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Die Beichte
„Ich werde mich heute umbringen, Herr Pfarrer.“
Konsterniertes Schweigen, mehrere Sekunden lang. Es flutet den winzigen Raum des Beichtstuhl als wäre es flüssiges Glas. Ich warte. Es riecht nach altem Holz, nach Staub und nach dem Schweiß der unzähligen Menschen, die hier schon gekniet haben, wie ich jetzt. Ein ganz leichter Duft nach after shave. Benutzen Geistliche Rasierwasser?
„Sie haben sich also entschieden. Wollen Sie mir sagen, was Sie zu diesem Entschluss geführt hat?“
Wie? Kein 'Im Namen des Vaters' und so weiter, kein 'Wann war deine letzte Beichte, mein Sohn?' Es hat sich anscheinend einiges geändert, seit ich das letzte Mal gebeichtet habe. Wie lange ist das her? Dreißig, vierzig Jahre?
Die Stimme des Pfarrers ist angenehm. Freundlich. Interessiert. Die Ankündigung meines Selbstmordes hat ihn anscheinend kaum aus der Fassung gebracht. Kein gespieltes Entsetzen, keine Vorhaltungen, keine Gegenargument. Nur neutrale Sachlichkeit und die Bereitschaft zuzuhören.
„Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sie wirklich hören, Herr Pfarrer?“
„Dafür sitze ich hier. Ich habe alle Zeit der Welt.“
Er meint es ernst. Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt. Ein erfahrener Seelsorger. Versiert im Umgang mit reumütigen Schäfchen, denen er die Sorgen abnimmt. Reue, Buße, Vergebung. So einfach ist das.
Nicht, das ich gläubig bin. Bis Mitte Dreißig hat es gedauert, bis ich meine erzkatholische Erziehung verarbeitet hatte. Seitdem bin ich überzeugter Atheist. Was sonst kann man sein, wenn man sich ansieht, was in der Welt los ist. Welche Gräueltaten gerade im Namen von religiösen Überzeugungen begangen werden! Aber das braucht mich jetzt ja nicht mehr zu beunruhigen.
Ich bemerke, dass der Geistliche sich auf seinem Stuhl bewegt, als suche er eine bequemere Sitzhaltung. Sein Gesicht hinter dem engmaschigen Holzgitter ist nur schemenhaft auszumachen. Ich sehe nur die Konturen. Und weißes Haar. Gut. Er ist also schon älter. Es wäre mir schwer gefallen, mich einem gerade aus dem Priesterseminar entlassenen Jüngling anzuvertrauen.
Soll ich ihm wirklich alles erzählen? Warum nicht, immerhin unterliegt er ja dem Beichtgeheimnis.
Die Holzbank, auf der ich knie, ist unangenehm hart. Schon interessant, dass ich ausgerechnet hier gelandet bin. Nur weg! Das war mein einziger Gedanke, als ich aus der Praxis gestürmt bin, die verblüfften Blicke der Sprechstundenhilfen in meinem Rücken. Mit dem Auto durch die Straßen, ziellos. In der Fußgängerzone mit blinden Augen von einem Schaufenster zum nächsten. Dann: die offene Tür einer Kirche. Einladend. Und irgendwie tröstlich. Die Stille in dem hohen gotischen Kirchenraum. Wie früher. Das schimmernde Gold der Heiligenfiguren an den steinernen Säulen. Das sanfte Licht der Kerzen auf dem Altar und der Duft nach Blumen und Weihrauch. Die Realität schien plötzlich ganz weit weg zu sein, wie das ferne Rauschen des Straßenverkehrs draußen.
Ein Räuspern. Der Pfarrer wartet auf meine Antwort.
Einige Kinder und zwei alte Frauen haben in der Bankreihe vor dem Beichtstuhl gekniet und darauf gewartet, bis sie an der Reihe waren. Ich habe mich auf eine der Bänke gesetzt und zugesehen, wie einer nach dem anderen in den Beichtstuhl ging und nach überraschend kurzer Zeit wieder heraus kam. Was können sie auch schon zu beichten haben, diese Kinder und alten Leute!
„Also.“ Auch ich muss mich räuspern. „Um es gleich zu sagen: Ich bin ein Mörder.“
Will ich den Mann hinter dem Holzgitter schockieren? Will ich ihn aus seiner professionellen Ruhe bringen? Selbst in meinen Ohren klingt der Satz theatralisch. Aufgesetzt. Unglaubwürdig. Und doch: Es ist die Wahrheit.
„Erzählen Sie. Ich höre Ihnen zu.“ Souverän. Gelassen.
Also gut. Ich werde erzählen. Was ich noch nie jemanden erzählt habe. Plötzlich drängen die Worte aus mir heraus. Als hätten sie nur darauf gewartet, endlich ausgesprochen zu werden.
„Eigentlich ist es eine ganz einfache Geschichte. Es war vor mehr als dreißig Jahren. Ich war vierundzwanzig, das Mädchen war achtzehn. Wir hatten eine wilde Party gefeiert, es wurde viel getrunken und gekifft, und ich war sehr verliebt in Ulrike und ganz verrückt nach ihr. Auf dem Nachhauseweg sind wir durch den Park gegangen. Dort habe ich sie vergewaltigt. Ihre Gegenwehr habe ich, betrunken wie ich war, nicht ernst genommen. Anschließend weinte sie und schrie und drohte, sie würde zur Polizei gehen und mich anzeigen. Das wäre das Ende meiner beruflichen Laufbahn gewesen, ich stand damals kurz vor dem ersten Examen als Mediziner. Da habe ich sie am Hals gepackt und gewürgt, bis sie still war.“
Völlig außer Atem, als hätte ich zwischendurch vergessen Luft zu holen, halte ich inne. Mein Herz klopft laut und heftig gegen meine Rippen. Ich atme tief ein und aus. Jetzt habe ich es endlich ausgesprochen. Erstaunlich, wie erleichtert ich mich fühle.
„Das ist sicher noch nicht alles.“ Die ruhige Stimme des Geistlichen hat etwas aufreizend Geduldiges. Wie kann der Mann nur so gefasst bleiben. Ich habe ihm doch gerade einen Mord gestanden!
„Erzählen Sie weiter.“
„Ich bin zwar damals in Verdacht geraten, wie die anderen Teilnehmer der Party auch, aber ich habe strikt geleugnet, das Mädchen nach dem Ende der Party noch gesehen zu haben. Die Polizei konnte mir nichts nachweisen. Der Fall wurde schließlich zu den Akten gelegt. Ich habe die ganze Sache verdrängt und versucht alles zu vergessen.“
„Sie haben also weitergelebt, als wäre nichts geschehen.“
„Ja, so ist es. Ich habe mein Examen gemacht, später meinen Facharzt, habe einen Kredit aufgenommen und in der Kreisstadt eine Praxis eröffnet. Ich habe geheiratet und zwei wunderbare Kinder bekommen.“
Ich kann nicht weitersprechen. Der Gedanke an Heike, meine Frau, und an meine Tochter Jennifer, die in meine Fußstapfen treten und Ärztin werden will, und an Max, der ein Computergenie ist, verursacht mir einen steinharten Kloß in der Kehle.
Die sonore Stimme des Pfarrers reißt mich aus meinen Gedanken.
„Wenn Ihnen jetzt die Tränen kommen, ist es nur aus Selbstmitleid bei dem Gedanken daran, was Sie alles verlieren könnten.“
Selbstmitleid? Empört versuche ich das Gesicht hinter dem Gitter zu erkennen. Wie kann der Mann nur von Selbstmitleid sprechen, wo ich doch bereit bin, mit meinem Leben zu bezahlen? Seine Stimme erscheint mir nicht mehr ganz so sympathisch wie vorher. Mit unverminderter Sachlichkeit fährt er fort:
„Es ist doch alles gut gelaufen bisher. Wie kommt es, dass Sie jetzt hier sind und sagen, Sie wollen sich umbringen?“
„Wissen Sie, ich habe oft an das Mädchen gedacht und meine Tat bedauert. Irgendwie habe ich auch versucht, durch ein rechtschaffenes Leben die Tat wieder gut zu machen. Als Arzt habe ich vielen Menschen helfen können. Ich habe eine Familie gegründet und zwei Kinder groß gezogen. Ich habe mir seither nie wieder etwas zuschulden kommenlassen. Ich bin in vielen gemeinnützigen Vereinen und spende regelmäßig große Beträge für verschiedene Organisationen.“
„Sie haben also ein gutes Leben geführt in den letzten dreißig Jahren. Das Mädchen, das Sie ermordet haben, hatte diese Chance nicht.“
Es klingt wie eine simple Feststellung. Aber es ist eine Anklage.
„Sie haben völlig Recht, Herr Pfarrer, ich habe mich schuldig gemacht. Und diese Schuld ist durch nichts wieder gut zu machen. Es sei denn, durch meinen Tod.“
Eine kleine Pause entsteht. Na klar, jetzt ist selbst dieser unerschütterliche Mann berührt.
„Wieso kommen Sie jetzt, nachdem so viele Jahre vergangen sind, auf diese Idee?“
Täusche ich mich, oder ist in der ruhigen Stimme des Pfarrers ein Anflug von Sarkasmus zu hören?
„Heute Morgen waren zwei Kriminalbeamte in meinem Büro. Völlig überraschend und ohne Vorankündigung. Sie sagten, die Polizei habe nun neue Untersuchungsmethoden, um die archivierten Spuren ungelöster Mordfälle besser auszuwerten. DNA-Spuren zum Beispiel. Deshalb haben sie mich um eine Speichelprobe gebeten. Man hat nämlich damals auf der Kleidung des Mädchens Spermaspuren gefunden. Und nun werden sie diese Spuren mit meiner DNA vergleichen und feststellen, dass ich der Täter bin.“
Wie höflich sie gewesen sind, die Kriminalbeamten! Höflich, aber bestimmt! Unerbittlich. Haben mit dem langen Wattestäbchen in meiner Mundhöhle herumgefuchtelt. Widerlich! Dass damit mein Leben von einer Minute auf die andere zerstört ist, hat sie nicht eine Minute lang interessiert. Wie soll ich meiner Frau, meinen Kindern je wieder in die Augen sehen, wenn sie von meiner Untat erfahren? Was werden meine Freunde, meine Patienten, die Bewohner der Kleinstadt, in der mich so gut wie jeder kennt, von mir halten? Nein, es gibt nur einen Ausweg.
„Und jetzt wollen Sie Ihrem Leben also ein Ende setzen.“
Es ist, als habe der alte Pfarrer meine Gedanken gelesen.
„Ja“, sage ich, „es ist der einzige Ausweg.“
„Es ist der Ausweg eines Feiglings!“ Plötzlich ist die Stimme des Geistlichen nicht mehr ruhig und verständnisvoll. Sie ist streng und unerbittlich.
„Eines Feiglings?“ Ich bin zutiefst verletzt. „Wo ich doch bereit bin, mit meinem Leben zu bezahlen?“
„Sie wollen den einfachsten Weg gehen. Dabei denken Sie nur an sich selbst und nicht etwa daran, was ihr Selbstmord für ihre Familie bedeutetn wird, zusätzlich zu allem anderen. Sie wollen sich heimlich davonstehlen, um nicht die Konsequenzen Ihrer abscheulichen Tat tragen zu müssen. Das nenne ich feige.“
Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Mein Gesicht brennt, in meinen Ohren braust es. Wie kann dieser alte Pfaffe nur so mit mir reden! Ich stürzte aus dem Beichtstuhl. Dieses ganze Gerede von Reue, Buße und Vergebung! Nichts als christliches Geschwafel. Ich ein Feigling! Wie kann er so etwas sagen. Als wäre es leicht zu sterben. Und damit auf alles zu verzichten, was das Leben noch zu bieten hat. Ich bin schließlich erst 54 Jahre alt!
Mit schnellen Schritten verlasse ich die Kirche. Die schwere Holztür mit den schönen alten Schnitzereien fällt mit einem dumpfen Knall hinter mir zu.