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Der Traum und die Sache mit den Schubladen

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26.09.2001
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Der Traum und die Sache mit den Schubladen

Der Traum und die Sache mit den Schubladen


Erster Teil

Bekanntschaften

Irgendwie war ich ziemlich schnell eingeschlafen und irgendwie war ich ziemlich schnell im Reich der Träume versunken. Dies war sehr verwunderlich, denn nach harten Tagen war das nicht gerade die Regel.
Sei es wie es sei, es war halt so und nun stand ich (gerade mal eingeschlafen) in diesem merkwürdigen Raum mit seinen kahlen grauen Wänden, dem Parkettfußboden und dem großen schwarzen Ding in der Mitte. Eine Neonlampe spie ihr fahles Licht in den Raum, so dass das große schwarze Ding ein langen Schatten warf. Das große schwarze Ding irritierte mich zwar ein wenig, aber der Raum an sich erschien mir aus damaliger Sicht sehr ordentlich und aufgeräumt.
Heute würde ich sagen, er war nicht mehr als hohl und einfältig.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich ein recht neugieriger Mensch bin und es scheint so zu sein, dass man seine Eigenarten selbst in Träumen nicht ganz ablegen kann.
So kam es, wie es bei neugierigen Menschen kommen muß, ich ging in die Mitte des Raumes, um zu betrachten und um Gewißheit zu erlangen, mit was – zum Teufel – ich es hier zu tun hatte. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte; ich weiß nicht einmal, ob man in Träumen überhaupt etwas erwartet.
Erwartung hin, Erwartung her, ich war erstaunt und vielleicht sogar ein wenig enttäuscht. Das große schwarze Ding war nichts weiter als ein Schrank mit vielen, vielen Schubladen. Toll!
Ein großer schwarzer Schrank mit Schubladen und eine Neonlampe die diese träumerische Glanzleistung in kaltes Licht bettete. Was sollte ich davon halten? War das nicht wieder einmal typisch? Da hatte sich ein harter, hektischer und alltäglicher Tag seinem Ende entgegen geneigt und ich war eingeschlafen. Konnte man da nicht wenigstens etwas (vielleicht nur ein ganz klein wenig) Aufregendes erwarten? War das wirklich zuviel erwartet? Ich ahnte nicht, was noch kommen sollte.
Gut, ich schlief, ich träumte und es ließ sich nicht mehr ändern. Meine Neugier war in den dunklen Hallen des Schlafes verflogen und so beschloß ich zu gehen.
Kaum hatte ich dies gedacht, mußte ich mit ansehen, wie sich die oberste Schublade öffnete. Zuerst ganz langsam, dann schneller und zu guter Letzt sprang sie förmlich aus den Schienen. Das Nächste, das ich sah, war eine knochige Hand, die sich um den Rand der Schublade schloß. Ihr folgte ein kleines, graues, abgehärmtes Männchen, welches sich aus dem Dunkel des Schrankinneren in das Licht der Neonlampe zog. Die Haare hingen ihm strähnig im Gesicht und es verkniff die Augen. Das Licht schien es zu blenden.

Ich glaube, dass man in Träumen prinzipiell nicht denken kann, ich glaube, dass man nicht fühlen kann und das es in Träumen unmöglich ist, heiß und kalt zu unterscheiden. Das alles glaube ich, doch ich weiß, dass es in meinem Traum anders war.

Ich dachte, wie krank und schwach dieses Männchen doch aussah, das sich da mit letzter Kraft aus dem Inneren einer Schublade in das fahle Licht einer Neonröhre zog. Ich fühlte Trauer und Bedauern und mir war so entsetzlich kalt.
Es war reine, klare und ungetrübte Resignation, die mich aus den Augen des Schubladenmännchens heraus ansah. Und es gab noch einen anderen Ausdruck in seinem Gesicht. Ich versuchte ihn zu ignorieren, doch er war zu eindeutig und zu vordergründig: Angst! Pure Angst!
Das Männchen sah mich an und begann wild zu gestikulieren und ich konnte nicht begreifen, warum es solche entsetzliche Angst vor mir hatte. Mit seinen knorrigen Händen hielt es mich auf Distanz und bedeutete mir zu gehen. Dabei sah es sich ängstlich in allen Ecken des Raumes um und in seiner Panik wäre es beinahe aus der Schublade gestürzt.
Als es bemerkte, dass ich nicht die geringsten Anstalten machte, den Raum zu verlassen (was mir mit Sicherheit auch sehr schwer gefallen wäre, denn nun hatte ich bemerkt, dass es gar keine Türen gab) wurde es ruhiger und ich konnte sehen, wie seine Lippen Worte formten.
Zuerst konnte ich nichts hören, das Sprechen fiel ihm sichtbar schwer, doch als ich näher herantrat, verstand ich, was es mir monoton entgegen flüsterte. „Bitte geh! Du mußt gehen!“ und nach einer kurzen Pause wieder: „Bitte geh! Du mußt gehen!“

An dieser Stelle begann die seltsame Metamorphose meines Traumes. Er, der so langweilig begonnen hatte, wurde aufregender und meine Neugier, die schon fast abgeflaut schien, entflammte von Neuem.
Fasziniert und ungläubig betrachtete ich das Schubladenmännchen. In seiner Mimik und Gestik und überhaupt in seiner ganzen Erscheinung sah es wie ein Mensch aus, der durch irgendetwas geschrumpft worden war. Es rührte mich, wie es mich aus seinen, von dunklen Schatten gesäumten, Augen heraus anflehte, ich möge doch bitte gehen. Ich konnte nicht glauben, dass ich so angsteinflößend wirken sollte. Doch dann hörte ich die Worte, die die Bitte-Geh-Monotonie unterbrachen.
„SIE werden dich fangen! SIE werden dich weglegen! SIE werden mit dir das gleiche tun, wie mit uns allen!“ Und in diesem Moment hörte ich aus dem Inneren des Schrankes ein zustimmendes Stöhnen. Ein Raunen aus tausend Mündern.

Ich stand in mitten des fahlen Lichtes und blickte bestürzt zu dem Männchen. Ich stand da und begann etwas genauer zu verstehen. Ich stand da, und das, was ich verstand, wollte ich gar nicht verstehen. Es waren die Augenblicke, in denen ich wünschte, der Hauch einer Ahnung, der sich ganz langsam zu einem Begreifen entwickelte, würde von dem fahlen Licht einfach weggespült werden, noch ehe er zu seiner Entfaltung kommen konnte.


Zweiter Teil

Weitere Bekanntschaften

Vielleicht kennen sie das Gefühl, wenn man in Träumen vor etwas davonlaufen will und es einfach nicht kann. Man wirft ängstliche Blicke über die Schulter zurück und möchte laufen, möchte rennen, möchte fliehen – und das Etwas kommt näher und näher und näher.
Genau dieses Gefühl befiel mich in meinem Traum gleich zweimal.

Das erste Mal in dem Augenblick, wo in mir die Erkenntnis heranreifte, dass meine Traumbekanntschaft - diese traurige, kranke Kreatur, die durch irgendetwas geschrumpft und in einer Schublade gefangen gehalten wurde -, nicht vor mir, sondern um mich Angst hatte.
„SIE werden dich fangen! Sie werden dich weglegen! SIE werden mit dir das gleiche tun, wie mit uns allen...“, hatte mir das Schubladenmännchen (so hatte ich es inzwischen getauft) entgegengeflüstert und in diesem Moment vermutete ich, dass SIE bereits näher kamen, wer immer SIE auch waren. Ein Stöhnen aus tausend Mündern war daraufhin aus dem Inneren des Schubladenschrankes hervorgequollen und schien mir sagen zu wollen, dass SIE schon viel zu nahe waren.
Beim zweiten Mal war das Gefühl sehr viel stärker und mit einer gehörigen Portion Panik vermischt. Es waren die Momente, in denen ich SIE persönlich kennen lernte – eine weitere Bekanntschaft in diesem sonderbaren Traum – Die nebulösen Hände.

Aber lassen sie mich der Reihe nach erzählen.

Kaum hatte ich also begriffen, dass das Schubladenmännchen um mich Angst hatte, hörte ich aus dem Schrankinneren zig Stimmen stöhnen. Meine Traumbekanntschaft war also nicht alleine. Ein Schauer überlief mich, als ich mich fragte, wie viele seiner Art wohl in diesen Schubladen gefangengehalten wurden, wie sie wohl in diese Lage gekommen waren und wer sie – um alles in der Welt – in diesen Schubladen abgelegt hatte.
„Wir wollen es dir sagen“, sprach das Schubladenmännchen, welches meine Gedanken zu erraten schien und deutete auf all die anderen Schubladen, die nun – eine nach der anderen – von innen heraus geöffnet wurden. Was für ein Bild!? Unglauben, Begeisterung, Entsetzen wechselten sich ab!
Hunderte Schubladen schoben sich aus dem Schrank hervor, ins fahle Licht einer Neonlampe, in die Tristes eines grauen, einfältigen Raumes, der sich langsam mit Leben füllte - sofern man es noch als LEBEN bezeichnen wollte. Ein fahles, farbloses Treiben! Unmengen dieser Schubladenmännchen quollen dem Licht entgegen und so unterschiedlich sie auch waren, im Grunde glichen sie sich. Alle waren sie klein, alle sahen sie grau und krank aus und alle trugen sie einen Zettel an ihrem Hals oder hatten einen blauen Punkt auf der Stirn.
Merkwürdig: War der Traum auch verwirrend und neu, ich wusste, dass diese kleinen Zettel an ihren Hälsen Etiketten waren und das die blauen Punkte nichts anderes als die Abdrücke eines großen Stempels sein konnten.
Verzeihen Sie mir bitte das Gleichnis, aber in diesem Moment dachte ich an Gänse, die kurz vor Weihnachten - kurz vor dem Schlachten - markiert und klar gemacht werden.

„Wir werden es dir sagen, doch wir haben nicht viel Zeit“, fuhr Männchen Nummer Eins fort und blickte abermals hektisch umher. „Vielleicht ist es auch schon zu spät, ich kann SIE schon hören“, ergänzte es, während Traurigkeit und Mitleid in seine Blicke wanderten. Blicke, die mir galten.
Und dann begannen sie zu berichten. Alle erzählten sie mir ihre Geschichte. Männchen für Männchen, Schublade für Schublade. Und so, wie sie sich alle in ihrem Äußeren und in ihrer Hoffnungslosigkeit glichen, so glichen sich ihre Geschichten. Im Prinzip war es die immer gleiche Story. Die Namen waren verschieden, so wie die Ummantelung, doch das Schema blieb gleich - trivial.
Sie erzählten von sich, ihren Schicksalen und den Schubladen, in denen sie nun lebten – in die sie gesteckt worden waren.
Da war Männchen Nummer Eins, das sich mühsam an dem Rand seiner Schublade festklammerte. Es gehörte zur Kategorie „VORLAUT“, wie ich unschwer an dem kleinen Plastikschild erkennen konnte, das den Schrank an jener Stelle zierte, wo seine Hände nach Halt suchten, damit es nicht wieder ins Dunkel der Schublade zurückfiel. Gleich daneben blickte ein Vertreter derer „DIE NICHT DEN MUND AUFKRIEGEN“ hervor und lächelte sein stummes Lächeln. Ich glaube, er hätte gerne gesprochen, aber er war wohl schon zu lange abgelegt. Ein paar Zentimeter darüber waren „DIE LETHARGIKER“ (ihre Schublade hatte sich komischerweise als eine der ersten geöffnet) und direkt daneben waren „DIE VORSCHNELLEN“. Ich lernte sie alle kennen. Da waren die, die mal zu spät gekommen waren und sich nun „DIE BUMMLER“ nennen durften; die, die ihre Meinung vertraten und gleich darauf zu den „BESSERWISSERN“ gelegt wurden. Da waren „DIE KARRIERISTEN“ und „DIE FAULEN“; es gab „KLUGE“ und „DUMME“. Eine einfache, wohlsortierte Welt, übersichtlich und simpel - gut und schlecht. Hell und dunkel!
Aber ich hörte auch „ILLUSIONISTEN“ sachlich schildern und kurz darauf die „REALISTEN“ träumend philosophieren; ich sah die „EWIG GESTRIGEN“, die ihre Blicke in die Zukunft richteten und gleich daneben die „FORTSCHRITTLICHEN“, die an ihren alten Konventionen fast erstickten. Wie konnte es sein, dass sich der „ZWEIFLER“ plötzlich sicher fühlte und der „SELBSTSICHERE“ an Zweifeln zerbrach? War es möglich, dass „KLUGE“ keinen Rat mehr wussten und „DUMME“ die Lösung fanden?
Gab es hier Dinge, die falsch liefen?
Aber nein, das konnte nicht sein! Es war doch alles so herrlich klar. Und das war gut so! Keine lästigen Nuancen, keine verwirrenden Feinheiten; nichts, was im Schatten lag und was hätte erst beleuchtet werden müssen. Wozu gab es denn Stempel und Etikett? Sollte man tatsächlich einen zweiten Blick wagen müssen, wenn der erste schon genügen konnte? Aber nicht doch! Die Stempel raus! Schublade auf und Schublade zu. Ruhe und Friede!
Und trotzdem gab es da den „ALKOHOLIKER“, der eigentlich nie trank; den „SPINNER“, der nicht spann und den „DEMOTIVIERTEN“, der vor Begeisterung „brennen“ konnte. Andererseits sah ich auch „DIE AUFRECHTEN“, die tatsächlich nur noch krochen und ihre Augen hätten schließen müssen, wenn sie den Blick in den Spiegel gewagt hätten. Bei denen kein Tag verging, ohne Konzession gemacht zu haben. Gleichauf mit den „OFFENEN UND EHRLCHEN“, die vorzugsweise hinter vorgehaltenen Händen und nur hinter den Rücken anderer ihre „Weisheiten“ verbreiteten konnten.
Ich glaube, es gab noch eine ganze Menge mehr, da, in diesen Schubladen - sortiert und katalogisiert. Und ich glaube auch, dass es einfach nicht zu fassen war...

Einfach nicht zu fassen... das war wohl einer meiner letzten Gedanken in diesem Traum, als ein heftiges Sirren und Ächzen den Raum erfüllte. Die Männchen stoben panisch auseinander und wurden nun von nebulösen Händen ergriffen und zurück in ihre Schubladen gedrückt. Und so, wie sich alle geöffnet hatten, so wurden sie nun wieder zugestoßen. Eine nach der anderen schob sich krachend in das Schrankinnere zurück. Die Revolte war im Keim erstickt, aus Individuen waren wieder Ablagen geworden. Ich wollte fliehen, konnte jedoch nicht (hatte ich schon erwähnt, dass es in meinem Traum-Raum keine Türen gab?). Männchen Nummer Eins warf mir noch einen traurigen Blick zu, der wohl besagen sollte, dass es ihm furchtbar leid tat, bevor es auch in der Schwärze des Schrankes verschwand.

Nun war ich wieder allein, mit diesem kahlen Raum, dem fahlen Licht einer Neonlampe und dem großen Schwarzen Ding – mit all den vielen, vielen Schubladen. Die Ordnung war wieder hergestellt. Fast. Denn etwas war anders, und als ich eine der Nebelhände spürte, die mich stieß und zerrte, da wusste ich auch, was es war. Es war eine Schublade, die, im Gegensatz zu all den anderen, noch zur Hälfte geöffnet war. Ich ahnte, dass sie auf mich wartete.
„DIE UNVERSTANDENEN GESCHICHTENERZÄHLER“ waren darin verstaut und kurz darauf wurde es dunkel.... .


Dunkel war es nicht mehr ganz, als ich in meinem Zimmer erwachte. Der Morgen atmete schon.
Irgendwo hinter dem Horizont dämmerte eine orangerote Sonne dem neuen Tag entgegen.
Ich trat ans Fenster und war recht froh, nur geträumt zu haben, denn ...

... es war doch nicht mehr, als nur ein sonderbarer Traum??

 

Hallo TT!!

Da solltest du dich aber geehrt fühlen: Deine Geschichte ist kaum zehn Minuten im Netz und schon bekommst du Antwort, also bei kg.de ist sowas echt selten...

Zuerst einmal möchte ich sagen, dass deine Geschichte, die wohl innovativste und sprachlich sicherste ist, die ich in letzter Zeit hier gelesen habe. Darf ich fragen, ob du mehr bist als nur ein Hobbyautor??

Allerdings ist mir beim Lesen eine Sache aufgefallen: Im ersten Teil vermittelst du (zumindest bei mir) ein Gefühl der Unsicherheit, der Zweifel. Dieses Bild vom schwarzen Ding in der Mitte wirkt doch recht furchteinflößend. Unerwartet nehme ich dann die Sache mit dem Schubladenmännchen auf und denke an große Kritik an der Menschheit, nicht neu, aber immer wieder gut und wichtig. Dann geht es um Kategorien, "Schubladen" im eigentlichen Sinne, das kommt unerwartet und es ist irgendwie enttäuschend, jetzt doch nur diesen kleineren Kreis zu betrachten. Beim Ende kommen mir Zweifel, dass das Traum-Ich plötzlich selbst in eben solche Schublade gesteckt wurde, ist das nun die dramatische Machtlosigkeit des Menschens oder sollte das eine witzige Pointe sein. Ist auf alle Fälle enttäuschend.

Vielleicht sehe nur ich das so eng, aber aus Erfahrung weiß ich, dass sich jeder über jede art von Kommentar freut... Trotzdem: Kompliment.

Gruß,
kc

 

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