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Die andere Seite der Ballade
Liebes Tagebuch, würde ich schreiben. Heute wird ein guter Tag. Die Sonne scheint und mein neuer Nachbar im Schlafloch hat unangenehmen Fußgeruch. Das ist gut, denn es überdeckt den ansonsten allgegenwärtigen Gestank von faulendem Fleisch, verbrannten Körpern und Scheiße in allen Variationen.
Ich habe zum ersten Mal seit Tagen gut geschlafen und mir eine schmackhafte Ratte zum Frühstück gefangen. Sie hatte die Pest, das macht das Blut leicht süßlich. Gestern haben wir wieder den ganzen Tag auf das Signal gewartet, aber es ist nicht gekommen. Vielleicht heute. Heute wird ein guter Tag, das habe ich im Gefühl, würde ich schreiben.
Doch ich habe keinen Stift.
...
"Ihr räudigen, von einer eitrigen Kuh in einem Haufen Dreck gezeugten Maden, wacht gefälligst auf! Wer in drei Minuten nicht in voller Rüstung auf dem Marschplatz steht, dem reiße ich persönlich die Eingeweide raus und stecke sie ihm in den Schlund, bis er dran erstickt!" Auch wenn das jetzt so klingen mag, das war kein dummer Spruch um uns zu motivieren oder so. Hat er wirklich mal gemacht, ich habs gesehen. Insofern war es natürlich schon eine Motivationsmaßnahme, aber sicher kein dummer Spruch.
Ich werfe das abgenagte Rückgrat meiner Frühstücksratte hastig über die Schulter in den Matsch und erhebe mich aus der Schlafkuhle. Da der Krieg deutlich länger andauert, als unser aller Gott, König und Heerführer in seiner unfehlbaren Herrlichkeit einst angenommen hatte und eine wichtige Grundtaktik darin besteht, mehr Soldaten zu produzieren, als der Feind töten kann, ist die Armee inzwischen aus allen Nähten geplatzt. Es gibt nicht genügend Raum für jeden, so dass sich immer zwei bis drei von uns ein Loch teilten müssen.
Mein Kuhlenpartner gibt ein ekliges Grunzen von sich und dreht sich wieder auf die andere Seite. Ich überlege einen Moment, ob dies nun eine besonders aufrührerische und mutige oder einfach nur unheilbar dumme Geste ist. Doch eigentlich spielt das keine Rolle, heute Nacht werde ich mir das Loch mit einem neuen Soldaten teilen. Hoffentlich hat der dann auch Fußgeruch.
Drei Minuten sind nicht viel Zeit, aber es reicht. Die Morgenhygiene besteht für die meisten Soldaten darin, den sich über die Nacht im Mund angesammelten Schleim auszuspucken und in den Ohren nach Käfern zu pulen. Dauert vier Sekunden. Die Rüstung trägt ein normaler Krieger auch nachts am Körper, so dass man morgens nur noch die metallverstärkten Panzerplatten anlegen und den Helm aufsetzen muss. Das dauert vielleicht zwei Minuten. Wenn man aus Versehen den Helm des Nachbarn erwischt und sich mit ihm darum prügeln muss, zweieinhalb. Maximal.
Die letzte knappe Minute hat man dann Zeit, den Marschplatz zu suchen und seinen Platz in der Formation einzunehmen. Da man dazu nur der Masse folgen muss, ist das auch mehr aus genug Zeit.
Unser Feldwebel ist wahrlich ein freigiebiger Ork.
...
Der Marschplatz ist groß. Wirklich groß. Als hätte jemand Dutzende an sich schon unverschämt große Plätze genommen und unter Zuhilfenahme einer zusätzlichen Portion zweidimensionalen Größenwahns zu einem einzigen zusammengefasst. Es ist nicht schwer, einen Platz zu bauen, dazu braucht man nur Haufenweise Matsch, eine gute Wasserwaage und... naja, Platz. Schwierig wird es aber, wenn das Endergebnis dem Betrachter ehrfürchtige Schauer den Rücken hinunterlaufen lassen soll. Und was das angeht, hatte der Erbauer in diesem Fall ganze Arbeit geleistet.
Eintausend Orks stehen nebeneinander in einer Reihe, eintausend Reihen hintereinander in einer Kohorte, eintausend Kohorten wiederum in einer Reihe bilden eine Kompanie, eintausend Kompanien hintereinander eine Armee. Das ist wirklich ein ganzer Haufen Soldaten.
Ich nehme meinen Platz ein (Kompanie 13, Kohorte 398, Reihe 84, Platz 702) und beobachte das Chaos um mich herum. Orks, wohin das Auge reicht. Orks, die stirnrunzelnd auf die Markierungen an ihren Armen sehen und fieberhaft nach einem Artgenossen suchen, der das komplexe Aufstellungssystem durchschaut und weiß, welche Zahlen an welcher Stelle kommen. Orks, bereit, dem Feind, den niemand von uns bisher gesehen hat, ohne zu zögern das provisorische Schwert - nicht mehr als ein platt gehauenes Stück Metall - tief in die Eingeweide zu rammen und dann solange zu drehen, bis kein Blut mehr kommt.
Sechs Stunden lang passiert gar nichts. Wir stehen in Reih und Glied in der heissen Sonne, streicheln unsere Waffen und vertreiben uns die Wartezeit mit sporadischen Grunzwettbewerben. Wir warten auf den Marschbefehl, auf den Moment, den unser oberster Kriegsgott, Heerführer und Kaiserkönig als den richtigen ansieht, unserem Feind die Lanze der Fußtruppen in die Eingeweide seiner Kriegsmaschinerie zu rammen. Seit Wochen schon. Warten auf die große, alles entscheidende Schlacht.
"Entschuldigung ... bist du Siebenhundertzwei Vierundachtzig Dreihundertachtundneunzig Dreizehn?" Ich spüre, wie mir jemand von hinten auf die Schulter klopft.
"Das ist der Name, den man mir in den Arm gebrannt hat", antworte ich. "Hier, guck."
"Dann soll ich mich bei dir melden. Ich bin dein neuer Nachbar."
"Ach." Ich sehe mir den Neuankömmling genau an. Sieht aus, wie jeder andere von uns auch, hässliches Gesicht, missgestalteter Körper, verfaulte Zähne. Eindeutig ein Ork. Dass er noch jung ist und vermutlich gerade erst geschlüpft, erkennt man an der geringen Menge verkrusteter Exkremente im Gesicht. "Mein letzter Nachbar hatte Fußgeruch. Ich hoffe, du kannst da mithalten."
"Ich habe seine Füße. Mir wurde gesagt, der Feldwebel hätte sie abgerissen, nachdem er ihm seine Eingeweide ... ich nehme an, du kennst die Geschichte besser, als ich."
"Du kannst dich ausdrücken. Wie kommts, dass du nicht dumm bist?" Der durchschnittliche Ork kann nur dann bis eins zählen, wenn er bei eins anfangen darf und ihm jemand den Rest vorsagt.
"Oh, tut mir Leid. Sollte ich dumm sein?"
"Nein. Nein, schon okay. Im Gegenteil, es ist angenehm, endlich jemanden zum Reden zu haben. Die meisten hier kommen kaum übers Grunzen hinaus. Siehst du den da vorne? Der kann sich nur durch rülpsen verständlich machen. Einmal rülpsen heisst ja und einmal heisst nein. Das kommt auf den Kontext an."
"Darf ich dich was fragen?", fragt er mich.
"Natürlich."
"Warum stehen wir hier?"
"Siehst du den Ork, der da vorne auf dem Stein steht?"
"Der so aussieht, als hätte er ..."
"Genau. Der, dessen Kopf aus Scheiße geformt ist. Das ist der Feldwebel unserer Kohorte."
"Ach, der hat also meine Füße ..."
"Genau. Also, wir stehen hier und warten, bis er das Signal gibt."
"Was für ein Signal?"
"Keine Ahnung. Ist bisher noch nie passiert. Ich schätze mal, er wird winken. Oder brüllen oder so."
"Und dann?"
"Dann ziehen wir los und überrennen die Tore des Feindes."
"Und der Feind? Wer ist das?"
"Ich weiß nicht. Man sagt, es wäre nur eine kleine Armee, aber darunter wären viele Helden."
"Helden ..." Mein neuer Nachbar dehnt dieses Wort mit einem ehrfürchtigen Unterton. Anscheinend hatte man ihn bereits über die Helden aufgeklärt.
Helden sind so etwas wie ein Cheatcode. Wenn der Feind nicht weiter weiß, wenn er merkt, dass seine Soldaten keine Chance gegen die Übermacht der ehrwürdigen Orkheere haben, dann schickt er einen Helden in die Schlacht. Ein einzelner Held kann hunderte und manchmal gar tausende Orks töten, ohne auch nur einen einzigen Kratzer abzubekommen. Er kann einem Ork aus zehntausend Metern Entfernung einen Pfeil durchs Auge schießen, kann ihn aus vollem Lauf mit einem einzigen Schwerthieb in zwei Hälften teilen, kann es mit vier Feinden auf einmal im Nahkampf aufnehmen.
Um es kurz zu machen, Helden sind einfach unfair.
"Ja, Helden", fahre ich fort. "Und es sollen auch ein paar Drachen dabei sein."
"Was sind Drachen?"
"An deiner Stelle würde ich hoffen, dass du niemals einen sehen musst."
"Hast du mal einen gesehen?"
"Ich habe davon gehört. Er hat angeblich eine ganze Kompanie Orks mit einem einzigen Atemzug in Flammen aufgehen lassen."
"Klingt noch schlimmer, als ein Held."
"Genau. Aber man sagt, dass Drachen dumm sind. Sie wissen nicht, wer der Feind ist und wer der Freund. Sie brauchen einen Helden, der sie in die richtige Richtung dreht."
"Darf ich dich nochwas fragen?"
"Klar, der Tag vergeht schneller, wenn man sich unterhält."
"Wenn wir wissen, was da auf uns wartet, warum stehen wir dann hier?"
"Ich ... ich weiß nicht. Schätze, wir sind dazu geboren."
Nein, das ist Blödsinn. Wir sind nicht für Schlacht geboren, eigentlich werden wir gar nicht geboren. Orks werden gemacht.
Man gräbt ein Loch, wirft Leichenteile, Exkremente, schleimiges Zeugs und ein wenig Magie hinein, wartet ein paar Stunden und versucht, nicht im Weg zu stehen, wenn die fertige Kreatur den Schmerz ihres Entstehens an irgendetwas Weichem abreagieren muss. Wenn man als Ork Glück hat, wurde für die Herstellung eine relativ große Menge an Gehirn benutzt. Wenn man hingegen Pech hat, kann man auch zum Großteil aus alten Blinddärmen bestehen.
Und dann passiert etwas Ungewöhnliches. Der Feldwebel hebt seinen Arm, an dessen Handgelenk noch ein wenig Orkniere klebt und beginnt, infernalisch zu brüllen. Das Signal.
Es geht los.
...
Liebes Tagebuch, würde ich schreiben. Der Tag hat eine unschöne Wendung genommen. Wir sind heute an die Front gezogen. Die vordersten Reihen unserer Armee haben die Tore zur Stadt der Menschen durch den Einsatz ihrer gewaltigen Masse aufgedrückt und sich blutige Kämpfe mit den Soldaten des Feines geliefert, haben ihre Reihen einfach überrannt und sind mit der bloßen Macht der Überzahl und unter Einsatz ihrer Leben in die Stadt eingedrungen. Unsere Kohorte stand etwas weiter hinten, darum dauerte es zwei Tage, bis auch wir in die Kämpfe verwickelt wurden. Doch der Feind schummelt, denn er benutzt Helden und Drachen. Und Zauberer. Pfui!
Und dann würde ich wortreich die Schlacht schildern, alle gigantischen Ereignisse notieren, alles genau beschreiben, was sich vor meinen Augen abgespielt hat, jedes blutige und epische Detail in feine Sätze kleiden.
Doch ich habe immer noch keinen Stift.
...
"Was machen wir jetzt?"
"Ich weiß nicht. Am besten, wir bleiben liegen und stellen uns tot."
"Ist das eine gute Idee? Ich meine, was machen sie wohl mit den ganzen toten Orks?"
"Keine Ahnung, da hab ich noch nie drüber nachgedacht. Entweder, sie geben sie ihren Drachen zu fressen oder werfen sie in ein tiefes Loch."
"Wenn ich so darüber nachdenke, möchte ich doch nicht für tot gehalten werden."
Es war eine lange Schlacht. Eine Woche tobte der Kampf um die Stadt der Menschen. Sie boten ihre Helden auf, entfachten Feuerwände mit ihren Drachen und zauberten schlimme Dinge in unsere Reihen. Und schließlich haben sie gewonnen.
Das Schlachtfeld ist getränkt vom Blut der Menschen und dem Schmodder der Orks. Tausende, Millionen toter Krieger bedecken die weiten Ebenen vor der Stadt. Leichenteile liegen überall herum, es stinkt nach Moder und Verwesung. Fliegen schwirren über die Fleischberge und teilen sich mit den Geiern das größte Festmahl in der Geschichte der Aasfresserei. Mein Nebenmann und ich liegen zwischen unseren gefallen Artgenossen und beobachten aus den Augenwinkeln, wie ein paar Menschen knietief durch die Körper waten und nach allem, was sich noch bewegt, mit ihrem Schwert schlagen. Um sicherzugehen.
Doch die Sonne geht unter, bevor die Menschen uns erreichen und sie ziehen sich vorerst zurück. Sie haben keine Eile.
Wir heben vorsichtig unsere Köpfe und sondieren die Lage. Nichts bewegt sich, abgesehen von den Aasfressern. Millimeter für Millimeter erheben wir uns und kommen schließlich in den Stand.
"Und jetzt?"
"Jetzt laufen wir."
"Ich bin zwar erst eine Woche alt", sagt mein Begleiter, "aber man hat mir gesagt, welche Strafe darauf steht, sich vom Schlachtfeld zu entfernen." Darüber wurde ich nie aufgeklärt.
"Geht es um ausgerissene Gedärme?", frage ich deshalb.
"Im weitesten Sinne."
"Okay. Aber die Alternative besteht darin, hier zu bleiben." Wir sehen uns um. Riechen die Gase unserer verwesenden Kameraden. Und dann laufen wir. Kopflos in irgendeine Richtung, die möglichst schnell möglichst weit weg von der Stadt.
Wir stolpern über Arme, treten in Augen, waten durch Gedärme und springen über Köpfe. Wir achten nicht auf den Weg, die Panik ist unsere Führer. Und sie macht ihre Sache ganz und gar nicht gut.
"Wen haben wir denn da?", sagt der weisse Ritter, nachdem er vor uns aus dem Gebüsch getreten kam, und man kann trotz der Dunkelheit das Grinsen in seinem Gesicht erkennen. Seine Augen glänzen vor lauter Reinheit und das wenige Mondlicht gibt sich alle Mühe, von seinem Gebiss mit einem Funkeln reflektiert zu werden. Er ist hühnenhaft gebaut, hat lange Haare und vermutlich genauso viel Dreck und Dreitagebart im Gesicht, um gemeinhin als der Inbegriff der Männlichkeit zu gelten.
"Wolltet ihr euch etwa vor eurem rechtmäßigen Schicksal drücken?" Mit einem einzigen Hieb schlägt er meinem Begleiter beide Beine vom Körper. Ein zweiter Hieb gilt seinem Kopf.
Noch lange wird diese Schlacht in der Erinnerung der Menschen bleiben. Sie werden Lieder über ihre Helden singen, unzählige Balladen schreiben, ihre Geschichten werden Generationen überdauern, ihre Kinder gruseln oder zum lachen bringen und wenn dann endlich im Finale die Helden triumphieren, wird man sich zuprosten und zum großen Sieg gratulieren.
Über uns wird es sicherlich keine Geschichten geben. Niemand erinnert sich an einen Ork.
...
Liebes Tagebuch, würde ich schreiben. Ich habe mich damals geirrt. Der Tag ist doch nicht so gut geworden. Ich erinnere mich an den Geschmack der pestkranken Ratte, das Warten auf die große Schlacht, den Fußgeruch meines Schlafkameraden. Es sind vielleicht keine schönen Erinnerungen, aber es sind die besten, die ich habe. Ich frage mich, ob es wieder eine Orkarmee geben wird. Und, wer von ihnen dann meine Füße bekommt, würde ich schreiben.
Doch ich habe keinen Kopf mehr.