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Der Todesengel
Mein Name ist Jonah. Ich bin ein Engel. Ein Todesengel. Nein, nein, werden jetzt viele sagen, Engel und Tod, das passt nicht. Dämonen und Tod, ja, aber keine Engel. Engel bringen keinen Tod. Das ist richtig. Und gleichzeitig falsch. Richtig ist, ich bin ein Todesengel, falsch ist, ich bringe den Tod nicht. Ich bin bei den Menschen wenn sie sterben und manchmal – wenn sie wissen, dass sie sterben werden – begleite ich sie auf ihrem Wege zum Tod.
Ich bin ein Todesengel, der Engel, der Menschen begleitet wenn sie sterben.
Lassen mich Sie mich das an einem Beispiel erklären. Nehmen wir den kleinen Julian. Er war sechs Jahre alt, im Sommer in die Schule gekommen. Alle waren sich sicher, er hatte das Leben noch vor sich. Das änderte sich als Julian an einem sonnigen Wochenende schwimmen ging. Seine neue rote Badehose tragend lief er ins Wasser, bereit mit seinen Freunden um die Wette zu toben. Seine Eltern waren beide am Ufer, sahen ihrem einzigen Kind zu, wie es mit den Freunden das Wasser spritzte, Bälle warf und einfach Kind war. Alles war in Ordnung, alles was wunderbar. Bis sie plötzlich seine rote Badehose nicht mehr sahen. Dafür trieb abseits der Kinder ein blonder Wuschelkopf im Wasser. Leblos. Rettungsschwimmer eilten herbei, zogen den leblosen Körper aus dem Wasser, begannen mit den Maßnahmen zur Wiederbelebung.
An dieser Stelle trat ich in Erscheinung. Julian hatte seinen Körper noch nicht ganz verlassen, Teile von ihm hielten an ihm fest. Ich setzte mich neben ihn während er mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht wurde. Seine Eltern, die Sanitäter und ich. Ich war der Einzige, der zu ihm durch drang.
„Ich habe Angst“, sagte er mir.
„Du musst keine Angst haben, ich bin bei dir. Ich passe auf dich auf.“
„Bist du ein Engel?“
„Ja.“
„Wieso hast du keine Flügel?“
„Es gibt viele Sorten von Engel, manche haben Flügel, manche haben keine.“
„Was für ein Engel bist du?“
„Ich bin ein Todesengel.“
„Beschützt du mich wenn ich sterbe?“ Kinder stellen einfacher Fragen. Und sie zweifeln nicht an Dingen, die Erwachsenen unlogisch erscheinen.
„Ich werde dich begleiten damit du nicht alleine bist. Du musst nicht beschützt werden, es wird dir nichts passieren.“
„Mama und Papa weinen. Es muss etwas passiert sein. Es ist nicht gut wenn man stirbt. Es macht sie traurig, sie weinen.“
„Es ist für Menschen nicht leicht zu akzeptieren, dass Menschen, die sie lieben, sterben. Man kann sich schwer von etwas lösen, das einen wichtig ist, das man liebt.“
„Haben Mama und Papa auch einen Engel, der sich um sie kümmert? Der sie tröstet?“
„Ja, den haben sie.“
„Wieso weinen sie dann?“
„Sie hören ihn nicht. Sie sind zu traurig. Man braucht eine Weile bis man die Stimme seines Engels hört. Sie werden eine lange Zeit weinen, sie werden lange traurig sein. Dann werden sie beginnen auf ihren Engel zu hören und der Schmerz wird nachlassen.“
„Wieso müssen Menschen sterben?“
„Alles Leben stirbt. Wenn niemand sterben würde, dann wäre die Welt voller Lebewesen. Alles wäre alt. Menschen sterben, neue Menschen werden geboren. Nichts ist für die Ewigkeit.“
„Wieso nicht?“
„Wenn alles beim Alten bleiben würde, würde es nichts Neues geben. Deine Eltern hätten dich niemals bekommen, ihre Eltern niemals sie. Wir können nur neue Leben auf der Erde begrüßen, wenn wir alte Leben ziehen lassen.“
„Es ist wie mit den Spielsachen. Man muss seine alten Sachen weggeben um neue zu bekommen.“
„Genau so ist es.“ Und ich musste lächeln, denn Kinder verstehen. Es ist seltsam, Erwachsene reden mit Kindern nicht über Themen wie sterben, da sie denken, es belastet Kinder und sie können es nicht verstehen. Die Wahrheit ist, Kinder verstehen sehr gut. Sie verstehen besser als Erwachsene. Sie haben einfache Beispiele für schwierige Dinge.
„Ich habe einen Teddy, den habe ich seit meiner Geburt. Den will ich niemals hergeben. Ich möchte keinen neuen Teddy haben.“
„Ich verstehe was du meinst. Dein Lieblingsspielzeug. Eines Tages hättest du dich von diesem Teddy gelöst. Du hättest ihn vielleicht in einen Schrank getan, hättest ihn ab und zu angesehen, aber du hättest ihn durch etwas anderes ersetzt.“
„Werden meine Eltern mich ersetzen?“
„Nein, sie werden dich nicht ersetzen. Man kann niemand ersetzten. Sie werden dich immer lieben, so wie du den Teddy geliebt hättest. Doch sie werden lernen wieder glücklich zu sein. Sie werden ihre Liebe, die sie nun dir geschenkt haben, etwas anderem schenken. Das wird nicht das gleiche sein, aber ähnlich.“
„Wie ist es wenn man ein Engel ist? Musst du mit vielen Menschen sterben?“
„Ja.“
„Bist du deswegen nicht traurig?“
„Ich bin traurig, wenn die Menschen traurig sind. Deswegen bin ich bei ihnen. Um ihnen etwas von ihrer Trauer abzunehmen. Um sie zu trösten, zu begleiten.“
„Wie wird man ein Engel?“
„Du wirst als Engel geboren.“
„Wie ist es wenn man tot ist?“
„Es wird so sein, wie du es dir vorstellst.“
„Mama sagt, wenn man stirbt und ein guter Mensch war, dann kommt man in den Himmel. Gott öffnet einen das Tor und man kann im Himmel mit Jesus und all seinen Freunden sein.“
„Menschen haben verschiedene Vorstellungen über den Tod. Es gibt Menschen, die denken, du wirst wiedergeboren. Du stirbst und dann wirst du als ein anderer Mensch, als ein Tier oder eine Pflanze wiedergeboren.“
„Das heißt, ich komme zu meinen Eltern zurück?“
„Sie werden es vielleicht nicht direkt merken, aber nur weil du deinen Körper verlierst, verlierst du nicht deine Seele.“
„Kann ich dann meinen Eltern sagen, dass sie nicht mehr traurig sein sollen, denn ich bin da.“
„Nein.“
„Werde ich nicht wiedergeboren?“
„Das weiß ich nicht.“
„Du bist der Engel des Todes.“
„Ja, ich bin der Engel des Todes. Alles was ich kann, ist dich begleiten damit du nicht alleine bist wenn du stirbst. Ich kann dir nicht sagen was ist, wenn du tot bist. Dann wirst du mich verlassen.“
„Bin ich dann alleine?“
„Du wirst niemals alleine sein. Es wird immer jemand geben, der bei dir ist, der auf dich aufpasst.“
„Wie du?“
„Wie ich.“ Und der Kleine nahm meine Hand und lächelte.
Die Rettungssanitäter stellten das Blaulicht aus, es bestand keine Eile mehr. In dem Moment, in dem der Junge meine Hand genommen hatte, war er gestorben. Alle Geräte, die sie an den Jungen angeschlossen hatten, zeigten es ihnen an. Er war gestorben und es gab nichts mehr, was sie tun konnte.
Die letzten Schritte würde Julian mit mir, Jonah, gehen. Dem Todesengel.