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Der Vertrauensbruch
In diesem Moment hatte sie das Bild von sich, als sei sie ein verwundetes Tier, das mit offenen Flanken vor ihm lag. In ihren Augen spiegelte sich Angst. Angst davor, den gnadenlosen Todesstoß der Freundschaft zu erleben.
„Du hast sie im Stich gelassen“, hatte Bastian gesagt, „Vertrauensbruch ist das Schlimmste, das einem Menschen passieren kann“.
Ihre ungeheuerliche Tat hatte sie ihm eben geoffenbart, aber dahinter verbarg sich für sie auch die schmerzvollste Erfahrung, die sie in ihrem Leben gemacht hatte, die schwerste Verwundung, die ihr Innerstes nun unverhüllt preisgab.
Sie hatte sich verletzlich gemacht. Wie würde er reagieren?
Gab es Hoffnung für die eben erst aufkeimende Freundschaft, die den betörenden Duft eines in der Sommersonne leuchtenden Rapsfeldes in sich trug, alle Sinne berauschend?
Er ging weg, ließ sie alleine mit der bangen Erwartung, in Angst und Sehnsucht.
„Bloß nicht wieder abgelehnt werden“, dachte Dina und setzte sich in Bewegung, um nach Hause zu laufen. „Weiter, nur immer weiter, nicht nachdenken“. Sie begann, ihren Atem, den Herzschlag und die Beine zu spüren. Der Kopf wurde langsam frei, Frieden breitete sich in ihr aus.
Als ein Verfechter, ein Verteidiger, ein Anwalt der Liebe war sie ihm entgegengetreten.
Von drei Anteilen der Liebe hatte sie zu ihm gesprochen, von der selbstlosen, der freundschaftlichen und der erotischen Liebe ihm erzählt.
Bastian wollte nicht geliebt werden. Als es aus ihm herausbrach, weinte er.
"Freiheit und Liebe sind unvereinbar", sagte er, und: "Hinter jedem Lieben steckt das Bedürfnis, geliebt zu werden."
Nun saß sie wieder einmal allein am Rapsfeld, um über ihr Leben nachzudenken. Wie schon so oft lastete die Vergangenheit auf ihr, ließ sich nicht abschütteln, so sehr sie es sich auch wünschte. Gleichzeitig erfüllte Dina eine übergroße Sehnsucht, die ihrem Bedürfnis, geliebt zu werden, entsprang.
Liebe berührt Freiheit. War das nur ein Traum? Gehörten Liebe und Freiheit nicht zusammen?
Konnte eine solche Freundschaft in einer Welt, in der es selbstlose Liebe und absolute Freiheit nicht gibt, erwachen?
Jedenfalls würde sie keinen Vertrauensbruch mehr begehen, die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Sie wollte lieben, egal was es kosten würde. Liebe als immerwährendes Angebot und lieben als fortwährendes Loslassen, in die Freiheit entlassen.
Freundschaft zwischen Liebe und Freiheit. Der Gedanke gefiel ihr. Dina lächelte versonnen in sich hinein. Vielleicht würde ihr das Heilung bringen, ihrer geschundenen Seele Linderung verschaffen.
Wenigstens war es ihr inzwischen möglich, darüber zu reden, den Schatten der Vergangenheit ins Gesicht zu sehen. Schon einmal hatte sie Vertrauensbruch begangen. Damals, als ihr Mann ihre Tochter mißbraucht hatte. Damals hatte sie ihr kleines Mädchen im Stich gelassen, war bei ihrem Mann geblieben und wohnte immer noch mit ihm zusammen.
Inzwischen war aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau geworden, die immer noch damit kämpfte, die Folgen des Traumas ihrer Kindheit zu überwinden, das durch Eßstörungen und einer um sich greifenden Haltlosigkeit schwere Spuren in ihrem noch so jungen Leben hinterlassen hatte.
Dina dachte an Bastian. Er hatte sie nicht, wie sie erst befürchtet hatte, im Stich gelassen, und sie auch nicht verurteilt für etwas, wofür sie sich selbst schon jahrelang verurteilte.
Die vielen Gespräche mit ihm, ihrer beider Auseinandersetzung mit den Themen der Freiheit und Liebe hatten sie gelehrt zu lieben.
Sie sah in das Rapsfeld und atmete den starken Duft der Blüten tief ein. Tat das gut!
So sollte die menschliche Seele sein. Genau wie die Rapsblüten schamlos ihren Duft verströmten, sollte die Seele in der Lage sein, schamlos Liebe zu verschenken.
Soweit war sie noch nicht. Aber auf dem Weg dahin. Entschlossen stand Dina auf.
Niemand würde sie mehr daran hindern können, die Liebe zu geben, die sie nun zu geben bereit war.
Morgen, gleich morgen würde sie ihre Tochter besuchen und ihr das Angebot ihrer Liebe unterbreiten.