Was ist neu

Die bessere Sau

Mitglied
Beitritt
18.02.2016
Beiträge
15
Zuletzt bearbeitet:

Die bessere Sau

"Mein Turm ist ja doppelt so hoch wie deiner!", stellte Ursin stolz fest. Triumphierend stand er auf einer verfallenen Mauer und streckte stolz die Brust in die weite Bergwelt.
"Nur weil deiner höher oben steht!", entgegnete sein jüngerer Bruder Nilson. "Vom Boden her gemessen ist mein Turm viel mächtiger!"
"Beide Türme sind mächtig", versuchte die Mutter Lötscher zu schlichten. Vergebens, wie sie wusste.
"Mama, steh mal neben meinen Turm. Du bist der Massstab", befahl ihr älterer Sohn. Stirnrunzelnd stand sie, flankiert von ihren zwei Söhnen die wie Könige auf zwei mannshohen Mauerteilen thronten, inmitten einiger alter Ruinen.
"Fertig jetzt mit dem Unsinn. Das sind keine Türme sondern die Überreste eines alten Bauernhauses. Und sie sind beide exakt genau gleichhoch."
Als beide Brüder gleichzeitig auf ihre Mutter einzureden begannen und sie zu überzeugen versuchten, doch den Massstab für sie zu spielen, verdrehte sie genervt die Augen.
"Wer von euch beiden weiss denn Bescheid, was hier in diesen Ruinen passiert ist?", wollte die Mutter wissen und hatte mit der Frage die volle Aufmerksamkeit ihrer Sprösslinge erlangt. Die Brüder schauten sich zögernd an und schüttelten dann ob ihrem gemeinsamen Unwissen etwas erleichtert den Kopf.
"Ich erzähle es euch auf dem Rückweg und mit etwas Glück sind wir noch vor Einbruch der Dunkelheit zuhause. Und jetzt kommt von euren lächerlichen Türmen herunter!" Ohne ein weiteres Wort begann sie den Rückweg und wusste bald schon ihre Sprösslinge an ihrer Seite.

Vor langer Zeit lebten hier, am Ende unseres schönen Tals die Gebrüder Tönz. Jeder der Brüder hatte von seinem Vater eine beträchtliche Fläche Land auf je einer Talseite geerbt, um dort Landwirtschaft zu betreiben. So kam es, dass die zwei jungen Männer je einen windschiefen Bauernhof bewohnten, auf gleicher Höhe zu ihrem Gegenüber und ihrer täglichen Arbeit als Bergbauern nachgingen. Die Westseite gehörte dem jüngeren Urs Tönz, die Ostseite, wo wir eben waren, dem älteren Bruder Andreas Tönz. Dank ihres guten Aussehens und dank des fruchtbaren Landes, das sie ihr eigen nennen konnten, fanden die Brüder kurze Zeit nach dem Tod ihres Vaters zwei arbeitssame Frauen. Die Pfade zu jener Zeit waren in einem schlechten Zustand und so musste für den Weg nach Valzeina, dem nächsten Dorf im Tal, ein halber Tag eingerechnet werden. Deshalb beschränkte sich die Welt der beiden Brüder auf ihre beiden Bauernhöfe. Seit den frühesten Kindheitstagen lagen Urs und Andreas in einem brüderlichen Wettstreit miteinander. Dieser setzte sich auch im Mannesalter fort, was die beiden Brüder in den Augen der Dorfbewohner etwas seltsam erscheinen liess. Wenn einer das Dach des Kuhstalls reparierte, zog der andere nach. Wenn eine der beiden Frauen neue Vorhänge nähte, bat der andere seine Frau es ihr gleichzutun. Als eines heissen Sommers ein Händler mit seinem Esel aus dem Tal hinauf geritten kam, waren die Bauernhöfe gut im Schuss. Jeder Bauer nannte fünf kräftige Kühe und sieben verspielte Ziegen sein Eigen. Der Händler liess sein Esel bei der Brücke am Talboden grasen und winkte die beiden Bauern zu sich. Sie unterbrachen ihr Tageswerk und hiessen den Fremden neugierig willkommen.
"Ich bin ein Händler mit wertvollen Gütern aus der ganzen Welt. Gerne bin ich bereit etwas gegen einen guten Laib Käse oder etwas fein geräuchertes Fleisch zu tauschen." Stolz pries er den zwei Männern seine, in feinem Tuch aufbewahrten Gegenstände an. Die Bauern warfen sich einen verwirrten Blick zu, wussten sie doch beide nicht, was mit den seltsamen Dingen anzufangen sei.
"Hast du nichts, was wir auf einem guten Bauernhof auch tatsächlich gebrauchen können?", wollte Andreas Tönz wissen. Etwas eingeschnappt rollte der Händler seinen Besitz wieder ein.
"Nun, tatsächlich bin ich seit einigen Tagen stolzer Besitzer eines gesunden Ferkels, welches im Dorf auf mich wartet. Falls einer der Herren dieses gegen etwas handlicheres eintauschen möchte, wäre ich bereit einen guten Preis zu machen. Aber entscheidet schnell. Ich will noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein. Und morgen verlasse ich das Tal und ziehe weiter."
"Ich brauche kein junges Schwein", entschied Urs Tönz nach kurzem Zögern.
"Auch ich habe keine Verwendung für ein Schwein", bestätigte sein Bruder und so kehrte der Händler leise fluchend über diesen verlorenen Tag nach Valzeina zurück.

Noch in der selben Nacht wurde er jedoch durch ein zögerliches Klopfen aus dem Schlaf gerissen.
"Ich hätte nun doch Interesse an dem jungen Schwein", verkündete eine Gestalt, die er nach einigen schlaftrunkenen Sekunden als einer der beiden Brüder Tönz identifizierte. Der Händler war ein ehrbarer Mann und es wiederstrebte ihm, zu solch dunkler Stunde noch Geschäfte abzuschliessen. Der fette Laib Käse, welcher ihm der Bauer unter die Nase hielt, überzeugte ihn schliesslich und so kehrte Urs Tönz am nächsten Tag mit einem triumphierenden Grinsen auf dem Gesicht und einem ängstlich quickenden Schwein auf dem Arm zu seinem Bauernhof zurück. Stolz baute er für das Ferkel ein Gehege und so entwickelte sich dieses im Verlauf des Herbstes zu einer prächtigen Sau. Selbst als das Tier längst hätte geschlachtet werden sollen, genoss es all die Privilegien eines Prestigeobjektes und frass sich an den spärlichen Ernteerträgen des Bauern gütlich. Auf der gegenüberliegenden Talseite war Andreas Tönz jeden Tag dazu verdammt, das Schwein seines Bruders anzusehen und zu wissen, dass er kein solch prächtiges Tier besass. Als sich der Händler im nächsten Jahr endlich wieder blicken liess, passte ihn Andreas schon vor der Brücke ab.
"Sei gegrüsst Händler. Wie viel verlangst du für deinen Esel? Und wie lange brauchst du, um mir ein Schwein zu besorgen?" Der Esel wechselte für den Jahresverdienst eines durchschnittlichen Bauern den Besitzer und zwei Wochen später lieferte der geschäftstüchtige Händler ein Schwein als Prämie oben drauf. Er erkannte, dass sich mit den zwei seltsamen Brüdern gutes Geld verdienen liess und so wurde er ein häufig gesehener Gast im Tal. Trotz der Einwände ihrer Frauen kauften die Brüder immer mehr Dinge, welche sie eigentlich nicht gebrauchen konnten und sie doch stolz zur Schau stellten.

Als die fette Sau von Urs Tönz eines Morgens verschwunden und mit Ausnahme einer Bresche im Zaun nichts von ihr zurückgeblieben war, beklagte er bitter seinen grossen Verlust. Doch noch bevor er nach dem wertvollen Tier hätte suchen können, stand es fröhlich grunzend und stark stinkend wieder im gewohnten Dreck. Schleunigst reparierte er den Zaun und hatte bald schon den Vorfall vergessen. Drei Monate später warf das Schwein sechs wunderbare Ferkel und dem Bauer wurde klar, wo das Tier in jener Nacht gewesen war. Freudig verkündete er seiner Frau die gute Nachricht.
"Wir gründen eine Schweinezucht!"
"Dies klingt nach der ersten guten Idee seit vielen Monaten", stimmte ihm diese zu, fügte jedoch an: "Sofern sich die Schweine nicht alle hier stapeln." Immer wieder entliess er daraufhin heimlich seine gebärfreudige Sau für eine Nacht in die Freiheit und nur allzu oft kehrte sie trächtig zurück. Während der Bauernhof von Urs Tönz aufblühte und er immer wieder eines der Schweine im Dorf verkaufen konnte, sah es auf der gegenüberliegenden Talseite immer düsterer aus. Jeden Tag beobachtete Andreas das wachsende Anwesen seines Bruders. In einem harten und kalten Winter schliesslich schlich sich der unglückliche Bauer mitten in der Nacht hinüber und tötete alle achtundzwanzig Schweine. Am nächsten Morgen blieb seinem Bruder nichts anderes übrig als die vor Kälte erstarrten Körper zu metzgen. Als er seiner ihm ans Herz gewachsenen Muttersau das Herz aus dem Körper nahm, weinte er bittere Tränen. Gerne wäre er zu seinem Bruder gelaufen, um ihn der schändlichen Tat zu bezichtigen. Doch es galt das Fleisch so schnell wie möglich zu verkaufen und so war er den weiteren Winter über damit beschäftigt, in den umliegenden Dörfern nach Käufern zu suchen. Als die Nachfrage an Schweinefleisch nur allzu schnell gesättigt war, kaufte er sich mehrere Karren und zog mit dem restlichen Fleisch in die weite Welt hinaus. Noch bevor der Frühling den Schnee schmelzen liess, hatte er alles Fleisch verkauft und er trug voller Stolz eine dicke Börse an seinem Gürtel. Zusammen mit seiner Frau begann er Handel zu treiben und bereiste in den kommenden Jahren die umliegenden Städte.

Er kam weiter, als je ein Bauer aus dem Tal gekommen war und als er schliesslich mit mehreren Pferden und Wagen zurückkehrte, machten die Bewohner grosse Augen. Das Tal kam ihm seltsam eng und klein und die Leute verarmt und schmutzig vor. Einen Tag später ritt er seinem alten und verfallenen Bauernhof entgegen. Zuerst bog er jedoch zu seinem Bruder ab. Dieser stand mit ausgemergelten Gesicht und gebücktem Rücken neben der einen Sau, die er über all die Zeit genährt hatte.
"Bruder, schön dich zu sehen. Lass uns den Streit vergessen. Ich könnte bei meinen Geschäften eine helfende Hand gut gebrauchen", sagte er mit einem freundlichen Lächeln, das ihm als Geschäftsmann schon so manch guten Dienst erwiesen hatte und bot seinem Bruder die Hand.
Dieser Spuckte jedoch nur angewidert auf den Boden. "Du kommst hierher zurück und gibst mit deinen teuren Pferden, deinen teuren Kleidern und deinem Angebot an, wie du früher mit deiner verfluchten Sau angegeben hast!", schimpfte er.
"Ja, ich habe mit meiner Sau angegeben. Und ja, ich komme mit mehr zurück als ich mir je hatte erträumen lassen. Doch das Wertvollste sind nicht die Pferde oder die Kleider. Viel wertvoller ist die Erkenntnis, dass es in der Welt wichtigeres gibt als meine Sau und die Sau des Nachbarn. Lass uns die Säue vergessen", bot er ihm noch einmal an. Der Bruder schüttelte jedoch nur den Kopf.
"Verschwinde von meiner Talseite."
"Lass mich dich wenigstens für die guten Spermien deines Schweins bezahlen."
Erst verstand Andreas Tönz nicht, was sein Bruder ihm damit sagen wollte. Dann jedoch sah er seine untreue Sau mit grossen Augen an. Bebend vor Wut drehte er seinem Bruder den Rücken zu und kehrte zu seiner Arbeit zurück.

Urs Tönz holte einige persönliche Gegenstände aus seinem alten Bauernhof und liess das alte Gebäude abbrechen. Er kehrte dem Tal den Rücken zu und wurde nie wieder gesehen. Anfangs war sein Bruder froh, dass er nicht mehr jeden Tag den Bauernhof auf der gegenüberliegenden Talseite betrachten musste. Doch die kümmerlichen Ruinen schürten in ihm grösseren Neid, als es alle Kühe und Schweine vermocht hätten. Im kommenden Winter musste er schliesslich auch das letzte Tier auf seinem Hof schlachten. "Wärst doch nur du das Weibchen gewesen", grummelte er in seinen Bart, als er der alten Sau das Messer an die Kehle legte. "Ein Weibchen wäre mir wahrlich die bessere Sau gewesen."

Das letzte Licht der Sonne verschwand hinter den hohen Bergen, als die Mutter Lötscher zu Ende gesprochen hatte. Schweigend kamen sie zuhause an und die nachdenkliche Stimmung ihrer Kinder ausnutzend, schickte sie die zwei Jungen schleunigst ins Bett. Als ihre Mutter die Türe geschlossen hatte sahen sie sich noch einen langen Augenblick in stillem Einvernehmen an, bevor sie sich umdrehten und die Augen schlossen. Keiner der beiden verspürte an diesem Abend das Bedürfnis, den Tag noch einmal in kindlicher Art Revue passieren zu lassen und zu erörtern, wer nun der bessere, stärkere, klügere oder erfolgreichere Bruder gewesen war.
"Von mir aus ist es gut, wenn du ihn hast, den höheren Turm", flüsterte der ältere Bruder grossmütig, obwohl, oder gerade weil er nicht wusste ob Nilson nicht längst eingeschlafen war. Die Mutter Lötscher schmunzelte, als sie die aussergewöhnliche Ruhe im Kinderzimmer bemerkte und schlich sich wie immer auf leisen Sohlen davon.

 
Zuletzt bearbeitet:

Alternativer Schluss:

"Von mir aus ist es gut, wenn du sie hast, die bessere Sau", flüsterte der ältere Bruder grossmütig, obwohl, oder gerade weil er nicht wusste ob Nilson nicht längst eingeschlafen war. Die Mutter Lötscher schmunzelte, als sie die aussergewöhnliche Ruhe im Kinderzimmer bemerkte und schlich sich wie immer auf leisen Sohlen davon.

(Welches Ende findet ihr besser? Dieses bezieht sich noch einmal auf die Sau und somit den Titel der Geschichte. Wohingegen das erste Ende noch einmal Bezug zum Anfang der Geschichte nimmt.)

 

Liebe Maria

Vielen Dank für dein Feedback. Tatsächlich versuchte ich mich einmal an einer klassischen Novelle. Ich habe auch versucht deren Struktur und Erzählweise einzuhalten. Deshalb wirkt die Geschichte wohl soooo typisch. Trotz der klassischen Erzählstruktur mit einer Rahmenhandlung war es natürlich nicht meine Absicht zu langweilen...

Besten Dank für deinen Hinweis mit der Sau. Dies habe ich geändert. Der Unterschied zwischen einem Schwein und einer Sau war mir nicht bekannt.

Viele Grüsse
Neves

 

Hi Neves,

für welche Altersgruppe wurde der Text verfasst?

Besten Gruß,

Sonne


Gruesse

 

Hallo Sonne

Eigentlich für ältere Erwachsene. Ich habe jedoch selbst gemerkt, dass die Geschichte auch - oder eher - für Kinder interessant sein könnte, weshalb ich sie u.a. in der Rubrik Kinder veröffentlicht habe.

Beste Grüsse
Neves

 

Hej Neves,

ich kann nur bestätigen, was Du selber sagst: Auf mich wirkt die Geschichte nicht wie für Kinder geschrieben. Sie besitzt so wenig Verspieltes, Phantastisches.
Mich stört das nicht, Kinder evtl schon.
Abgesehen davon (und der Tatsache, dass die Kinder zum Schluss so einsichtig sind ;)) wirkt die Geschichte auf mich sehr stimmig.

Einen kleinen Fehler hab ich gefunden:

Dieser Spuckte jedoch nur angewidert auf den Boden.

Bei einer klassischen Novelle hätte ich gedacht, dass sich eine Geschichte in einer Geschichte irgendwie ausschließt, aber das ist reines Bauchgefühl.

Gern gelesen.

Gruß
Ane

 

Liebe Ane

Merci für dein Feedback.
Den Fehler habe ich korrigiert. Ja, eine klassische Kindergeschichte ist es wirklich nicht.

Bei einer klassischen Novelle hätte ich gedacht, dass sich eine Geschichte in einer Geschichte irgendwie ausschließt, aber das ist reines Bauchgefühl.

Gemäss meinen Recherchen zeichnet genau diese Struktur (also eine Geschichte in der Geschichte) eine Novelle aus. Kann natürlich auch sein, dass ich mich irre.

beste Grüsse
Neves

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom