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Die alte Dame
"Heut kommt mich meine Tochter besuchen", sagt sie glücklich. Ihr faltiger Mund hat sich um die Prothese zu einer Grimasse begieriger Freude verzogen. Ich sehe sie nicht direkt an, konzentriere mich mehr auf ihren grauen Haardutt.
"Das ist schön, Frau Malnovik", sage ich und empfinde Trauer. Sie wird den ganzen Tag warten und niemand wird kommen. So wie gestern oder Vorgestern oder die ganzen Monate davor.
Sie wird in ihrem schicken, alten Blumenkleid, mit hochgestecktem Haar, auf dem alten Stuhl neben ihrem Bett sitzen und erwartungsvoll die Stunden verstreichen lassen.
Groß ist das Zimmer nicht - aber sie bewegt sich ohnehin nicht sehr viel. Ich zupfe die langen Gardinen zurecht, sehe in den Herbsthimmel, der trüber werdenden Sonne entgegenblinzelnd. Es riecht nach alter Frau und vielen Medikamenten und Cremes.
"Haben sie ihre Blauen schon genommen, Frau Malnovik?", frag ich sie und sehe sie an. Es schmerzt mich seit einiger Zeit die verwelkenden Gesichter zu sehen. Vielleicht sollte ich den Job als Altenpflegerin aufgeben. Zu viele sind gestorben.
"Ja, ja", sagt sie eifrig und nickt ganz oft dazu. Sie streckt mir mit ihrem dünnen rechten Arm voller Runzeln die leere Montagpackung entgegen. "Sehen Sie, Schwester?", sagt sie und wirkt dabei sehr erfreut.
Dann sieht sie wieder zur weiß gestrichenen Tür.
"Meine Tochter ist wunderschön, wissen Sie?"
Das sagt sie immer. Ich zweifele, ob sie überhaupt eine Tochter hat.
"So, jetzt muss ich aber mal nach den anderen sehen", sage ich - und es klingt sogar einigermaßen fröhlich.
Ich schließe die Tür hinter mir.
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Im Laufe des Tages ist sie gestorben. Kein Schock für mich. Dazu habe ich das zu oft erlebt. Sie hatte keine Angehörigen, also haben wir ihren Namen in die Zeitung gesetzt.
Gestorben. Frau Anna Malnovik. Angehörige möchten sich bitte melden.
Ich weiß, wie es weiter geht. Niemand wird sich melden. In drei Wochen werden wir die Kundin einäschern lassen. Anfangs, vor vier Jahren, war ich öfters dabei. Eine deprimierend kleine Kapelle, ein schäbiges Krematorium, eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher. Ein Pfarrer, oder eine Tonbandaufnahme, der ein paar letzte unpersönliche Worte murmelt. Dazu kein Gast, kein Trauernder, keine Dekorationen. Ein einfacher Sarg aus dicker Presspappe. Darin der Leichnam und ein Markierungsstein. Eine Nummer, um die Asche bei den vielen durchwandernden Namen- und Angehörigenlosen noch einigermaßen den richtigen Urnen zuteilen zu können.
Ein trauriger Abgang. Wer waren diese Menschen? Warum sind sie allein? Es sind keine Einzelfälle, wissen Sie. Ich erlebe das Ein- bis Zweihundert mal im Jahr.
Alles was bleibt, sind oft ein paar vergilbte Fotos, die sich an den Rändern aufwerfen. Und ein Kamm. Oder etwas ähnlich Banales.
Ich bin traurig.
Ich fürchte mich vor dem eigenen Altwerden.