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Die Akte Kärtner

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06.10.2001
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Die Akte Kärtner

Der Morgen rückte näher. Ich wälzte mich unruhig im Bett hin und her, während das Ticken des Weckers in meinem verkaterten Schädel widerhallte. Die Schläge des Zeigers im Uhrwerk schienen mir einen enormen Geräuschpegel entwickelt zu haben. Diese unerträglichen Laute wirkten bitter auf meinen bestenfalls als labil beschreibbaren Zustand. So tastete ich nach dem Spind, auf dem ich den Wecker abgestellt hatte und kriegte ihn schließlich zu fassen. Wenigstens dieser Griff gelang mir. Mit letzten Kräften hämmerte ich ihn gegen die harte Wand, woraufhin es ein Krachen verursachte, dem eine beruhigende Stille folgte. Dieser Wecker würde mir keine Sorgen mehr bereiten. Es war bereits um die siebte Stunde. Nun war ich jedoch nicht länger schläfrig und beschloss, mich gemächlich zu erheben. Die Decke beiseite geschoben, reckte und streckte ich mich träge mit noch veträumtem Gemüt.
Welch seltsamer Zufall, dass mich die einfallenden Sonnenstrahlen in gleicher Weise erweckten wie sie ein Dorn in meinen trüben Augen waren. Immer noch recht müde, trottete ich unsicheren Schrittes zu den Jalousien. Der Straßenverkehr war noch relativ beruhigt, obwohl die Arbeiter sich im Normalfall gegen diese Uhrzeit auf den Weg machten. Siedendheiß fiel mir ein, dass es ja Sonnabend war. Für mich spielte das ohnehin keine erhebliche Rolle, da mich die Arbeit nicht lockte. Dort draußen war ich nicht gern gesehen, deshalb zog ich es vor im Inneren meiner spärlich eingerichteten Wohnung zu bleiben. Dies war auch einer der Gründe, warum man in der Allgemeinheit die Behauptung vertrat, ich seie schon ewig ein Eigenbrötler gewesen. Schulterzuckend ließ ich die Jalousien herunter. Der Lichtschalter am Ende des Raumes war selbst in der eingetretenen Dunkelheit noch gut erkennbar. Die Schemen seiner weißlichen Umrandung sah ich ohne weiteres. Insgesamt vertrat man die Ansicht, dass sich die Augen eines Menschen an bestimmte Zustände anpassten. Ich konnte dies bestätigen. Immerhin saß ich tagsüber gern bei absoluter Finsternis in der Mansarde, behängte die Fensterscheiben dabei mit allerlei Tüchern, dass auch ja kein Lichtstrahl meine empfindliche Sehschärfe beeinträchtigte. Die Lebensmittel brachte mir stets ein Bursche aus der Siedlung am Ende der Straße, sein Name war Gregor, wenn ich nicht irre. Er erledigte für mich so allerhand. Dafür bot ich ihm hin und wieder ein paar Leckereien an, die der Junge nur zu gern entgegennahm. Natürlich wusste er anfangs nicht, dass ich die Süßspeisen vermengte mit verschiedenen Präperaten, die zur Sucht leiteten. So bekam er in kleinen Rationen etwas Opium, auch schon mal eine eigens zusammengestellte Menge diverser Chemikalien. Mit deren Herstellung beschäftigte ich mich ganz insgeheim, so dass auch niemand auf den Straßen mistrauisch wurde, wenn er die Mansardenwohnung von unten her betrachtete. Aber die Vorräte wurden knapp. Es blieb mir an manchen Tagen nichts übrig als das Haus unbemerkt zu verlassen und mich im Armenviertel der Stadt über die wenigen herzumachen, deren Schuhe oder Mäntel mir auf dem Schwarzmarkt etwas einbrachten. Dies waren jedoch nur seltene Diebstähle, die ich aus Not vollziehen musste. Dabei stellte ich mich derart geschickt an, dass man mich nur in einem Falle verfolgte. Glücklicherweise konnte ich entkommen ohne erkannt zu werden. Bisher hatte es die Gendarmerie vermieden an meiner Türe anzuklopfen. Die Kuriere, von denen ich mich bedienen ließ, legten einen Treffpunkt fest, der dem Prinzip eines toten Briefkastens nahe kam. Das Geld plazierte ich in der Öffnung einer brüchigen Mauer am Rande der Altstadt und ein bis zwei Tage später erhielt ich dann die bestellte Ware. Dieser Vorgang wurde nicht etwa bei strahlendem Sonnenschein vollzogen, sondern gehörte zu jenen Aktivitäten, die mich des Nachts dazu bewogen die Wohnung zu verlassen.
In letzter Zeit hatte ich immer größere Mengen bestellt und meine Wünsche auf einem Zettel notiert, welchen ich dem Geld beilegte. Mein selbst errichtetes Labor hatte ich mit einiger Mühe im Waschraum errichtet. Es war nicht sonderlich gut ausgestattet, genügte mir jedoch für seinen Zweck. Ich selbst hatte diese Präperaten nie verwendet. Dass ich ab und zu einen guten Schluck Wein genoss, war in diesem Sinne nicht als verwerflich anzusehen. Es sollte Menschen geben, die dem Alkohol der Einsamkeit wegen treu werden, doch zu diesem Kreis gehörte ich nicht. Eine leere Flasche des 68er Jahrgangs lag neben meinem Bett. Der verbliebene Inhalt war in die Bodendielen geflossen, was einen herben Geruch – um nicht zu sagen Gestank – im Zimmer verursachte. Jene Dielen knarzten als ich darüber stieg und mich auf den Kühlschrank zubewegte. Die sommerliche Wärme machte mir zu schaffen. Da man mir erneut am Vortag den Strom entzogen hatte, waren einige der ehemals genießbaren Lebensmittel nun zum Verzehr nicht länger geeignet. Dieser Tatsache ungeachtet öffnete ich das nun zum Küchenschrank umfunktionierte Gerät und warf einen Blick hinein. Leblose, verquollene Augen starrten mich aus tiefen Höhlen an. Der Kopf von Gregor Maifeld war im Laufe der letzten Woche stark verwest. Ein beißender Duft stieg mir in die Nase. Die bläuliche Gesichtsfarbe seiner einst rötlich gefärbten Wangen, wurde immer mehr zu einem dreckigen moorbraun. Die Falten um seine Lippen waren zu Kratern geworden. Ich beschloss mir eines der kümmerlichen Ohren abzuschneiden, um es anschließend zu verspeisen oder ein wenig damit herumzuspielen. Um der sättigenden Mahlzeit gerecht zu werden, öffnete ich die Kammer des Eisfachs und bediente mich der bereits abgetrennten Zunge.
»Gregor, du warst ein böser kleiner Junge«, sagte ich vorwurfsvoll zu dem separierten Haupt. Erwähnte ich, dass der Bursche für mich die Besorgungen erledigte? Da war er doch vergangene Woche ungetrübt auf der Schwelle meiner Mansardenwohnung erschienen und hatte mich bezichtigt das Gebäck vergiftet zu haben. Er wollte der Polizei Bericht erstatten. Was glaubte er wen er vor sich hatte? Da musste er nur einmal in die Zeitungen schauen. Es war die Rede vom Vampir von Braunschweig. Ein wahrhaft unrühmlicher Titel. Ich scherte mich nicht darum. Sollte die Presse ihre Geschichten verbreiten, das kümmerte mich nicht im geringsten. Nach einem wüsten Handgemenge hatte ich mir das Fleischermesser vom Tisch gegriffen und es dem Bengel tief in die Kehle gerammt, worauf er einen ersticken Schrei versuchte, den ich jedoch unterdrückte, indem ich ihm die Halsschlagader zerschnitt. Es war eine unschöne Tat. Doch als ich die Augen des Jungen wahrnahm, die mich durchdrangen, in denen sich die Furcht widerspiegelte, mit denen er durch mich hindurchsah, da verspürte ich ein unglaubliches Hochgefühl. Ich wollte es demnächst wohl wieder öfter tun.
Im Treppenhaus waren Schritte zu hören.
Ich schaute mich um und blickte in den Wandspiegel.
Der von Blut durchtränkte Leinensack hinter dem Ofen war mir keine Last.
Die Schritte aus dem Treppenhaus durchbrachen der Stille wie das einsetzende Donnergrollen eines nahenden Gewitters. Ich vernahm einige Stimmen. Kurz vor Wohnungstür hatte der Lärm ein Ende gefunden und mit festem Klopfen signalisierte man mir sie zu öffnen. In forderndem Tonfall hieß es:
»Herr Kärtner, Polizei. Bitte öffnen Sie die Tür, wir müssen mit Ihnen sprechen.«
Früher oder später wollte ich sie sowieso zu mir führen. Aber nicht jetzt. Da standen sie und warteten. Warteten bis ich zu ihnen zurückkehrte. Die Herrschaften, die mich jahrelang peinigten. In den Besserungsanstalten, in den Rattenlöchern voller Ungeziefer.
Ich ließ ein handliches Messer unter dem Morgenmantel verschwinden und antwortete:
»Gedulden Sie sich einen Moment, meine Herren. Ich eile. «
Zum ersten Mal bemerkte ich den fauligen Gestank, der aus allen Ecken meiner Wohnung drang. Mir wurde klar, dass dies das Fazit einer bizarren Verkettung unglücklicher Ereignisse war. Doch manchmal liegt die Bedeutung einer Sache nicht in ihrem Ende. Sondern im Ursprung.

Braunschweig, den 25.5.1930

[Beitrag editiert von: mea parvitas am 20.01.2002 um 17:55]

 

hey man... echt nicht schlecht...
gut vormuliert, und die story...
etwas herb aber nicht schlecht.
wirklich nicht schlecht...
ein fettes lob! ;)

 

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