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Der Weg
Ich gehe auf dem Weg und blicke in den Himmel, der strahlend blau ist. Irgendwo pfeift ein Vogel fröhlich auf einem Baum. Die Sonne leuchtet an diesem Tag ganz besonders hell herab und erwärmt mein Gesicht, das durch die lange Fahrt ganz trocken geworden ist.
Ich wende mein Gesicht ab und halte den Blick auf die Füße meines Vordermannes gerichtet, der wie im Entengang vor mir her trottet.
Er macht ganz kleine Schritte, so als wolle er sich alle Zeit der Welt lassen. Verständlich, wahrscheinlich ahnt er, wohin wir gehen.
Ich gehe auf dem Schotterweg, dessen Steine meine Schritte knirschen lassen und beobachte die Fersen meines Vordermannes. Sie sind schmutzig, so schmutzig, dass man die wahre Farbe der Schuhe unter dem Dreck überhaupt nicht mehr erkennt. Aber das macht nichts, sie sind wahrscheinlich sowieso schwarz. Er kann froh sein, dass er Schuhe hat.
Ich habe auch welche, aber viele haben keine mehr. Sie haben sie verloren, als man sie hierher gebracht hat, oder schon früher.
Früher.
Früher war alles anders. Ich erinnere mich, wie wir früher als Kinder fangen im Garten gespielt haben und wie viel Spaß wir hatten, wenn Großvater mit uns spielte.
Er war ein lustiger alter Mann gewesen. Hatte uns immer alte Geschichten erzählt. Von zu Hause, so nannte er diese Geschichten immer.
Ich schmunzle, als ich daran denke und trete meinem Vordermann fast auf die schmutzigen Füße. Er dreht sich halb um, weil ich ihn dabei ein wenig angerempelt habe.
„Tut mir leid“, murmele ich auf deutsch und weiss nicht einmal, ob er mich versteht.
Wahrscheinlich schon. Jeder kann deutsch in diesen Zeiten, jeder, der überleben will.
Ich will überleben.
Aber ich gehe auf dem Weg, der jetzt langsam eine Kurve macht und an einem roten Backsteingebäude vorbei führt. Alle Gebäude hier sind backsteinfarben. Fiel mir auf, als wir aus dem Zug sprangen, auch wenn uns nicht allzu viel Zeit geblieben war, um uns umzusehen.
Ich blicke wieder hoch und beobachte all die anderen Menschen, die mit mir gehen. Es sind so viele, dass ich sie unmöglich zählen könnte. Alle gehen sie hintereinander her, manche mit Kindern und Gepäck in den Armen, manche mit nicht viel mehr als ihrer bloßen nackten Haut. Manche haben noch Mäntel an und Hüte auf dem Kopf. Sie sehen richtig schick aus, als wollten sie ausgehen.
Sie gehen aus.
Mit der Zeit gehen sie aus.
Ich gehe auf dem Weg. Es ist inzwischen kein Weg mehr, sondern nur noch grüne Wiese. Grüne Wiese, die eigentlich gar nicht grün ist, aber man stellt sich vor, sie sei grün, weil sie dann schöner aussieht.
Grün ist nichts hier. Gar nichts. Grün hat keinen Platz. Der Himmel ist blau, die Sonne gelbrot, die Backsteinhäuser rot und alles andere grau.
Grau, grau und noch einmal grau. Die Betonplatten, die Bunker und Gefängnisse.
Grau.
Ich gehe auf dem Weg, der mich dahin führt, wo ich noch nie gewesen bin. Ich bin überhaupt noch nie in meinem Leben in diesem Teil der Welt gewesen. Wir sind nicht oft gereist, früher. Wohin auch, uns hätte keiner gewollt.
Aber ich habe mir immer vorgestellt, wie es sein müsste, eines Tages einmal das Meer zu sehen. Die wilden Wellen, die mit ihrer weißen Gischt an Land brausen und einem das Wasser ins Gesicht spritzen. Die Möwen, die mit lautem Geschrei über einem herkreisen, der Geruch von frischem Fisch an der Mole. Franz hat mir einmal davon erzählt. Er ist Hamburger und hat mir davon erzählt.
Franz war mein Freund gewesen, in der Schule. Mein allerbester Freund, bis zu diesem Tag.
Dieser Tag ist wunderschön. Die Sonne knallt noch immer auf mich herab.
Ich gehe auf dem Weg und lausche den Tönen, die von weiter vorne zu kommen scheinen. Ich höre angestrengt hin, um zu erkennen, was es ist.
Eine Musikkapelle spielt am Rand fröhliche Musik und scheint ganz heiter zu sein.
Ich gehe auf dem Weg und lausche der Kapelle. Es gefällt mir, dass sie Musik für uns spielen.
Die Musiker sehen nur etwas komisch aus, in ihren gestreiften Anzügen. Aber das macht nichts, Musik ist Musik.
Ich gehe die Treppe hinunter. Lausche den Anweisungen, die die Männer geben. Sie sind auf deutsch und auf jiddisch.
Ich verstehe kein jiddisch, aber deutsch verstehe ich sehr gut. Ich bin Deutscher. Bin immer Deutscher gewesen, bis zu diesem Tag.
Ich bleibe an einem Kleiderhaken stehen und fange an, mich auszuziehen, wie die Männer sagen. Es macht mir nichts aus, mich vor den anderen zu entkleiden. Dies sind keine Zeiten der Scham.
Ich hänge meine Kleidung an den Haken und werfe einen letzte Blick darauf.
Ein Kind stößt weinend gegen mich und krallt sich an meinem Bein fest.
Ich werfe es von mir und es rennt wie verrückt und laut schreiend durch den ganzen Raum, dessen Decke so tief ist, dass man Angst hat, man könne sich jederzeit den Kopf anschlagen.
Einer der Männer reisst das Kind mit einem dumpfen Knall auf den Boden, zieht seinen Schlagstock und schlägt so lange auf den Kopf des Kindes ein, bis man nichts mehr sieht ausser Blut und roter Masse, die aus der Schädeldecke tropft.
Alle stehen nur da. Schweigen, sehen weg und ziehen sich weiter aus.
Ich stehe starr und stumm. Drehe mich wieder zu meiner Kleidung um. Werde geschoben, von irgendjemandem geschoben. Schwimme mit dem Strom, getrieben von den Schreien der Männer, die auch in komischen gestreiften Anzügen gekleidet sind und sehe wieder nach oben.
Ich kann den Himmel nicht sehen, nur die graue Decke des Gebäudes, aber ich weiss, dass der Himmel nicht mehr blau ist. Ich weiss, dass man die Sonne nicht mehr sieht und auch der Vogel nicht mehr singt.
Ich gehe in den Duschraum und weiss, dass die Kapelle draussen noch immer ihre fröhliche Melodien spielt. Ihre fröhlichen Melodien, die so gut zu diesem schönen Tag passen und mir doch so seltsam vorkamen.
Ich lasse mich schubsen und stoßen, als immer mehr Menschen in den Raum gedrängt werden und man bald kaum mehr richtig atmen kann, so eng ist es.
Als das Licht ausgeht, fangen die Frauen an zu schreien. Irgendwo weint ein Kind.
Ich stehe still und stumm. Denke an das Kind, das draussen liegt und nicht hier im Dunkeln stehen muss.
Denke an all die Kinder, die draussen im Dunkeln stehen.
Ich höre etwas leise zischen, dann noch mehr Schreie.
Ich sehe nach oben und weiss, dass die Kapelle nun aufgehört hat, zu spielen.