf die Szene herab und denkt sich seinen Teil. Erst dachte ich, dass das vielleicht Irene ist, die die anderen heimlich ausspäht (warum auch immer), aber verstehen tu ich es nicht. Dabei hast du glaube ich ein interessantes Grundkonzept gehabt. Wie gesagt, die Stichpunkte deiner Handlung finde ich spannend, nur konnte ich die Fäden am Ende so gar nicht zusammenführen, sorry!
Wenn du die Story an den fraglichen Stellen zurechtschleifst, könnte da aber bestimmt was Spannendes dabei rumkommen :-)

VG
MD

 

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