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Der Tempel des Salamanders
Lange bevor die Menschen in Städten lebten, bewohnten Drachen in einer fernen Wüste die Schluchten und Höhlen des Feuergebirges, das an der Küste eines Meeres im Westen steil aufragte und im Osten seinen letzten Ausläufer wie einen Fuß in ein anderes Meer setzte. Viele Nomaden zogen am Feuergebirge vorbei. Sie spürten die Hitze des Drachenatems und das Beben der Erde, wenn sich Lindwürmer durch ihre Stollen wanden.
Bei ihren Wanderungen entdeckten die Menschen aber auch einen Fluss, der in den Bergen entsprang. Die Drachen taten den Menschen kein Leid an, so ließen sich die Menschen am Flussufer nieder und errichteten Hütten aus Rohrgeflecht.
Jahrhunderte verstrichen. Die Menschen sahen einzig die Silhouetten der Drachen über den Gipfeln der Berge, bis sich an einem kühlen Morgen ein kräftiger Wind in einem der Dörfer erhob. Die bemalten Keramiken in den Lehmhäusern erzitterten, doch keiner der Dorfbewohner erwachte. Der Wind wurde heftiger. Klirrend stießen die Werkzeuge aus Kupfer aneinander. Davon geweckt öffneten manche Bewohner ihre Augen. Schlaftrunken blickten sie ins Zwielicht, das plötzlich von auflodernden Flammen erhellt wurde. Aus Furcht um ihr Getreide stürzten die Bauern nach draußen. Die Kultstätte für ihren Gott brannte. Aber keiner dachte daran, zum Fluss zu laufen, um Wasser zu holen, denn sie alle starrten ehrfürchtig auf ein fremdes Wesen, das mitten im Feuer saß. Im züngelnden Schein lag ein winziges Tier mit grün schimmernder Haut strampelnd auf seinem Rücken. Es öffnete und schloss seinen Schnabel. Dabei quietschte es und streckte seinen langen Hals gen Himmel.
Der Drache war erst geschlüpft, aber seine verklebten blauen Augen waren weitaus schärfer als die eines jeden Menschen. Er blickte den Schwingen seiner Mutter hinterher, deren blaue Schuppen sich kaum vom Himmel unterschieden. Als er sie nicht mehr sah, versuchte er angestrengt auf seine Hinterbeine zu kommen. Nach langem hilflosen Kreischen in die verdutzten Gesichter der Menschen, stützte sich das Drachenjunge mit den Flügelansätzen auf seinem Rücken ab und erhob sich. Auf wackligen Beinen stand er nun vor den Bauern, die sofort auf die Knie gingen. Für sie war der Drache ihr Gott, der aus dem Feuer geboren worden war.
Zuerst betete nur dieses Dorf zu dem Kleinen, der den Namen Surris erhielt. Dann reisten immer mehr Menschen an. Schließlich wurde um den Drachen eine der ersten Städte gebaut. Die Stadt vergrößerte sich Bezirk um Bezirk, während Surris in seinem Palast kaum zu wachsen schien. Er kannte bereits alle Sprachen und das Wissen der Menschen, als er nach seiner ersten Häutung gerade so groß war wie ein erwachsener Mann. Tausende pilgerten zu ihm und baten ihn um Rat. Er half ihnen allen. Gleichzeitig musste er ständig an das Feuergebirge denken, von dem ihm so oft erzählt wurde. Es zog ihn zu seinem Volk, aber er wusste nicht, wie er zu ihnen gelangen sollte.
Es folgte eine Häutung nach der anderen, bis Surris fast zu gewaltig war für das Gotteshaus. Die Spitzen seines Rückenkammes bohrten sich in die Wände des Palastes und seine Krallen hatten den Steinboden ruiniert. Seit er Feuer spucken konnte, näherte sich ihm keiner seiner Anhänger mehr.
Lange lebte er alleine, bis ihm nach einer weiteren Häutung Flügel wuchsen. Als Surris seine neu gewonnenen Schwingen ausbreitete, brachen die Wände um ihn zusammen. Die Menschen auf den Straßen beobachteten, wie er in den Wolken verschwand. Von da an hielt sich unter ihnen der Glaube, Surris sei in den Himmel aufgefahren, damit er das Geschick aller Menschen leiten könne.
In Wahrheit strebte Surris den Ort an, dem er entstammte. Mit seinen scharfen Augen erblickte er sein Volk aus der Ferne. Lindwürmer krochen über die schroffen Felsen des Gipfels. Flugdrachen kreisten um den höchsten Berg. Es dauerte, bis Surris unter ihnen seine Mutter fand – ihre Haut starrte vor Schmutz und ihr Leib war von Moos überzogen.
Sie schaute auf und zeigte keinerlei Gefühlsregung angesichts ihres heimgekehrten Sohnes. Ihren leeren Blick richtete sie zur Bergspitze. Sie redete leise vor sich hin. Sie sprach aber nicht mit Surris. Es war so als würde sie die Worte wie im Schlaf murmeln:
„Wir warten auf den Ruf unseres Schöpfers. Der Salamander lebt dort in seinem Tempel. Er hat uns nach seinem Abbild erschaffen. Wenn er uns für würdig hält, wird er uns zu sich holen – an einen Ort, wo goldene Flammen lodern. In dem Feuer werden wir all die Schönheit der Welt, all die Landschaften und Kunstwerke auf einmal erblicken. Der Salamander wird uns verwandeln. Dann vermögen auch wir aus einem einfachen Funken Leben zu schaffen, wie er es kann.“
Sie drehte immer die gleiche Runde um den Berg. Die anderen Drachen machten es genauso. Surris hatte viele Fragen. Er konnte kaum darauf hoffen, dass ihm irgendjemand zuhörte. Das Gemurmel seiner Mutter klärte ihn wenigstens darüber auf, warum er bei den Menschen aufwachsen musste:
„Drachen sind unsterblich. Wir sind zu viele, um überhaupt Platz in dem Tempel zu finden. Unsere Ältesten haben erlassen, dass keine weiteren Kinder mehr gezeugt werden sollen. Wird ein Ei gefunden, zerschellt es auf Stein. Nur wenige wurden von Eltern weggebracht, weil sie es nicht übers Herz bringen konnten, ihre Nachkommen zu töten ... Nichtsdestotrotz dient alles einem höheren Zweck. Bald werden wir würdig sein ...“
Surris wollte nicht darauf warten, er wurde doch selbst von den Menschen als Gott verehrt. Daher erachtete er sich als erhaben genug, den Salamander zu treffen. Mit einem kräftigen Flügelschlag stieg er hoch zum Eingang des Tempels – einer Felsspalte – und glitt hindurch. Diese Blasphemie erweckte die Drachen aus ihrer Umnachtung. Brüllend folgten sie Surris, der sich in der nahezu leeren Höhle umsah. Unter Surris Krallen knisterte es. Vor ihm lag eine riesige gefleckte Haut. Die Höhlenwände vibrierten von der herannahenden Drachenhorde. Surris packte die Haut mit seinen Krallen so fest, dass sie zerbröselte wie eine ausgetrocknete Blume. Nun drangen die ersten Drachen in die Höhle. Sie fauchten und rissen ihre Fänge auf, als wollten sie Feuer speien. Bestürzt vom Anblick des kahlen Tempels kam nur Rauch aus ihren Nasenlöchern.
Surris wartete, bis die Höhle voller Drachen war, die verzweifelt heulten und schrieen. Dann breitete er seine Flügel aus und schwebte nach oben. Es wurde still. Die Drachen hatten Jahrhunderte auf eine Predigt gewartet, auf Worte, nach denen sie sich richten konnten. Surris gab ihnen diese Worte und, da die Drachen so begierig danach waren, sprach sich keiner dagegen aus.
„Das ist übrig von eurem Gott. Eine Haut, aus der er herausgewachsen ist. Er ist aufgestiegen zu einer anderen Existenz, vermutlich vor Jahrhunderten. Was habt ihr in dieser Zeit gemacht? Nur eines: Eure Kinder getötet! Ich bin das eine Kind, das überlebt hat. Ich habe bei den Menschen gelebt. Ich habe gelernt. Mit der Zeit bin ich nicht nur körperlich, sondern auch geistig gewachsen. Ich sage euch: Wenn wir uns nicht ändern, wenn wir diesen Ort nicht verlassen, werden wir nie zu höheren Wesen werden.“
So zogen die Drachen weg von ihrem Gebirge und verteilten sich auf der ganzen Welt.
Die Menschen der Gegenwart glauben nun, dass die Drachen, wenn auch unsterblich, auf ewig verschwunden sind. Doch die Menschen irren sich. Die alten Drachen hat seit langem keiner mehr gesehen, da sie unter der Erde leben. Wo der Boden aufbricht und Lava herausströmt, befindet sich ihre Heimstatt. Dort zeugen sie auch ihre Kinder, welche uns jeden Tag begegnen. Es sind Schlangen im Gras, Krokodile in Flüssen und Eidechsen, die aus Erdlöchern hervor kriechen.
Sie alle sammeln ihre Erfahrungen. Manche von ihnen sterben in der feindlichen Umgebung, wenn sie noch jung sind. Doch die meisten kehren immer wieder zu ihren Eltern zurück, um sie über das Leben an der Oberfläche zu belehren und so selbst an Weisheit zu gewinnen.
Dabei wachsen sie. Bald, wenn der Unterricht sein Ende hat, wird die Eidechse, die gestern noch auf einem Stein in der Sommerhitze gehockt ist, vor unser aller Augen als Achtung gebietender Drache am Himmel fliegen. Ob wir vor ihm flüchten müssen oder ihn freundlich empfangen können, hängt ganz davon ab, was er aus dem Verhalten der Menschen gelernt hat.