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Der Turm

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27.07.2001
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Der Turm

- 1 -

„Ah, du bist noch wach.“ Lucius blickte auf. Vor ihm stand Quintus und runzelte die Stirn. „Vergiss nicht, dass du in acht Stunden raus musst. Du solltest besser etwas schlafen.“
„Habe ich ja versucht, aber es klappt nicht.“
„Du musst dich dazu zwingen, liegen zu bleiben, sonst gewöhnst du dich nie an diesen Schlaf-Wach-Rhythmus.“

Lucius seufzte. Er fühlte sich wieder wie ein Schuljunge, der von seinem Lehrer ermahnt wird. Quintus setzte sich zu Lucius an den Holztisch, holte ein Stück Brot aus der Tasche und biss herzhaft hinein.
„Hör mal, Neuer, ich weiß ja, dass du keine Lust hast zu dem Quatsch hier“, erklärte Quintus schmatzend, „das hat keiner von uns. Oder glaubst du, ich hätte mich freiwillig dazu gemeldet, am Ende der Welt in die Landschaft zu starren?“
Lucius ärgerte sich etwas über das „Neuer“, und das Wort „Schuljunge“ kam ihm abermals in den Sinn. Um Quintus' Frage zu beantworten, schüttelte er den Kopf.

„Siehst du. Inzwischen habe ich auch gelernt, das Positive daran zu sehen. Das ist die große Kunst, weißt du? Immer positiv denken.“
„Was ist denn bitte positiv daran, hier herumzuhocken, Wache zu schieben und sich den Tag-Nacht-Rhythmus durcheinander würfeln zu lassen?“
Quintus schluckte den letzten Bissen von seinem Brot herunter und beugte sich vor.
„Erstens: Du verdienst dein Geld quasi mit Nichtstun. Ich bin jetzt seit einem halben Jahr hier und wir haben nur zwei Mal Ärger mit den Barbaren gehabt. Und beide Male waren's bloß kleine Grüppchen Halbstarker, die wir mit ein paar Pfeilschüssen wieder vertreiben konnten. Die im Kastell Ruffenhofen dürfen sich hingegen die Köpfe einschlagen lassen, wenn sie gegen die Germanen kämpfen. Zweitens: Die Landschaft hier ist wunderschön. Vor allem im Winter. Hast du in Rom jemals Schnee gesehen?“
„Ich bin in Gallien aufgewachsen. Da gibt’s reichlich davon. Und die Landschaft daheim war auch wunderschön. Außerdem, was nützt einem die tollste Landschaft, wenn man vor Langeweile umkommt? Nicht zu vergessen, dass ich daheim ein Mädchen hatte.“

Quintus schüttelte den Kopf und erhob sich ächzend von seinem Stuhl.
„Geh jetzt schlafen, sonst pennst du morgen noch im Dienst. Und wenn Gaius das sieht, macht er dir die Hölle heiß. Glaub mir, den möchtest du nicht zum Feind haben.“
„Na gut, überredet. Ich versuch's jedenfalls.“
„Hm, weißt du was? Ich gebe dir etwas von meinem Spezialschlafmittel. Hab ich in meinem letzten Urlaub in Augusta Treverorum gekauft. In der Stadt gibt es wirklich alles. Ich weiß nicht, was da drin ist, aber das Pülverchen wirkt wahre Wunder. Mach die Hand auf.“

Lucius zögerte einen Moment. Er hielt nicht sonderlich viel von Medizin, erst recht nicht von solcher, die irgendein Straßenhändler verscherbelte. Doch wollte er wirklich noch mehr schlaflose Nächte erleben? Und bei seiner nächsten Schicht vielleicht gar von Gaius beim Schlafen erwischt werden? Er kannte seine Kollegen zwar noch nicht lange, aber lange genug, um zu wissen, dass Gaius bei allen gefürchtet war. Vor allem der geschwätzige Quintus hatte ihm bereits so einige Geschichten erzählt.
Natürlich wusste er nicht, ob sie alle wahr waren, aber selbst wenn nur zehn Prozent stimmten, waren das immer noch genug, um einen Heidenrespekt vor seinem Vorgesetzten zu haben. Also hielt Lucius schließlich Quintus seine Hand hin, der ihm aus einem kleinen Leinensäckchen ein wenig von dem bräunlichen Pulver auf die Hand schüttete.
„Nimm das in den Mund und spül mit Wasser nach. Ich versichere dir, in ein paar Minuten sinkst du ins Reich der Träume.“
Lucius tat wie ihm geheißen.
„Schmeckt komisch. Hoffentlich wirkt es.“
Quintus nahm die Lampe von dem kleinen Tischchen, das an der Wand stand und meinte: „Sicher tut es das. So, ich schau erstmal, was wir morgen an Vorräten besorgen müssen. Ich glaub, ich nehme diesmal Cornelius mit. Nimm's mir nicht übel, aber der kann ein paar Kilo mehr stemmen als du, und wir brauchen einiges an Zeugs. Im Winter kommt man hier manchmal nicht weg. Das ist der Nachteil am Schnee.“

Quintus verschwand durch die Bodenluke im Untergeschoss des Wachturms, während Lucius ins Bett kletterte und versuchte, zu schlafen. Trotz des Pülverchens dauerte es eine Zeit, aber irgendwann sank er ins Reich der Träume.

- 2 -

Als er erwachte, war es immer noch dunkel draußen. Und auch drinnen war kein Fünkchen Licht zu sehen. Lediglich von oben drang ein leichter Fackelschimmer herab. Lucius gähnte einmal herzhaft, legte sich die Decke um und kletterte aus dem Bett.
„So gut scheint das Schlafmittel doch nicht zu wirken“, murmelte er und stieg noch etwas schlaftrunken die Leiter nach oben hinauf.
„Na, alles in Ordnung bei euch?“, fragte er, doch es kam keine Antwort.
„Hallo, seid ihr taub?“, rief er.
Abermals blieb alles ruhig.

„Seltsam, die werden doch nicht eingepennt sein.“ In der Waffenkammer war kein Mensch zu sehen. Lediglich eine fast abgebrannte Fackel flackerte müde vor sich hin. Er nahm eine weitere Fackel und zündete sie an der fast erloschenen an. Es wurde ein wenig heller.
Lucius ging hinaus auf die Galerie, wo ebenfalls kein Mensch zu sehen war.
„Hallo!“, rief er noch einmal. „Wollt ihr mich verarschen? Darauf falle ich nicht rein, hört ihr?“
Von unten hörte er ein Knacken. Lucius beugte sich über die Brüstung, konnte jedoch nichts erkennen.
„Gaius? Quintus? Seid ihr da irgendwo?“
Keine Antwort. Langsam wurde ihm etwas mulmig zumute. Er ging einmal um die Galerie herum, um sich zu vergewissern, dass wirklich keiner da war und musste feststellen, dass seine Kollegen tatsächlich fort waren.
Lucius machte sich nun ernsthaft Sorgen. Normalerweise musste rund um die Uhr mindestens einer von ihnen Wache schieben, und Gaius achtete streng darauf, dass die Dienstvorschriften auch eingehalten wurden.

„Vielleicht ist irgendwas passiert“, überlegte er und ging wieder hinein. Zurück in der Wohn- und Schlafstube schlug er das in Leder gebundene Tagebuch auf, in dem alle wichtigen (und auch eher unwichtigen) Ereignisse des Tages vermerkt werden sollten. Der letzte Eintrag stammte von gestern Abend. „Wachwechsel zur elften Stunde. Dienst haben Gaius Quintilius und Cornelius Raetius.“ Besondere Vorkommnisse wurden nicht erwähnt.
Um ganz sicher zu gehen, schaute Lucius auch noch in der Speisekammer im Untergeschoss des Turms nach dem Rechten. Doch auch dort war keine Spur von seinen Kollegen zu sehen. Er beschloss, sich ein paar Würstchen mit nach oben zu nehmen. Auf den Schreck wollte er erst einmal etwas essen. Als er mit seiner Fackel auf das Regalfach leuchtete, streifte sein Blick eine einzelne Sandale auf dem Boden.

„Was zum...?“ Er leuchtete noch einmal in Richtung des Schuhs und sah, dass er inmitten einer Blutlache stand. Sein Herz schlug schneller. Als er den Raum genauer ausleuchtete, stellte er fest, dass ein Teil der Vorräte fehlte und der Rest teilweise arg durchwühlt war.
„Die Germanen“, schoss es Lucius durch den Kopf. Aber wie sollten die über den Limes gekommen sein? Haben sie ein Loch in die Mauer geschlagen? Oder hatten sie Leitern? Und warum hatten ihn seine Kollegen nicht geweckt? Waren sie überrascht worden? An das Schlafmittel dachte er in diesem Moment gar nicht.

Lucius stürmte nach oben, nahm sich zwei weitere Fackeln und stieg damit hinauf zur Galerie. Er entzündete eine der Fackeln, wartete ab, bis sie richtig brannte und warf sie nach unten in Richtung Limesmauer. Im feuchten Gras ging sie nach wenigen Sekunden aus, doch sie brannte lange genug, um Lucius zu zeigen, dass dort unten alles ganz normal aussah.
Auf der anderen Seite des Turmes wiederholte er das Ganze, doch auch dort war die Mauer unversehrt. Allerdings lag da irgendwas. Er hatte es nicht genau erkannt, da die Fackel schon vor dem Landen erloschen war. Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet?

„Ich werde schon paranoid.“ Er lachte kurz auf und erschrak über seine eigene Stimme. Erst jetzt fiel ihm auf, wie still es wirklich war. Kein Lüftchen regte sich, kein Ton war zu hören außer einem gelegentlichen Knacken im Wald. Da der Himmel bedeckt war, konnte er fast nur Schwärze um sich herum sehen. In der Ferne bemerkte er ein schwaches Leuchten, das zeigte, dass auf dem benachbarten Wachturm offenbar alles mit dem Rechten zuging. Jedenfalls achtete dort jemand darauf, die Fackeln am Brennen zu halten.
Den nächsten Turm in der anderen Richtung konnte man nicht mal bei Tage sehen, da er hinter dem Wald lag. Dem Präfekten des Kastells war das schon lange ein Dorn im Auge und er hatte mehrfach beim Prokonsul der Provinz darum gebeten, einen weiteren Wachturm errichten lassen zu dürfen, doch der hatte immer abgelehnt und auf die leeren Staatskassen verwiesen.
„Tja, das hat er jetzt davon. Nun sind die Germanen eingefallen“, murmelte Lucius.

Ihm kam wieder der seltsame Gegenstand in den Sinn, den er kurz gesehen hatte. Er beschloss, draußen nachzuschauen, wollte jedoch Vorsichtsmaßnahmen treffen.
Er zog seine Rüstung an, legte den Gürtel um und steckte sein Schwert in die Scheide. Dann stieg er vorsichtig die Leiter nach draußen herunter, sorgsam darauf bedacht, die Fackel nicht zu verlieren. Denn im Dunkeln wäre er dort unten völlig orientierungslos gewesen.

- 3 -

Lucius hatte das Gefühl, hier unten die Geräusche der Wildnis viel lauter hören zu können als oben in der Sicherheit des Turms. Das Rascheln der Blätter in der leichten Brise. Das Knacken der Mäuse im Unterholz des Waldes. Den klagenden Ruf einer Eule. Lucius begab sich zu der Stelle, an der die heruntergeworfene Fackel gelandet war. Da er schlecht mit zwei Fackeln in der Hand herumlaufen konnte, entzündete er die zweite Fackel wieder und steckte sie in den Boden. Vom feuchten Gras war sie nass geworden und knisterte flackernd vor sich hin. Doch sie half, die Umgebung etwas zu erhellen. Lucius fand den Gegenstand, den er erblickt hatte, etwa zehn Meter vom Turm entfernt.

Auf den ersten Blick konnte er nicht mehr erkennen als ein helles, unförmiges Etwas. Beim genaueren Hinsehen erkannte er jedoch, was dort lag. Er unterdrückte einen Aufschrei, als ihm bewusst wurde, dass dort die Überreste eines menschlichen Unterarms mit Hand lagen. Das Gras drumherum war mit roten Spuren übersät, die in den Wald hineinführten. Lucius musste saure Galle hinunterschlucken, zwang sich aber trotzdem, noch einmal hinzuschauen. Am Mittelfinger der Hand, dem einzigen, der noch komplett war, steckte ein silberner Ring.
„Quintus“, flüsterte er mit erstickter Stimme. Obwohl er der Panik nahe war, packte Lucius jetzt der Zorn.
„Wer auch immer das war, er wird es büßen.“

Lucius suchte in der Umgebung des Turms nach weiteren Spuren, die ihm vielleicht dabei helfen konnten, das Rätsel zu lösen. Etwas weiter vom Turm entfernt, auf dem Weg, der zum Kastell führte, entdeckte er einige Pfeile. Zwei Stück steckten in einem Baum, drei weitere im Boden. Lucius betrachte einen davon genauer.
„Eindeutig römisch“, murmelte er. Offenbar hatte der Schütze es eilig gehabt, denn sonst hätte er besser gezielt. Da die Pfeile in Richtung des Kastells zeigten, vermutete Lucius, einer seiner Kollegen hatte versucht, den Angreifer auf der Flucht doch noch zu treffen.

Auch wenn ihm dabei unbehaglich zumute war, sich weiter vom Turm zu entfernen, beschloss Lucius, dem Weg durch den Wald zu folgen. Vielleicht hatten sich seine Kollegen irgendwo versteckt und warteten darauf, dass die Luft rein war. Oder sie waren verletzt worden und brauchten Hilfe. So oder so, Lucius musste den Dingen auf den Grund gehen. Vorsichtig setzte er seinen Weg fort und schaute sich ständig nervös nach allen Seiten um. Ständig knackste und raschelte es überall. Bisher hatte er nicht gewusst, wie viel Leben im nächtlichen Wald herrschte. Er hoffte, dass er nicht von einem wilden Tier angefallen würde, einem tollwütigen Fuchs vielleicht oder einem hungrigen Wolf. Ihn schauderte.

Nach einigen Dutzend Metern, auf denen er auf nichts Verdächtiges gestoßen war, kam Lucius auf eine kleine Lichtung, wo er kurz innehalten musste. Er hielt sich am Stamm einer Linde fest und atmete tief durch. Er fürchtete, sonst vollends von seiner Panik überwältigt zu werden, und das wäre das Schlimmste, was ihm hätte passieren können. Vielleicht war seinen Kollegen das Gleiche passiert und sie waren kopflos in den Wald geflohen. Der Baum fühlte sich kalt und nass an, aber irgendwie auch tröstlich. Lucius presste seine Stirn gegen den Stamm. Er schluchzte und spürte Tränen in sich aufsteigen, die er aber sofort wieder herunterschluckte.

Was war er doch für ein Weichei. Kaum war er mal auf sich alleine gestellt, schon fing er an zu heulen wie ein kleines Mädchen. Er war ein Mann, verdammt noch mal, und er musste sich zusammennehmen. Er atmete noch einmal tief ein, strich sich über die Haare und schaute sich dann auf der Lichtung um. Er war wieder etwas ruhiger geworden. Nichts schien auf einen Kampf hinzudeuten. Kein niedergetretenes Buschwerk, keine Pfeile – und auch keine weiteren abgetrennten Arme.
„Also weiter“, murmelte Lucius und lenkte seine Schritte wieder in Richtung des Weges. Er fragte sich gerade, wie weit es noch bis zum Kastell war und ob seine Kollegen vielleicht dort Zuflucht gefunden hatten, als er hinter sich ein lautes Knacken hörte.

„Ist da jem ...?“, setzte er an, doch er brachte den Satz nicht zu Ende, weil er mit enormer Kraft umgeworfen wurde und hart auf dem Boden aufschlug. Er schmeckte Erde und Blut in seinem Mund. Hinter ihm knurrte es laut.
Irgendwer ... oder irgendwas drückte ihn zu Boden. Plötzlich hörte er, wie seine Rüstung mit einem metallischen Knirschen zerriss und spürte einen stechenden Schmerz in seinem Rücken. Er wollte schreien, doch weil er noch immer mit dem Gesicht im Dreck lag, kam bloß ein ersticktes Seufzen aus seiner Kehle. Er hörte ein lautes Brüllen über sich und ein schmatzendes Geräusch.

Dann fiel er in eine gnädige Bewusstlosigkeit.

- 4 -

Das erste, was er erblickte, als er die Augen aufschlug, war eine Holzdecke, die von kräftigen Balken getragen wurde. Er versuchte, sich aufzurichten, doch ein plötzlicher Schmerz in seinem Bauch ließ ihn auf das Kissen zurücksinken. Er stöhnte und schloss wieder die Augen.

„He, er ist wach!“, sagte ein Mann. „Doktor, er ist aufgewacht!“
Zwei Männer traten an sein Bett.
„Hier, trink das.“ Er spürte, wie ihm eine Schale an den Mund gesetzt wurde. Eine bittere Flüssigkeit ergoss sich in seinen Mund und über sein Kopfkissen, sodass er sich verschluckte und husten musste.
„Nicht so hastig. Du brauchst viel Ruhe, sonst geht die Wunde wieder auf.“
„W-Wunde?“ Ja, irgendwas war da. Er erinnerte sich langsam wieder. Er war durch den Wald gerannt. Er war geflohen. Irgendwas war hinter ihm gewesen. Aber was? Da war nur Schwärze. Er konnte sich nicht genau erinnern.
„Ja, du hattest eine ziemlich üble Wunde am Unterbauch. Das muss ein Bär gewesen sein.“

„Ei-ein Bär?“, fragte er.
„Ja. Erinnerst du dich nicht daran?“, fragte der Arzt besorgt.
„Ja. Nein ... Ich weiß nicht. Ich fühle mich so benebelt. Irgendwas hat mich verfolgt, ja. Das muss dann wohl ein Bär gewesen sein. Aber ... Ich weiß nur noch, dass ich Dienst hatte und ... Ich hörte ein Geräusch. Ja, jetzt weiß ich's wieder. Alles! Quintus. Er ist tot!“
Er wollte sich aufrichten, doch der Doktor hielt ihn zurück.
„Hol mir ein paar heiße Umschläge“, sagte er zu seinem Helfer. Dieser entfernte sich vom Bett und kam gleich darauf mit zwei dampfenden Lappen zurück, die er dem Patienten auf die Stirn legte.
„D-danke“, sagte dieser.
„Fühlst du dich kräftig genug, um dem Lagerkommandanten Bericht zu erstatten? Er steht draußen und wartet schon ungeduldig. Aber ich kann ihm auch sagen, dass er bis morgen warten soll. Hauptsache, du kommst erst einmal wieder auf die Beine.“
Der Patient schüttelte leicht den Kopf.
„Es geht schon. Schick ihn ruhig herein.“

Kurz darauf blickte er in das Gesicht eines bärtigen Mannes mit schwarzem Haar, das an den Schläfen schon grau zu werden begann.
„Nun?“, fragte der Mann.
„Ich weiß nicht, ob ich das alles noch richtig in Erinnerung habe, aber ich weiß noch, dass ich zusammen mit Gaius Dienst hatte. Quintus prüfte gerade unsere Lagerbestände und Lucius, unser Neuer, schlief, da er heute Frühschicht gehabt hätte“, erklärte Cornelius.
„Plötzlich hörte ich von unten ein Rumpeln und einen Aufschrei. Gaius befahl mir, nachzuschauen, also ging ich nach unten und sah nur noch das Hinterteil eines Bären, der ins Freie sprang. Im selben Moment hörte ich Gaius von oben fluchen. Ich schaute aus der Tür und sah gerade, wie der Bär Quintus anfiel. Offenbar hatte sich das Tier über unsere Vorratskammer hergemacht und Quintus dabei überrascht. Ich wusste gar nicht, dass die Viecher Leitern hochklettern können.“

„Dass Bären gute Kletterer sind ist doch eine Binsenweisheit. Hattet ihr denn nicht die Tür versperrt?“
„Doch, eigentlich schon. Aber die Leiter stand noch draußen. Vielleicht hatte Quintus den Bären schon gehört und wollte nachschauen, auch wenn das reichlich unvorsichtig gewesen wäre. Jedenfalls war der Bär offenbar von unseren Vorräten angelockt worden. Ich weiß nicht, ob er was davon gefressen hat, aber ...“ Cornelius hielt kurz inne. „An Quintus hat er jedenfalls Gefallen gefunden.“
„Was passierte dann? Wieso seid ihr nicht im Turm geblieben? Für Quintus hättet ihr doch ohnehin nichts mehr tun können?“
„Das hättet Ihr mal Gaius sagen sollen. Ich wollte ihn ja aufhalten, aber er stürzte mit seinem Bogen nach draußen und versuchte, den Bären zu erwischen. Doch das Tier war schneller als er. Ich versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er war richtig in Rage. Sonderlich beherrscht war er ja nie gewesen, aber so habe ich ihn noch nicht erlebt.“

„Was hast du dann getan?“, wollte der Lagerkommandant wissen.
„Ich bin ihm zur Hilfe geeilt, was sonst? Der Bär hätte ihn sonst sicher auch erwischt.“
„Und was war mit deinem Kollegen, diesem Luca?“
„Lucius. Der hat geschlafen wie ein Säugling. Ich schätze, Quintus hat ihm was von seinem speziellen Schlafmittel gegeben. Da hätte ihn selbst eine Elefantenherde nicht aufwecken können.“
„Was geschah dann?“

„Der Rest ist schnell erzählt. Ich rannte nach draußen, ebenfalls mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Ich weiß es nicht, aber ich fürchte, inzwischen war es auch für Gaius zu spät. Jedenfalls habe ich nichts mehr von ihm gehört. Dafür hatte sich der Bär nun mich als Ziel ausgesucht. Ich versuchte zu fliehen und stolperte blind durch den Wald. Es war ziemlich dunkel letzte Nacht. Kein Mond, keine Sterne, dichte Wolken ... Ich schoss wie wild um mich. Keine Ahnung, ob ich den Bären auch nur einmal getroffen habe. Dafür hat er mich getroffen, direkt in den Bauch. Ich konnte mich aber wieder aufraffen und habe wie wild auf ihn eingeschlagen. Das hat ihn offenbar so sehr verwirrt, dass ich entkommen konnte. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Vermutlich bin ich noch eine Weile durch das Dickicht geirrt und dann zusammengebrochen.“

„Ja, scheint so“, sagte der Arzt. „Deinen Vorgesetzten Gaius haben wir heute Morgen entdeckt. Oder zumindest das, was von ihm übrig war. Du hast echt noch mal Glück gehabt. Ein paar Stunden später und du wärst verblutet. Aber von dem Neuen, von Lucius, haben wir keine Spur gefunden.“

Und obwohl im Laufe des Tages noch einmal ein Suchtrupp losging, sollte Lucius auch nie mehr gefunden werden ...

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Arnie,

„Eindeutig römisch“
Das kann man leider von Deiner Geschichte nicht behaupten. Mit dem Vokabular, das Du benutzt, koenntest Du Deine Hauptfigur auch Kevin nennen und das Ganze im Schullandheim zu Urft spielen lassen. Historische Geschichten bekommen doch gerade dadurch Atmosphaere, dass man viele zeittypische Details einbaut. Das gilt auch fuer die Sprache und die Vorstellungswelt der Figuren. So fuehlt sich ein Legionaer sicherlich eher von Furien gejagt als von Paranoia befallen.

Hier nur einige Beispiele fuer wenig roemischen Sprachgebrauch:


Schlaf-Wach-Rhythmus
Ich glaube, dass sowohl der Begriff, als auch die Sorge darum eher neuzeitlich sind

Immer positiv denken.
Das ist so ein Motivationstrainer-Spruch

Halbstarker
Auch dieser Begriff hoert sich fuer mich sehr neuzeitlich an. Da haettest Du auch Teenager schreiben koennen.

Und wenn Gaius das sieht, macht er dir die Hölle heiß.
Hades?

um einen Heidenrespekt vor seinem Vorgesetzten zu haben.
Die Geschichte spielt offenbar in der Spaetantike, da die Legionaere mir hier sehr christianisiert vorkommen

rund um die Uhr
Ich weiss nicht, ob Roemer, abgesehen von Sonnenuhren, Uhren hatten, die so einen Ausdruck rechtfertigen wuerden. 24/7 waere doch auch huebsch.

Die Landschaft hier ist wunderschön. Vor allem im Winter.
Auch hier scheint eher ein neuzeitlicher, vielleicht romantischer, Landschaftsbegriff durch

„Ich werde schon paranoid.“
Das ist eine meiner Lieblingsstellen. In der Psychoanalyse waren sie also auch bewandert. Schon klar, das Wort ist altgriech., das Konzept aber nicht.

Vielleicht war seinen Kollegen das Gleiche passiert und sie waren kopflos in den Wald geflohen.
Kollege mag zwar im Kern ein lateinisches Wort sein, aber ob Legionaere sich so untereinander bezeichnet haben, bezweifele ich

Was war er doch für ein Weichei.
Die gabs bestimmt auch in roemischer Zeit, aber wahrscheinlich unter anderem Namen

„Doktor, er ist aufgewacht!“
So, das ist jetzt echt meine Lieblingsstelle. Hat der Feldarzt etwa einen Dr. med? Sollte man nicht besser direkt einen Rettungshubschrauber rufen?


Sorry, aber mich hat Deine Geschichte nicht so wirklich in die Vergangenheit entfuehren koennen.

feirefiz

 

Tja, ich seh schon, sich mal an ein historisches Thema zu wagen war offenbar keine gute Idee. Na ja, einen Versuch war's wert.

 

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