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Der Verrat
Der Verrat
Das Klingeln meines Smartphones riss mich aus meinen Träumen. „Verdammt“, murmelte ich. Ein Blick auf das Display zeigte mir, dass es schon zehn Uhr war. Ich nahm ab. Es war Anna – meine beste Freundin.
„Willst du nicht auch mal wieder aufstehen?“, fragte sie mich freundlich.
„Nein“, brummelte ich.
„Du, ich stehe mitten in der Pausenhalle und warte seit Tagen, dass du wieder in die Schule kommst. Du kannst doch nicht einfach alles hinschmeißen, nur weil …“
Ich schnaubte verächtlich und Anna begriff, dass sie ein wundes Thema angeschnitten hatte. „Komm, du schaffst es noch zur Vierten in die Schule!“, wechselte sie das Thema. Das musste man ihr lassen, sie gab sich zumindest Mühe, mich nicht noch deprimierter zu stimmen, als ich ohnehin schon war.
„Ich will aber nicht in die Schule“, murmelte ich.
„Victoria!“
Ich stöhnte genervt auf. Warum ließ sie mich nicht einfach in Ruhe? Sie konnte noch so oft anrufen, wie sie wollte, ich würde nicht aufstehen.
„Bis demnächst – vielleicht“, brummte ich ins Telefon und legte auf.
Zehn Minuten später hörte ich die Hausklingel. Ich zog mir das Kissen über den Kopf. Wer auch immer da draußen war, konnte lange warten. Ich würde nicht aufstehen. Nie wieder. Plötzlich hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss umdrehte. „Mist“, fluchte ich. Anna. Warum hatte ich ihr nur gesagt, wo der Ersatzschlüssel versteckt ist? Einen Moment später stand meine Freundin auch schon in meinem Zimmer.
„Vicky, ich verstehe dich einfach nicht!“, seufzte sie. Ich streckte den Kopf unter meinem Kissen hervor.
„Willst du nicht einfach gehen? Ich hab zurzeit nicht wirklich Lust auf Gesellschaft“, jammerte ich.
„Nein, ich werde nicht zulassen, dass du ewig depri im Bett liegst!“ Ich hörte die Besorgnis in ihrer Stimme. Für einen Moment überlegte ich, die Decke wegzuschieben und tatsächlich aufzustehen, aber die Demotivation siegte und ich drehte mich auf die andere Seite, sodass Anna nur noch meinen Rücken sah.
„Meine Güte!“, rief Anna. „Du hast ihn nur einmal geküsst und das unterm Mistelzweig. Und ihr wart beide betrunken!“
Frustriert drehte ich mich um. „Aber sie wusste, dass ich ihn mag“, konterte ich. Und jetzt ging sie mit ihm … was für eine Scheißfreundin.
Anna sah sich ratlos in meinem Zimmer um. Ihr Blick fiel auf meinen Kleiderschrank. Sie riss die Türen auf, zog einen Pullover hervor und meinte. „Zieh das an. Du musst hier raus, bevor du noch komplett in Depressionen versinkst!“ Ich betrachtet den pinken Pullover und schüttelte den Kopf. Den konnte ich unmöglich anziehen. Ich hatte ihn getragen, als wir uns auf der Weihnachtsfete geküsst hatten. Die Erinnerung an seine weichen, sanften Lippen ließ mich erschaudern. In diesem Moment war etwas zwischen uns gewesen, ich hatte es gespürt. So etwas bildete man sich nicht ein.
„Nein, den kann ich nicht anziehen!“, sagte ich laut.
„Und das hier?“ Sie hielt mir mein geliebtes schwarzes Top hin. Wehmütig schloss ich die Augen. Ich hatte es an dem Tag getragen, als wir mit unserem Geschichtskurs ein griechisches Museum besucht hatten. An dem Tag hatten wir uns echt gut verstanden. Es war kurz nach dem Kuss gewesen und ich hatte mir Hoffnungen gemacht. Vergebliche – wie sich ja jetzt herausgestellt hatte. Ich schüttelte den Kopf erneut. „Das auch nicht.“
Auch das nächste Oberteil, dass Anna mir hinhielt, erinnerte mich an eine Situation mit ihm. Wir hatten zusammen Gruppenarbeit gemacht.
„Nein!“, sagte ich entschieden.
Anna war deutlich frustriert. Jedes Kleidungsstück, das sie mir hinhielt, lehnte ich ab. Mein ganzer Kleidungsschrank war verbunden mit Erinnerungen. Erinnerungen an eine hoffnungslose Schwärmerei für den Typen, der jetzt der Freund meiner ehemals beste Freundin war.
„Dann zieh eben das an!“, meinte sie und zog kurzerhand ihr Top und ihre Jeans aus. Jetzt hatte ich keine Ausrede mehr noch länger im Bett liegen zu bleiben.
„Danke“, meinte ich, nachdem ich fertig angezogen war. Sie hatte sich in der Zwischenzeit etwas von mir ausgeliehen. Ich seufzte. Hatte sie ausgerechnet das Blümchenoberteil nehmen müssen? Ich hatte es getragen, als ich mein Referat über das Ökosystem See gehalten hatte und Sebastian der erste gewesen war, der mir ein positives Feedback gegeben hatte. Na ja, da musst ich jetzt wohl durch. Immerhin hatten Anna und ich die gleiche Größe, das machte die Kleidertauschaktion einfacher.
„Und jetzt?“, fragte ich.
„Jetzt gehen wir ins ‚Sissi‘. Du musst hier dringend mal raus!“
Ich verdrehte die Augen, aber sie hatte ja recht: Mal etwas anderes sehen würde mir guttun.
„Okay!“, stimmte ich schließlich zu. „Ich brauche aber erst noch ein wenig Geld.“ Mit diesen Worten ging ich in das ehemalige Arbeitszimmer meiner Mutter und nahm mir ein wenig Geld aus dem rosafarbenen Sparschweinchen. Meine Mutter lebte schon seit einigen Jahren nicht mehr zu Hause. Sie war an Schizophrenie erkrankt, als ich gerade mal sieben Jahre alt war. Seitdem wurde sie in einer Klinik behandelt. Nur leider schienen die Medikamente nie so anzuschlagen, dass sie zurück nach Hause konnte. Meinem Vater wurde das irgendwann alles zu viel und er brannte mit irgendeiner Blondine durch. Das war jetzt auch schon ein paar Monate her. Da ich in zwei Monaten 18 wurde, hatte das Jugendamt beschlossen eine Ausnahme zu machen, und mich alleine wohnen zu lassen.
Anna und ich verließen das Haus. Als wir vor dem ‚Sissi‘ standen, zögerte ich. Das ‚Sissi‘ war der Stammtreffpunkt unserer Clique. Normalerweise trafen sich dort alle nach der Schule. Ich wusste gar nicht, was ich meinen Freunden sagen sollte, warum ich die letzte Zeit nicht besonders oft da war. Außer Anna und Sarah wusste nämlich niemand etwas von meinen Gefühlen für Sebastian – und Sarah war ja nun mit ihm zusammen.
Als wir eintraten, krampfte sich mein Magen zusammen. Suchend blickte ich mich um. Aber ich entdeckte weder Basti noch Sarah. Ich atmete erleichtert auf. Wenigstens konnte ich mich hier entspannen. Das Café war schon immer ein Rückzugsort für mich gewesen, vor allem in der Zeit, wo es meiner Mutter immer schlechter ging und mein Vater eines Morgens verschwunden war und nur einen Zettel dagelassen hatte, auf dem stand, wo das Geld war, wann die Miete fällig wurde und dass er mich trotz allem lieben würde, aber es einfach nicht mehr mit der Krankheit seiner Frau ausgehalten hätte. Das hatte mich tief getroffen.
Ich entdeckte Melissa und Chiara an einem der Tische und steuerte automatisch auf sie zu. Als die Beiden uns entdeckten, lächelten sie.
„Vicky, hi!“ Chiara nahm mich liebevoll in die Arme.
„Wie geht es dir?“, fragte sie und rutschte zur Seite, sodass ich mich neben sie setzten konnte. Auch Melissa begrüßte mich warmherzig. Es dauerte nicht lange, bis Peter, Patrick und Karolin auftauchten. Auch sie begrüßten mich herzlichst. Ich merkte, dass sie sich Mühe gaben, alles normal wirken zu lassen und möglichst nicht darauf einzugehen, dass ich fast zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt war.
„Und? Was gibt es Neues?“, fragte mich Peter zwischen zwei Bissen seines Sandwiches. Ich musste lächeln. Peter war schon immer ein leidenschaftlicher Esser gewesen. Jedes Mädchen, das ich kenne, beneidet ihn um seinen Stoffwechsel, dass er so viel essen konnte, ohne dick zu werden.
„Nicht viel“, antwortete ich leise. Ich konnte ihm ja schlecht erzählen, dass ich zwei Wochen lang nur im Bett gelegen hatte, weil meine beste Freundin mit meinem Schwarm zusammen war.
Allerdings bewunderte ich Anna für ihr Überredungstalent. Vor zwölf Stunden hätte ich es nie für möglich gehalten, jetzt hier im ‚Sissi‘ mit meinen Freunden zu sitzen. Ich lächelte ihr dankbar über den Tisch zu. Sie verstand meinen Blick und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Ja, Anna und ich waren ein Herz und eine Seele. Wir hatten uns im Kindergarten kennengelernt, weil ich ihr ein Taschentuch geliehen hatte, nachdem sie sich am Tisch den Kopf gestoßen hatte. Daher hatte jeder von uns in seinem Zimmer auch ein eingerahmtes Taschentuch hängen. Es war unser Freundschaftsbeweis. Alle, die davon wussten, hielten uns zwar für bescheuert, aber das war uns egal. Wir waren seelenverwandt und das Taschentuch symbolisierte das nun mal.
Ich hörte, wie sich die Tür öffnete. Erschrocken drehte ich mich um. Hoffentlich waren es nicht Sarah und Basti. Aber ich hatte Glück, es war nur Sören.
„Morgen allerseits!“, grüßte er und quetschte sich noch auf unsere Bank. „Morgen!“, antworteten wir im Chor. Er entdeckte mich und beugte sich vor, um mich zu umarmen.
„Hi, Vicky! Was geht? Dich hat man ja lange nicht gesehen.“
Ich lächelte gezwungen. „Nicht viel“, antwortete ich. Eigentlich gar nichts, hätte ich am liebsten hinzugefügt.
„Und habt ihr schon alle gepackt?“, fragte Sören nach einer Weile. Ich runzelte die Stirn.
„Ich bin noch dabei“, meinte Chiara.
„Ich bin fertig!“, kreischte Melissa stolz. Normalerweise brauchte sie mehrere Tage zum Packen. Dieses Mal hatte sie es an zwei Tagen geschafft. Patrick klopfte ihr auf die Schulter und Peter verkündete lauthals: „Ein neuer Weltrekord!“ Melissa wurde rot. Alle wussten, dass sie auf Peter stand, er aber nicht mehr von ihr wollte als Freundschaft. Ich bewunderte sie dafür, dass es sie von innen nicht zerfraß, trotz ihrer Gefühle nur eine gute Freundin für ihn zu sein.
„Worum geht es denn?“, fragte ich verwirrt. Warum packten alle ihre Koffer?
„Vicky!“ Patrick sah mich schockiert an. „Ist sie krank?“ Er fühlte meine Stirn.
„Wie lange warst du noch mal weg?“, fragte Peter spöttisch. Jetzt war ich völlig verwirrt.
„Am Wochenende findet doch der alljährliche Ausflug zum See statt“, klärte mich Sören auf. Ich schlug mir vor den Kopf. Man, wie hatte ich das vergessen können. Der Campingausflug zum See war schon so was wie Tradition in unserer Clique. Seit drei Jahren fuhren wir im Sommer übers Wochenende an den Kiesteich, zelten da und machten abends ein Lagerfeuer.
„Kommst du nicht mit?“, fragte Chiara auf einmal.
„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte ich.
„Was? Warum denn?“, fragte Karo verwirrt.
„Du gehörst doch mit zur Clique. Das ist Tradition. Du musst mitkommen“, meinte Melissa.
„Ja!“ „Genau!“, stimmten die anderen ihr zu. Plötzlich war es mucksmäuschen still und alle starrten mich an. Ich überlegte.
„Wer kommt denn noch so mit?“, fragte ich.
„Na wir alle!“, antwortete Sören.
Ich zögerte. Anna nickte mir aufmunternd zu.
Ich gab mir einen Ruck. „Okay, ich komme mit.“ Die Clique jubelte und ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich richtig wohl. Ich war zurück.
Drei Tage später:
Nervös stand ich vorm Spiegel. Ich kämmte meine Haare zum x-ten Mal durch. Ich zweifelte, ob es eine gute Idee gewesen war zu zusagen. Was wenn sie mich fragten, wo ich die letzten zwei Wochen war? Ich konnte meine Freunde nicht anlügen. Die Wahrheit konnte ich ihnen aber auch nicht sagen. Ich ließ die Bürste in meinen kleinen Koffer fallen. Meine Campingausrüstung lag daneben. Zum Glück brauchte ich nicht viel, weil Anna immer das Zelt mitbrachte. Ich betrachtete ein letztes Mal mein Spiegelbild, meine stumpfen blonden Haare, meinen schmalen Mund und meine blauen Augen, die ich mit ein wenig Wimperntusche betonte. Ich war groß und schlank, hatte aber kurze Beine, was mich schon immer gestört hatte.
Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass ich mich beeilen musste, wenn ich noch pünktlich kommen wollte. Schnell nahm ich meinen Koffer und die Campingausrüstung und verließ das Zimmer. Dann machte ich mich auf den Weg zum Einkaufszentrum – dem traditionellen Treffpunkt.
Als ich dort ankam, waren Melissa, Maria und auch einige andere schon da. Ich gesellte mich zu Melissa.
„Hi!“, grüßte ich sie.
Sie blickte von ihrem Handy auf und lächelte mich an. „Sekunde“, meinte sie. Ich merkte, wie sie rot wurde, und schloss daraus, dass sie mit Peter geschrieben hatte. Melissa drückte auf ‚senden‘, steckte ihr Smartphone weg und umarmte mich zur Begrüßung.
„Wie geht es dir?“, fragte ich sie.
„Gut und dir?“
„Mir auch.“ Ich lächelte. Die Sonne schien und es war schon so früh morgens sehr warm. Es würde ein schöner Tag werden. Genau richtig für den Ausflug zum See.
Gemeinsam warteten wir auf den Rest, der mit den Autos kommen würde, damit wir zum See fahren konnten.
„Vicky!“ Ich hörte Anna meinen Namen rufen und sah, wie sie auf mich zu kam. Sie umarmte mich herzlich.
„Hi! Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, es würde mir gut tun.“ Ich verschwieg ihr meine Ängste. Sie schien trotzdem etwas davon zu spüren, denn sie drückte aufmunternd meinen Arm.
„Christoph kommt auch mit. Fährst du bei uns oder bei Peter mit?“ Ich merkte, wie Melissa bei der Erwähnung seines Namens zusammenzuckte. Ich konnte mir vorstellen, wie gerne sie mit ihm fahren würde.
„Ich fahre bei euch mit“, erwiderte ich deshalb, obwohl Peter mich schon gefragt hatte.
„Gehen wir dann schon mal? Wir könnten alles aufbauen. Die anderen werden bestimmt auch gleich losfahren“, fragte Anna.
Ich nickte. Mittlerweile waren auch die meisten anderen eingetroffen. Dort standen Karolin, Sören und Patrick. Sie warteten auf Peter. Melissa blickte zu ihnen herüber. Ich lächelte ihr aufmunternd zu und sie gesellte sich zu den Dreien. Ich grinste, als ich sah, wie sie ihren Bauch einzog, als Peters tiefergelegter Scirocco auf den Parkplatz kam. Sie würde es wohl nie lernen, dass keinen aus der Clique ihre etwas korpulentere Figur störte. Melissa war das perfekte Beispiel dafür, dass die Leute aus der Clique die Menschen nicht nach Äußerlichkeiten beurteilten. Ich wusste, dass Basti und Melissa vor ein paar Jahren mal zusammen gewesen waren. Ich schloss die Augen. Ich erinnerte mich an den Tag, wo ich in die Schule gekommen war und Sarah und Basti sich direkt vor meinem Schließfach geküsst hatten. Mir war der Atem stocken geblieben und ich hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und dabei noch einen kleinen Fünftklässler umgerannt. Sarah hatte meinen Namen gerufen, aber ich hatte sie ignoriert und die Schule fast schon rennend verlassen. Tränen brannten mir in den Augen. Ich fühlte mich belogen und verraten. Sarah war schließlich meine beste Freundin gewesen. Und sie hatte gewusst, dass ich Sebastian mochte. Warum hatte sie mir das angetan?
Damals war es das erste Mal gewesen, dass ich die Schule geschwänzt hatte. Selbst als meine Mutter in die Klinik eingewiesen wurde, war ich weiterhin zur Schule gegangen. Ich hatte damit auch nicht aufgehört, als mein Vater mich verlassen hatte und ich völlig auf mich gestellt war und niemand Verantwortung für mich übernehmen konnte. Meine Verwandten wohnten alle mehrere Autofahrstunden von mir entfernt. Wir waren nämlich umgezogen, als ich noch ein Baby war, weil meine Mutter damals die ganze Zeit über sehr traurig gewesen war. Als sie zum ersten Mal einen Therapeuten aufsuchte, wurde Depression diagnostiziert. Erst Jahre später fiel den Ärzten auf, dass sie schizophren war.
„Kommst du?“, unterbrach Anna meine Gedanken. Ich nickte und folgte ihr. Chiara fuhr auch bei uns mit. Gemeinsam warfen wir unsere Sachen in den Kofferraum. Ich rutschte auf den Beifahrersitz, weil mir hinten bei längeren Autofahrten immer schlecht wurde und zum See waren es um die 70 Kilometer.
„Hi!“, grüßte ich Christoph. Christoph war Annas Freund. Die beiden gingen schon seit drei Jahren miteinander und ich war mir sicher, dass sie irgendwann mal heiraten würden.
„Hi, schön dich mal wieder zu sehen“, begrüßte er mich. Christoph gehörte nicht so zur Stammclique wie Anna, Peter oder ich. Er und Anna hatten sich bei einem Tennisturnier kennengelernt, aber er kam aus einer anderen Stadt, sodass sie sich nur zwei, drei Mal im Monat sehen konnten. Wenn aber größere Ausflüge von der Clique anstanden, war er immer dabei.
Zwei Stunden später:
Christoph verließ die Autobahn und bog nach hundert Metern in eine Seitenstraße ab. Na ja … Wenn man das noch Straße nennen konnte. Es war eher ein besserer Feldweg. Das Auto ruckelte und ich konnte Peter förmlich vor mir sehen, wie er um sein tiefergelegtes Auto bangte. Mitleid hatte ich keines mit ihm. Wenn er immer angeben musste, konnte er selber sehen, wo er mit den Nachteilen, die sich daraus bildeten, blieb. Wir fuhren noch eine gute halbe Stunde über diverse Feldwege, als wir endlich beim See ankamen. Das Gebiet und damit auch die Sommerhütte und der See gehörten Chiaras Großeltern, sodass wir das „Betreten verboten!“-Schild getrost ignorieren konnten. Wir parkten direkt vor der kleinen Holzhütte und begannen die Sachen auszuladen.
„So“, meinte Christoph. Ich hörte das Klacken des Bierdeckels. „Das muss jetzt erst mal sein!“ Anna blickte ihn vorwurfsvoll an.
„Und wer fährt uns morgen zurück?“
Er grinste. „Du?“ Seine Freundin verdrehte die Augen. „Klar, ich hab ja auch schon einen Führerschein!“
„Nicht?“ Er zog seine Augenbrauen hoch.
„Du …“ Anna warf ihm einen drohenden Blick zu, doch bevor sie sich auf ihn stürzen konnte, hatte er sie schon in seine Arme geschlossen und ihr einen zärtlichen Kuss gegeben. Ich wandte den Blick ab und beobachtete Chiara. Sie war 16 und hatte noch keinen Freund gehabt. Komischerweise hatte sie auch gar kein Bedürfnis dazu. Sie hätte den Richtigen noch nicht kennengelernt, sagte sie immer, wenn man sie danach fragte. Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. Ich hatte den Richtigen gefunden: Sebastian. „Hilfst du mir mal?“, fragte Chiara freundlich.
„Klar!“ Gemeinsam bauten wir das Zelt auf.
„Mensch, ist das schon warm“, stöhnte sie und band sich ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Ich stimmte ihr ohne Einwände zu. Es war wirklich extrem warm. Mein Handy zeigte mir 27 Grad an – und das vormittags.
„Wir sollten zur Mittagszeit in die Hütte gehen, nicht das wir uns noch einen Sonnenbrand holen“, sagte ich.
Chiara nickte zustimmend.
Ein paar Minuten später kamen zwei weitere Autos. In dem einen saßen Peter, Melissa – ich musste lächeln, sie hatte es sogar auf den Beifahrersitz geschafft, Sören, Patrick und Karolin und aus dem blauen Golf stiegen Ben, Laura, Stefan, Gerrit und Maria aus.
Chiara lief fröhlich auf sie zu und begrüßte sie mit einer Umarmung. Ich hielt mich etwas abseits. Was sollte ich schon großartig machen? Ich wartete lieber, bis der erste Ansturm vorbei war, und mischte mich dann unscheinbar unters Volk. So entging ich vielleicht der Fragerei wegen meines spurlosen Verschwindens. Na ja, so viel zu der Theorie. Dass das in der Praxis nicht klappte, hätte ich mir ja denken können.
„Vicky! Du weilst ja wieder unter den Lebenden!“, rief Gerrit und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich zog die Augenbrauen hoch und nickte zustimmend. Bevor wir uns weiterunterhalten konnten, kamen Stefan und Laura händchenhaltend auf uns zu. Laura umarmte mich freundlich.
„Hi, schön dich wieder zu sehen. Wo warst du denn die letzte Woche? Man hat dich gar nicht mehr im ‚Sissi‘ gesehen. Und im Unterricht warst du auch nicht.“ Stefan nickte zustimmend. Ich konnte mir nicht helfen, aber irgendwie sah er schon bekifft aus. Ich verdrehte die Augen. Wie konnte man am helllichten Tage schon am Joint ziehen? Das war mir unbegreiflich.
„Vicky?“ Laura sah mich besorgt an. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Ich nickte und überlegte fieberhaft nach einer Möglichkeit mich aus dieser unangenehmen Situation zu ziehen, ohne dass es auffiel. Mir wollte bloß nichts einfallen und ich konnte ihre Frage doch nicht beantworteten. Aber was blieb mir anderes übrig? Ich war eine entsetzlich schlechte Lügnerin. Ich setzte zu einer Antwort an. Ich zitterte. Was würden sie wohl von mir denken?
In dem Moment sah ich meine Rettung. Anna, Chiara und Christoph kämpften mit unserem Zelt.
„Entschuldigt mich kurz“, meinte ich daher, berührte Laura kurz am Arm und beeilte mich dann den anderen zu helfen.
Das war jedoch nicht so einfach, wie es erst den Anschein gehabt hatte. Die Zeltstangen hatten sich irgendwie in der Plane verheddert. Letztlich mussten noch Gerrit und Stefan kommen, aber gemeinsam schafften wir es, Ordnung in das Wirrwarr zu bringen. Als wir fertig waren, strich ich mir erleichtert eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mensch, war das warm geworden. Aber es war ein schönes Gefühl, etwas geschafft zu haben. Ich lächelte glücklich in die Runde. Ich hatte mich lange nicht mehr so gut gefühlt. Die anderen erwiderten mein Lächeln. Anna war sichtlich erleichtert, dass ich so aufblühte. Plötzlich verdunkelte sich ihre Miene allerdings und sie sah an mir vorbei. Verwirrt drehte ich mich um und folgte ihrem Blick. Was war denn jetzt los?
Ich erstarrte, als ich das Auto erkannte, dass gerade den Feldweg entlang fuhr und neben Gerrits Golf parkte. Ich traute meinen Augen nicht, das konnte doch nicht sein … Aber ich hatte mich nicht getäuscht. In dem schwarzen Käfer saßen ein Junge und ein Mädchen. Als das Mädchen ausstieg, war ich mir ganz sicher: Es war Sarah. Verdammt, ich spürte, wie der Zorn in mir emporloderte. Er verbrannte förmlich meinen Körper, als ich sah, wie Sebastian aus der Fahrertür ausstieg, zu Sarah ging, ihr den Arm um die Schultern legte und sie liebevoll küsste. Ich spürte, wie Anna hinter mich trat und mich tröstend in den Arm nehmen wollte. Ich stieß sie weg und stapfte auf das Pärchen zu.
„Was macht ihr denn hier?“ Ich stellte selber fest, dass meine Frage vorwurfsvoller klang, als sie gemeint war.
„Wir lassen uns doch nicht das alljährliche Cliquenfest entgehen“, erwiderte Basti etwas verwirrt. Ich vergaß für einen Moment zu atmen, als ich ihn ansah betrachtete. Sein kurzes, blondes Haar, die kristallklaren blauen Augen, die im Sonnenlicht wie Diamanten funkelten, seine vollen Lippen und seine Grübchen, die man immer zu sehen bekam, wenn er sein bezauberndes Lächeln lächelte.
Dann blitzte ich Sarah böse an.
„Ich glaube, wir müssen reden“, stieß ich zwischen zusammengebissen Zähnen hervor. Ich musste all meine Kraft aufwenden, um nicht vor Sebastian eine Szene zu veranstalten. Das wäre nicht nur äußerst peinlich, sondern würde auch meine monatelang verheimlichte Schwärmerei offenbaren.
„Vicky, ich … ich kann das erklären“, Sarah klang besorgt. Aber das war mir egal. Ich war einfach nur wütend.
„Was stehst du dann noch hier?“, konterte ich.
„Gehen wir in die Hütte?“, fragte Sarah.
Ich nickte. Basti starrte uns an. Der Arme musste völlig verwirrt sein. Das letzte Mal, als er uns zusammengesehen hatte, waren wir ein Herz und eine Seele gewesen.
Als wir in die Hütte gingen, zog ich die Holztür so aggressiv zu, dass Sarah mich schockiert ansah.
„Vicky …“, begann Sarah. Doch ich ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen.
„Wie konntest du nur?“, fuhr ich sie an. „Du, als eine meiner besten Freundinnen …“
„Ich habe mich in ihn verliebt und …“
Ich unterbrach sie: „Ach und ich nicht?!“
„Doch …“
„Na also. Du wusstest es doch, oder?“
Sie nickte. Ich sah ihr an, dass sie sich nicht wohlfühlte in ihrer Haut, aber das war mir nur recht.
„Dann verrate mir um Himmels willen, warum du jetzt mit ihm zusammen bist. Ich dachte wir wären Freundinnen!“
Ich schrie jetzt. Mir war es egal, ob man uns draußen hörte. Ich war viel zu wütend um einen Gedanken an die dünnen Holzwände zu verschwenden, die uns nur von den anderen trennten. „Aber das sind wir doch“, erwiderte Sarah.
Ich lachte lautstark los. „Das soll jetzt wohl ein Scherz sein? Oder?“
„Nein. Ich meine, es tut mir ja leid. Es ist halt einfach so passiert.“
„Einfach so passiert? Es passiert nicht so einfach, dass man der Freundin den Schwarm ausspannt. Schon mal was von Loyalität gehört?“ Ich kreischte förmlich.
„Vicky, du wirst jetzt aber unfair!“, meinte Sarah gekränkt. „Ich hab mich doch entschuldigt.“
„Das heilt aber kein gebrochenes Herz.“ Ich schniefte. Ärgerlich wischte ich mir ein paar Tränen fort.
„Komm, du warst ja nicht mit ihm zusammen.“
„Trotzdem, du wusstest, dass ich ihn mag.“
„Warum hast du ihn dann nie angesprochen? Ist ja nicht so, dass Anna und ich dich nicht mehrfach dazu ermutigt haben, ihn anzusprechen. Aber du wolltest ja nie.“
Mittlerweile war Sarah nicht mehr bemüht, ihren genervten Tonfall zu unterdrücken.
„Ja, weil ich mich nicht getraut habe.“
„Das ist doch so was von dämlich, wo du so in ihn verknallt warst …“
„Bist …“, unterbrach ich. „Und du hast ihn mir weggenommen.“
„Vicky, du siehst das völlig falsch!“
„Oh nein! Du bist eine Diebin. Eine gemeine, eingebildete Diebin. Du glaubst du könntest alles haben, aber so ist es nicht.“
Sarah starrte mich entgeistert an.
„Drehst du jetzt völlig durch?“, fragte sie.
„Oh nein, die Einzige, die den Verstand verloren hat, bist du, du diebische Elster. Du blöde Schlampe!“, schrie ich sie an.
Sarah platzte der Kragen.
„Wie bitte?!“ Sie starrte mich entgeistert an. „Wie hast du mich genannt?“
Ich starrte sie trotzig an. „Wiederhol das!“, schrie Sarah hysterisch.
„Schlampe. Du bist eine Schlampe“, wiederholte ich trocken.
„Ach ja?“ Sarah traten Tränen in die Augen. „Vielen Dank auch. Du bist ja wirklich schon fast genauso verrückt wie deine Mutter“, keifte sie.
Ich funkelte sie wütend an. „Meine Mutter ist nicht verrückt!“
„Ach nein? Warum sitzt sie dann in einer Anstalt?“
Meine Lippen zitterten, so sehr presste ich sie vor Wut zusammen. Kurzerhand machte ich einen Schritt auf meine ehemalige Freundin zu und verpasste ihr einen Kinnhaken. Schockiert starrte sie mich an.
„Au!“, entfuhr es ihr.
„Das hast du davon“, brummte ich sie an.
„Mal ehrlich …“, schrie sie. „Du wärst doch eh nie mit ihm zusammengekommen!“
Mit diesen Worten verließ sie die Hütte. Beim Rausgehen hörte ich sie noch murmeln: „Ich glaube es einfach nicht.“
Dann fiel die Tür ins Schloss und ich drehte mich suchend nach etwas um, an dem im meine Wut auslassen konnte. Ich sah einen Teller auf der Spüle stehen. Kurzerhand nahm ich ihn und schmiss ihn gegen die Wand. Als die Scherben auf den Boden fielen, brach ich in Tränen aus. Meine Hand tat von dem Kinnhaken weh und ich hasste Streit, aber Sarah hatte es verdient gehabt. So wie sie sich benommen hatte, benahm sich keine Freundin. Kraftlos sank ich auf den Boden.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich beruhigt hatte. Es wunderte mich, dass keiner nach mir gucken kam. Aber wahrscheinlich waren sie alle damit beschäftigt, die arme, kleine Sarah zu verarzten. Hoffentlich tat ihr Gesicht ordentlich weh. Sie hatte es wirklich verdient. Ich hörte, wie die Tür aufging. Schnell wischte ich meine Tränen fort. Aber es war nur Anna.
„Hi!“, meinte sie leise.
Ich antwortete nicht. Wortlos hielt sie mir ein Taschentuch hin. Dankbar nahm ich es an.
„Das war ein hässlicher Streit, hm?“, fragte sie mich nach einer Weile.
„Als ob ihr da draußen nicht alles gehört hättet“, antwortete ich spöttisch.
„Wir haben nur einzelne Wörter gehört, dann ist Sarah weinend rausgelaufen gekommen und … wir haben sie getröstet.“ Auch wenn sie versuchte ihr Stocken zu vertuschen, wusste ich, dass nicht alle sie getröstet hatten, sondern nur eine ganz bestimmte Person: Sebastian. In mir kochte die Wut.
„Wo ist sie jetzt?“, fragte ich.
„Mit den anderen unten am See. Wir spielen Volleyball. Ich wollte fragen, ob du mitkommen willst.“
Ich lachte auf: „Nach der Szene eben? Wohl kaum.“
„Vicky, ich glaube die meisten haben gar keinen Plan, worum es überhaupt ging. Sarah hat es ihnen nicht erklärt.“
„Nicht?“ Ich an ihrer Stelle hätte es getan.
„Komm mit. Es wird dir gefallen. Du spielst doch so gerne Volleyball.“
Ich starrte das Taschentuch in meinen Händen an.
„Außerdem bist du die Einzige von uns, die wirklich Volleyball spielen kann. Wir anderen rennen doch eher nur dem Ball hinter her.“
Ich sah Anna an, die sich neben mich gesetzt hatte und blickte in ein leicht besorgtes Lächeln. Ich schluchzte. Müde lehnte ich meinen Kopf an ihrer Schulter. Sie drückte mich aufmunternd. Es tat gut zu wissen, dass es in der ganzen Welt noch Freunde gab, die für mich da waren. Na ja, eher eine Freundin. Es klopfte erneut und die Tür ging auf. Es war Ben. Ben war mein bester Freund. Wir waren Nachbarn und kannten uns von klein auf. Schon als kleiner Junge hatte er eine Vorliebe fürs Tanzen entwickelt. Dafür war er oft gehänselt worden und die Beleidigungen hatten noch zugenommen, als er sich dazu bekannt hatte, schwul zu sein. Zu der Zeit hatte ich ihm immer zur Seite gestanden. Es war damals sehr schwierig gewesen. Nur die Leute von der Clique hatten hinter ihm gestanden. Mittlerweile hatte sich alles zum Guten gewendet und Ben hatte in seinem Tanzkurs einen festen Freund gefunden.
„Wollen wir jetzt los?“, fragte er fröhlich. Als er sah, dass ich weinte, kam er besorgt näher.
„Was ist denn los?“ Er kniete sich vor mir nieder. Ich wischte meine Tränen fort und sah ihn an. „Nichts“, schniefte ich.
Er lachte. „Also wenn das ‚nichts‘ ist, möchte ich dich nicht erleben, wenn du mal richtig deprimiert bist.“
Ich musste lachen. Er zwinkerte mir zu. Ich verzog meine Lippen zu einem Schmollmund. In Bens Nähe konnte ich einfach nicht lange sauer, traurig oder frustriert sein. Dafür war er ein viel zu lebensfroher Mensch, der mich mit seinen Sprüchen immer zum Lachen brachte.
„Komm! Wir gehen jetzt Volleyball spielen!“ Ich ließ mich von ihm auf die Beine ziehen und folgte Anna bereitwillig nach draußen. Die Sonne schien. Es war einfach herrlich. Dennoch lag ein Schatten über dem Tag.
„Du hast dich nicht gemeldet“, unterbrach Ben meine Gedanken.
Ich nickte schuldbewusst. „Ich brauchte eine Zeit für mich allein“, antwortete ich wahrheitsgetreu.
Er nickte. Das war das Schöne an Ben. Wenn man von sich aus nicht viel erzählte, ließ er einen in Ruhe und bohrte nicht ewig nach, wie es manch andere machten.
Als ich jedoch am See ankam, stockte ich. Ich sah Sarah bei Sören, Basti, Patrick und Karolin stehen. Als sie mich kommen sahen, starrten sie mich feindselig an. Na super, so viel zu Annas Theorie, dass Sarah nichts gesagt hatte. Ich war geliefert. Ich schloss demütig die Augen, als ich sah, wie Sebastian auf mich zu kam.
„Sag mal … Was sollte das denn?“, fragte er mich vorwurfsvoll.
Ich senkte den Blick und schwieg.
„Wenn du meine Freundin schon als Schlampe beleidigst und ihr einen Kinnhaken verpasst, habe ich doch wohl immerhin eine Erklärung verdient. Findest du nicht?“
Ich schwieg weiterhin. Hätte ich mich doch bloß mehr zusammengerissen. Das bisschen Genugtuung, das ich nach meinem Streit Sarah gegenüber gehabt hatte, verschwand bei jeder Sekunde unter Bastis anklagendem Blick mehr und mehr.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich schüchtern.
Der Junge meiner Träume schnaubte verächtlich.
„Klar“, brummte er. Dann ging er zu den anderen zurück und fing den Wasserball auf, den Peter ihm zugeworfen hatte. Zusammen mit ihm, Sören, Sarah, Patrick und Karolin ging er ins Wasser ohne die anderen eines Blickes zu würdigen. Melissa sah mich entschuldigenden an und folgte ihnen. Gemeinsam begannen sie das Spiel
„Wir haben die Teams schon aufgestellt. Du spielst mit Laura, Maria und mir gegen Ben, Stefan, Gerrit und Anna“, meinte Chiara, die plötzlich neben mich getreten war. „Die anderen spielen Wasserball.“
Für einen Moment sah ich sie irritiert an. Dann schüttelte ich den Kopf.
„Danke, aber ich habe keine Lust mitzuspielen.“ Mit diesen Worten und hängenden Schultern ging ich etliche Meter zum Ufer des Sees und hockte mich in den Schatten eines Holunderbusches.
Chiara und Ben starrten mir verwirrt nach. Normalerweise war ich mit meinem sportlichen Ehrgeiz immer die Erste bei solchen Turnieren – vor allem wenn es um Volleyball ging.
Fünf Stunden später:
Nachdem ich mir einen ganzen Nachmittag über langweilige Ballspiele, vernichtende Blicke von Sarahs engsten Freunden und ein dutzend Nachfragen, ob mit mir alles in Ordnung wäre und ob ich nicht doch mitspielen wolle, angetan hatte, wurde es Zeit, das traditionelle Lagerfeuer vorzubereiten. Anna ließ mich nicht mehr länger in meinen Depressionen verharren und verdonnerte mich dazu mit ihr und ein paar anderen das Holz zusammenzutragen. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir und hörte sie hinter mir flüstern.
Man brauchte kein Hellseher zu sein, dass mein Streit mit Sarah die Clique in zwei Hälften gespalten hatte. Auf der einen Seite Basti und seine Kumpels, auf der anderen Seite Anna und meine engeren Freunde. Ich fühlte mich fürchterlich. Nicht dass ich nur mir das Wochenende verdorben hatte, ich hatte es auch meinen Freunden zur Hölle gemacht, indem ich sie in zwei Gruppen gespalten hatte.
Als wir alle im Kreis saßen und das Feuer zu lodern anfing, standen Peter und Ben auf.
„Leute, wir haben eine Ansage zu machen“, begann Ben und sorgte so für Ruhe. Danach fuhr Peter fort: „Wir wissen alle nicht, was genau in der Holzhütte vorgefallen ist. Und um ehrlich zu sein, wollen wir es auch gar nicht wissen. Wir sollten auch keine voreiligen Schlüsse ziehen und uns auf verschiedene Seiten stellen.“
Basti wollte protestieren, aber Peter brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Das ist eine Sache zwischen Sarah und Vicky und es bringt wirklich nichts, wenn wir jetzt zwei Parteien bilden. Das würde nur den Abend zerstören.“
Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Jetzt versuchte Peter, der Sarahs bester Kumpel war, nicht nur den Abend, sondern auch meinen Hals zu retten.
„Von daher haben Ben und ich beschlossen, es jetzt ordentlich krachen zu lassen und die Sache mit dem Streit zumindest für die nächsten Stunden zu vergessen.“
Die Clique klatschte jubelnd Beifall und machte sich über die Bierflaschen her. Auch ich griff mir eine. Als ich die kühle Flüssigkeit herunterschluckte, ging es mir gleich besser. Ich lächelte Peter dankbar an, der mir zum Gruß seine Flasche entgegenhielt.
Ich blickte mich um. Alle schienen sich prächtig zu amüsieren. Peters Rede hatte Wunder gewirkt. Es war unglaublich zu beobachten, wie sich die feindlichen Lager in so kurzer Zeit miteinander versöhnten. Ich stellte zum wiederholten Male fest, dass diese Clique mein zu Hause war. Kurzerhand stand ich auf und gesellte mich zu Chiara, Christoph und Anna. Wir stießen fröhlich an und ich leerte mein Bier in einem Zug.
Dann fiel mein Blick auf ein Pärchen, dass etwas abseits in der Dämmerung miteinander schmuste. Ich erkannte Sarah und Basti und die Eifersucht kroch in mir hervor. Frustriert griff ich zur nächsten Bierflasche. Anna beobachtete mich scharf und flüsterte mir ins Ohr: „Ertränk deinen Kummer nicht im Alkohol.“ Dann zog sie mit Christoph von dannen. Chiara und ich gesellten uns zu Sören, Stefan, Laura und Gerrit. Es dauerte nicht lange, da kamen auch Basti und Sarah zu uns. Meine Kehle schnürte sich zu, aber Sebastian war schon so angetrunken, dass er gar nicht mehr böse auf mich war, sondern mir fröhlich zulächelte. Mir wurde ganz warm ums Herz. Diese Wärme verschwand aber genauso plötzlich, wie sie gekommen war, als ich sah, wie Sarah nach seiner Hand griff. Grrr… Ich nahm Stefan die Wodkaflasche aus der Hand und trank einen kräftigen Schluck. Das Brennen des Alkohols war eine willkommene Abwechslung zu der sonst so brennenden Eifersucht. Stefan zog die Augenbrauen hoch. Es war allgemein bekannt, dass ich eher bei dem leichten Zeug blieb und nur sehr selten zu den harten Sachen griff. Aber heute war es mir egal. Ich wollte mir die Kante geben. Dann war alles bestimmt leichter zu ertragen.
„Basti, was geht?!“, rief Ben und gesellte sich zu uns.
„Nicht viel“, der Junge grinste.
„Und bei dir?“, fragte Ben an mich gewandt.
„Auch nicht viel“, antwortete ich wahrheitsgetreu.
„Willkommen im Klub!“ Sebastian hielt mir seine Hand hin und ich schlug ab.
Wir standen eine Weile so da, redeten über alte Zeiten und tranken, irgendwann meinte jemand: „Lass mal die anderen suchen gehen.“ Und die Mehrheit von uns kehrte zurück zum Lagerfeuer. Allerdings hatten weder Peter, Basti noch ich wirklich Lust uns zu bewegen. Ich ließ mich mit meiner vierten Bierflasche auf den Boden sinken und betrachtete Basti von unten, wie er sich eine Zigarette drehte. Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich stand auf. Dabei wurde mir schwindelig. Ich war mir nur nicht sicher, ob das an meinem Kreislauf oder am Alkohol lag. Ich schwankte bedenklich. Peter stützte mich vorsichtshalber.
„Danke“, murmelte ich. „Darf ich mal?“, fragte ich dann an Sebastian gemeint hinzu. Er sah mich irritiert an. Es war weit bekannt, dass ich strikte Nichtraucherin war, aber vielleicht würde mich das Rauchen näher zu ihm bringen, der Alkohol war ja schon mal ein guter Anfang gewesen.
„Wenn du willst.“ Ich nickte. Er hielt mir seine Zigarette hin. Dem Himmel sei Dank hatte ich genug Filme gesehen, dass ich immerhin wusste, wie man das Ding festhielt. Dann zog ich. Es war gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Ich gab Basti seine Zigarette zurück.
„Genau so, nur jetzt hast du gepafft. Normalerweise musst du nach dem Ziehen noch einatmen. Dann kannst du auch ganz viele Rauchwölkchen machen.“ Er machte es mir vor. Ich war frustriert. Wenn ich schon rauchte, dann wenigstens richtig.
„Darf ich nochmal?“, fragte ich deswegen.
„Klar.“ Er reichte mir die Zigarette erneut. Dieses Mal zog ich den Rauch ein, bevor ich ausatmete. Ich musste mir ein Husten unterdrücken. Aber ich hätte es mir wirklich schlimmer vorgestellt. Basti schien überrascht, wie gut ich das Ganze vertrug.
Als Anna einige Zeit später vorbei kam, teilten Sebastian und ich uns gerade die dritte Zigarette. Meine beste Freundin starrte mich entgeistert an.
„Vicky?! Ist alles okay mit dir?“ Ich nickte und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd. Ja, der Wodka begann seine Wirkung zu zeigen. Aber es war mir egal. Auf einmal machte einfach alles wieder Spaß.
„Wir wollen Flaschendrehen spielen. Wollt ihr mitmachen?“, fuhr Anna fort. Die beiden Jungen waren sofort einverstanden und ich schloss mich ihnen an.
Während wir zu den anderen gingen, nahm Anna mich beiseite.
„Vicky, du solltest langsam mal aufhören. Du bist schon ziemlich angeheitert.“
„Ich weiß. Aber es macht Spaß!“, erwiderte ich.
Anna verdrehte die Augen. „Ich korrigiere mich. Nicht angeheitert, sondern betrunken.“ Und mit diesen Worten nahm sie mir die Bierflasche weg. Entgeistert starrte ich sie an.
„Was sollte das denn?“, fragte ich empört.
„Du hattest genug für heute.“
„Ach quatsch. Sei doch keine Spaßbremse.“ Aber Anna machte keine Anstalten mir meine Flasche zurückzugeben. Stattdessen reichte sie mir ihre Wasserflasche.
„Hier. Trink das, das wird helfen.“
„Wieso? Ich bin nicht mal betrunken.“
„Vicky, du rauchst. Du bist so was von betrunken.“
„Nein“, quengelte ich. „Gib mir meine Flasche wieder.“
„Nein“, konterte meine Freundin.
„Anna!“, ich wurde lauter und Peter und Basti drehten sich zu uns um.
„Alles klar bei euch?“, fragte Basti.
„Nein, Vicky will nicht aufhören zu trinken.“
Die beiden Jungen kehrten um. Basti betrachtete mich. Ich wurde rot unter seinem intensiven Blick.
„Ich glaube, Anna hat recht. Du hattest genug für heute, Vicky.“
Ich verdrehte die Augen. Nicht der auch noch.
„Ich kann selber entscheiden, wie viel ich vertrage“, meinte ich wütend und verschränkte trotzig die Arme. Peter stellte seine Wodkaflasche ab.
„Das sind die ersten Anzeichen, dass du zu viel Alkohol hattest“, meinte er. „Du wirst aggressiv.“
„Quatsch“, brummte ich.
„Vicky!“, Anna sah mich besorgt an.
„Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt zu den anderen gehen. Dort können wir ja weiter gucken“, versuchte Sebastian zu schlichten.
„Ich hab keine Lust mehr auf Flaschendrehen. Geht ihr ruhig“, meinte ich und wandte mich von meinen Freunden ab. Anna verdrehte die Augen.
„Ich komm auf dich einfach nicht klar.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du hast definitiv zu viel getrunken. Aber bitte …“
Sie ging mit den anderen zum Lagerfeuer. Meine Bierflasche hatte sie natürlich mitgenommen. Ich spürte einen dicken Kloß im Hals. Vor ein paar Minuten war noch alles perfekt gewesen. Ich war in Bastis Nähe gewesen und er war nett zu mir gewesen. Aber dann war Anna aufgetaucht und hatte alles kaputtgemacht. Ich wollte meinen Alkohol zurück.
„Tzz…“, ich schnaubte verächtlich. Die konnten mich doch alle mal. Die Situation von eben war ja wohl das allerletzte gewesen. Ich wusste selber, wie viel ich vertrug. Es war ja schließlich nicht das erste Mal, dass ich trank. Dennoch blickte ich mich vorsichtshalber um, bevor ich mir die halbleere Wodkaflasche griff, die Peter zurückgelassen hatte. Ich wollte nicht noch mehr Stress provozieren. Mit der Wodkaflasche – die nach dem ganzen Abend wohl mein einziger Freund war – ging ich über die Wiese zum See. Ich setzte mich auf einen Stein, zog meine Schuhe und Socken aus und ließ meine nackten Füße ins Wasser baumeln. Es war schön kühl. Frustriert setzte ich die Flasche an und trank ein paar kräftige Schlucke. Ich verzog das Gesicht. Warum hatte ich mir bloß nichts zum Mischen mitgenommen? Pur konnte man das Zeug nur in Maßen in sich hineinschütten. Obwohl ich das wusste, trank ich weiter. Meine Augen brannten und komischerweise fingen die Sterne an zu tanzen. Ich runzelte die Stirn und schloss die Augen. Fing ich jetzt an zu spinnen? Als ich die Augen wieder aufmachte, merkte ich, dass das keine gute Idee gewesen war. Mir wurde schwindelig. Ich schlug nach dem Wasser, das auf mich zuzukommen schien.
Deprimiert schüttelte ich den Kopf. Selbst das Wasser schien mich nicht zu mögen und wollte mich vertreiben.
„Vicky?“ „Victoria!“ Jetzt waren sie wohl erst recht besorgt und suchten mich. Ha! Sie würden mich nicht finden. „Vicky!“ Ich zuckte zusammen, als ich Bastis Stimme erkannte. Ich trank den Rest des Wodkas in einem Zug aus. Vielleicht war so die Sache mit Sarah und Basti zu ertragen ohne das es wehtat. Ich merkte zu spät, dass der letzte Schluck zu viel gewesen war und fiel nach vorne. Ich spürte das kühle Wasser im Gesicht. Ich atmete tief ein und hustete. Verdammt, ich lag komplett im Wasser. Ich rappelte mich auf und wollte vom Wasser fort, aber meine Beine schienen mein Gewicht nicht mehr zu tragen. Alles um mich herum bewegte sich. Die Sterne tanzten und flogen durch die Luft. Der Boden kam immer auf mich zu, dann ging er zurück. Plötzlich verschwand er völlig. Alles um mich herum wurde dunkel und ich fiel in ein tiefes, schwarzes Loch. Das Letzte, was ich hörte, war Annas aufgelöste Stimme und Bastis Worte: „Schnell, ruft einen Krankenwagen!“