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Die Eichenhütte
„Wusstest du, dass die Eichenhütte ein Jahr leer stand, bevor die Schafe einzogen?“, erzählt Oma. Sie hat gewunken, als sie mich durch die Glastür des Wohnzimmers sah. Eigentlich wollte ich der Pflegerin nur schnell die Einkaufstüte geben und wieder fahren. Aber Oma hat sich schon aufgesetzt, musste sich dafür am Dreieck festhalten, das über dem Krankenbett hängt.
„Dein Opa war immer ganz besessen, wenn er mit einem neuen Projekt begann. Habe ich dir erzählt, dass er einmal versucht hat, Champignons in unserem Keller zu züchten?“
Ich schüttle den Kopf, will mir die alten Geschichten gar nicht anhören. Vor allem nicht an einem Sonntag. Wäre ich doch schon samstagabends mit den EInkäufen gekommen, dann hätte ich sagen können, dass ich müde bin und es ein anstrengender Tag war. So lasse ich mich seufzend neben das Bett auf einen roten, abgenutzten Lederstuhl fallen. Er ist das letzte Überbleibsel der Couchgarnitur, die Papa und ich entsorgt haben, nachdem wir das Krankenbett ins Wohnzimmer stellten. Jetzt schläft die Pflegerin im Schlafzimmer und Oma hat vom Wohnzimmer aus die Haustür gut im Blick. Das beruhigt sie, jetzt da sie kaum noch laufen kann.
„Dein Opa hatte viele Projekte“, fährt Oma fort. „Da kann ich dir einiges erzählen. Auch vom Schaukelpferd, dass er dir geschenkt hat. Wusstest du, dass er das selbst gebaut hat?“
„Ja“, sage ich. „Das hast er mir erzählt.“
„Das wundert mich nicht. Da war er auch ganz stolz drauf.“ Einen Moment schweigt sie, scheint in Erinnerungen zu schwelgen. „Die Eichenhütte war etwas ganz Besonderes für deinen Opa. Im ersten Winter starrte er stundenlang aus dem Küchenfenster unseres alten Hauses. Erinnerst du dich noch an das Fenster?“
Ich nicke.
„Es war ein furchtbarer WInter, tagelang schneite es Pappschnee vom Himmel und da fragte mich dein Großvater, was er denn machen soll, wenn das Dach der Hütte einbricht. Weißt du, ich hab sie mir auch oft angesehen vom Fenster aus. Da sah man nur die Eichenkrone, die aus ihrem Dach wuchs. Nicht die morschen Seitenwände oder die schiefen Bretter.“
„So, als würde Leben aus ihr wachsen“, murmle ich. An den Ausblick erinnere ich mich auch. Ich hab ja selbst oft aus dem Fenster geschaut. Die Eichenhütte stand etwa dreihundert Meter vom Haus entfernt. Links eine Weide, auf der Schafe grasten, rechts ein Pferdegehege, das Jahre später an einen Bauern verkauft und zu einer Ackerlandschaft wurde. Auch den Badeteich sah man vom Fenster aus, in dem ich meine erste Actionfigur verlor und auf dem wir früher oft Schlittschuh liefen. Opa, Oma und ich.
Oma nickt nachdenklich. „Ich glaube, ich habe deinen Opa nie verstanden“, meint sie. Ihre Finger zittern, als sie zum Leibstuhl blickt. Ihre Mundwinkel zucken. „Jetzt weiß ich, wie es ist“, flüstert sie.
„Habt ihr nicht miteinander geredet?“, frage ich. „Du und Opa?“
„Doch, doch.“ Oma wischt sich mit dem langen Ärmel ihres beigen Hemdes über die Augen. Als sie fortfährt, tut sie so, als hätte sie nicht über Großvaters Zeit im Pflegeheim gesprochen und wie es so ist, wenn man nichts mehr selbst tun kann. „Über die Kinder, die Schule, die Arbeit. Das war früher anders. Wusstet du, dass dein Opa die Bretter für die Eichenhütte selbst gesammelt hat?“
„Nein“, sage ich und versuche, interessiert zu klingen. „Warum?“
Oma zuckt mit den Schultern. „Ich hab ihm gesagt, dass er Günther fragen soll .“
„Den Tischler?“
„Ja genau. Aber dein Opa hat sie selbst gesammelt. Ein paar Bretter hat er aus dem Wald. Weißt eh, von dort wo ihr immer Parasol gesammelt habt, bei der Lichtung mit den Krokussen. Da gab es einen Hochsitz mit so morschem Holz, dass kein Jäger mehr raufsteigen wollte. Dein Opa war so verdreckt, ich hätte ihn am liebsten aus dem Haus gejagt. In den Händen hielt er vier oder fünf Holzbalken, die jeder andere einfach liegen gelassen hätte.“
„Den Hochsitz kenne ich noch“, werfe ich ein. „Das Gerüst steht heute noch da. Daneben haben die Jäger einen zweiten gebaut, auf dem bin ich mit Opa oft gesessen, da haben wir gejausnet, wenn wir Pilze gesucht haben.“
Großmutter nickt. „Ich hab euch beiden immer Milchschnitten eingepackt.“
„Ja, stimmt“, sage ich und wir lächeln einander an.
„Sicher wird es wieder besser“, sage ich zögernd, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Weil ich nicht will, dass sie darüber redet, wie schlecht es ihr geht. Dabei glaube ich selbst nicht, dass es besser wird. Oma ist nicht krank, sondern alt und eigentlich würde sie gerne sterben, aber sie kann nicht. Noch nicht.
„Hab ich dir erzählt, dass einmal die Polizei vor unserer Tür stand? Wegen der Eichenhütte?“, fragt Oma, tut so, als hätte sie gar nicht gehört, was ich sage.
Ich schüttle den Kopf.
„An den Samstagen, da hatte die Sperrmüllanlage ja immer offen.“
„Hat sie auch heute noch. Freitag den ganzen Tag und Samstag Vormittag.“
Oma nickt, weil es ihr egal ist. „Dein Opa legte sich dort immer auf die Lauer. Mir war das furchtbar unangenehm. Ich wollte nicht, dass die Leute mitbekommen, dass er Holz klaut.“
„Darum kam die Polizei? Aber da schmeißen die Leute doch nur weg, was sie eh nicht mehr brauchen.“
„Nein, nein, hör zu“, sagt Oma. „Auf jeden Fall gabs da einen Maschendrahtzaun -“
„Den gibt es auch heute noch.“
„Ja, dann weißt du eh, was ich meine“, sagt Oma und klingt ein wenig genervt. „Da lag er auf der Lauer mit seinem Fernglas und das hat einer jungen Dame nicht gefallen. Die hat gedacht, er ist ein Spanner.“
„Auf der Sperrmüllanlage?“
„Keine Ahnung, was die Leute denken. Die Dame hat ihn jedenfalls erkannt und Anzeige erstattet. Natürlich ist nichts rausgekommen. Er hat ja nichts gemacht.“
„Und was hat er von der Sperrmüllanlage geholt?“
Oma winkt ab. „Ach, alles Mögliche. Fernseher, von denen er glaubte, dass er sie noch reparieren könnte, große Kartons, Kästen und so weiter.“
„Für die Eichenhütte?“
„Ach für die Hütte?“, fragt Oma und denkt einen Moment nach. „Erinnerst du dich an die babyblauen Holzbalken, mit der er die schiefen Fenster in der Nacht geschlossen hat?“
Ich nicke. Sie hatten spiralförmige Musterungen an den Seiten und wirkten wie eine Antiquität. Sie passten ganz und gar nicht zu der Scheune. „Die hat er dort gefunden?“, frage ich.
„Ja genau. Einmal hat er Günther mitgenommen.“
„Den Tischler?“
„Nein, den Nachbar-Günther, der ihm mit dem Badeteich geholfen hat und von dem er die Frösche gestohlen hat.“
„Eigentlich hat er den Laich gestohlen und nicht die Frösche“, sage ich.
„Ah, dann hat er dir das erzählt?“
Ich zucke mit den Schultern. „Nicht, woher er den Laich hat, aber er hat mir gesagt, dass man immer die Eier nehmen muss und nicht die Frösche selbst, sonst bleiben sie nicht.“
„Er war schon ausgefuchst, dein Großvater“, sagt Oma. „Auf jeden Fall hat Günther ihm gesagt, dass es dumm ist, eine Hütte um einen Baum zu bauen. Daraufhin hat er ein halbes Jahr nicht mehr mit ihm gesprochen!“
„Wirklich?“, frage ich und bin tatsächlich überrascht. „Die beiden waren doch immer so eng.“
„Waren sie“, sagt Oma. „Aber die Eichenhütte, die war etwas ganz Besonderes für deinen Opa.“
„Dabei ist es ja wirklich eine dumme Idee“, murmle ich. „Eine Hütte um einen Baum zu bauen, die wachsen doch. Ich weiß noch, dass Großvater das Dach jährlich reparieren musste. Klar haben wir dadurch auch ne Menge Zeit da verbracht und oft auf dem Dach gejausnet, aber das ist schon ne Menge Arbeit und das jedes Jahr.“
„Ja, praktisch war es nicht“, meint Großmutter. „Aber Arbeit ist etwas Schönes. Da waren dein Opa und ich uns sehr ähnlich. Ich hatte meinen Garten, der war mir so wichtig, wie ihm seine Eichenhütte. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, wenn man etwas mit seinen eigenen Händen schafft. Außerdem hält die Arbeit den Geist jung, weißt du?“
Ich nicke. Aber eigentlich weiß ich es nicht. Für mich sind die Ruhestunden, in denen ich mich durch die Streaming-Apps klicke oder mit Freunden Snaps hin und her schicke entspannender, als die Arbeit im Freien. Insbesondere, wenn es um sich wiederholende Dinge geht, wie ein Garten, das Mähen des Rasens oder gar die jährliche Reparatur eines Daches.
„Erinnerst du dich noch an den Futtertrog in der Eichenhütte?“
Ich lache leise. „Natürlich. Ich war im Frühling fast jeden Tag dort, weil ich hinten bei der Nische nachgeschaut hab, ob es wieder Katzenbabys gibt.“
Großmutter nickt. „Dein Opa hat den Trog selbst gebaut, aber dabei hat er nicht daran gedacht, dass in der Hütte ja auch der Eichenstamm ist. Darum musste er ein Loch aus der Mitte des Troges stanzen, damit er ihn überhaupt an der Scheunenwand befestigen konnte. So entstand dann diese Nische, in der die Kätzinnen ihre Babys zur Welt brachten.“
„Das wusste ich nicht“, sage ich und aus irgendeinem Grund wird mir warm, als ich daran denke. Es war schon eine schöne Zeit damals. Ich saß oft mit Großvater zusammen auf dem Dach. Wir aßen im Schatten, den die breiten Äste der Eiche über uns spendeten, während unter unseren Hintern die verschiedenfarbigen Ziegeln hin und her rutschten. Manchmal redeten wir über Tiere oder über das Malen – denn Opa malte Landschaften – oder ich erzählte ihm von meinem Alltag. Oft saßen wir still da, lauschten dem Blöken der Schafe, hörten, wie die Frösche quakten und manchmal, wenn die Zeit passte, sahen wir die ersten, vorsichtigen Schritte der Kätzchen.
Ich weiß noch, dass Großvater täglich vier Karotten und Äpfel einpackte, die er dann den Pferden über den Zaun gab. Es waren vier Stück. Zwei Gescheckte, ein Schwarzes und ein Rotbraunes. Mit Letzterem war er einmal kollidiert, bevor es das Gehege gab. Es hatte ihn an der Hausecke überrascht und umgerannt. Drei Wochen war er im Krankenhaus gewesen, auf einem Auge fast blind und dazu bekam er einen leichten Herzinfarkt. Daraufhin entstand das Gehege.
„Die Fische im Teich, die hat dein Opa von Günther“, sagt Oma.
Ich blicke sie fragend an.
„Den Nachbars-Günther, der mit dem Biotop.“
Ich nicke.
„Und das Futter für die Katzen, das hab ich immer gekauft. Weil es nicht nur deinem Opa wichtig war, dass die Kätzinnen sich nicht zu weit von ihrem Nachwuchs entfernen müssen. Ach ja, das Vogelhäuschen, das auf dem Ast der Eiche hing, das hat deine Urgroßtante, die Resi gebaut.“
„Ja spannend, wie sich das alles zusammengesetzt hat“, sage ich unbeeindruckt, weil ich mich an Urgroßtante Resi gar nicht mehr erinnern kann.
„Die Hasenkäfige auf der Hinterseite der Eichenhütte hat dein Opa für dich gebaut, weil er wollte, dass dort auch für deine Häschen Platz sind, falls du sie einmal mitgebracht hättest.“
„Die hat dann der Marder geholt“, sage ich.
Oma lacht leise. „Ja, so ist die Natur. Grausam und endlich.“
„Redet ihr beiden wieder über den Tod?“
Ich blicke auf, als mein Vater auf einmal in der Tür steht.
„Hier wird nicht gestorben!“, sagt er mit ernstem Blick und kommt ans Bett.
„Verhindern kannst du’s nicht“, gibt Oma zurück, mit mehr Energie in der Stimme, als ich gewohnt bin.
„Wir haben über die Eichenhütte gesprochen“, sage ich. „Und über meine Hasen, die vom Marder geholt wurden.“
„Ich habe dir immer gesagt, dass du darauf achten musst, dass die Käfigtüren geschlossen sind“, sagt Vater.
Ich rolle mit den Augen. „Ja dafür ist es jetzt ein paar Jährchen zu spät.“
Er zieht mir leicht an meinem Ohr. „Apropos Eichenhütte. Ich weiß genau, dass du dich in der Nacht immer aufs Dach geschlichen hast.“
„Als ich im Kindergarten war, stimmt. Da hab ich immer gesungen“, erinnere ich mich. Ich hab mich damals immer in Omas Nachthemd aus dem Haus geschlichen. Mit dem weißen Hemd, den dunklen Haaren und ganz ohne Schuhe hätte man mich fast für einen Geist halten können. Über den Hasenstall kletterte ich aufs Dach und setzte mich auf den ersten breiten Ast. Dabei sang ich gar nicht so oft, eigentlich lauschte ich viel öfter dem Rauschen des Flusses, dem müden Blöken der Schafe und dem Quaken der Frösche im Teich. Eigentlich sang ich nur, wenn es gruselig wurde.
„Laut und schief“, quittiert mein Vater.
Erneut rolle ich mit den Augen, kann mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Naja“, sage ich schließlich und stehe auf, lege dabei Oma eine Hand auf die Schulter. „Ich hab noch was vor, also lasse ich euch zwei mal alleine.“
Großmutter nickt, küsst mich zurück, als ich ihr einen Kuss auf die Wange hauche. Vater boxe ich beim Vorbeigehen in die Seite. Er japst, verwuschelt mir das Haar und setzt sich auf den roten Lederstuhl.
Ich blicke nur kurz zurück, speichere das Bild ab. Oma wie sie im Krankenbett sitzt, den Kopf zu Papa gewandt, müde lächelnd. Papa, dessen Augen fast so müde sind, wie Omas. Als ich ins Auto steige, frage ich mich, wie viele Sonntage ihr noch bleiben und wer mich an die Eichenhütte erinnern wird, wenn sie nicht mehr ist. Vielleicht tue ich es dann selbst. Vielleicht erzähle ich meinen Kindern irgendwann die Geschichte.
Was ist eigentlich passiert, dass ich sie so sehr aus dem Blick verloren habe? Auch nach dem Kindergarten, als ich in die Schule kam, verbrachten Opa und ich den Sommer bei der Eichenhütte. Irgendwann erlaubte er mir sogar, alleine zur Hütte zu gehen, so lange ich die Schafe, Pferde, Kätzchen und Fische fütterte. Erst spät begriff ich, dass er mich alleine losschickte, weil es ihm zunehmend schwerer fiel. Er schaffte es nicht mehr, aufs Dach zu steigen, um die Ziegelsteine zu befestigen. Bald waren auch die dreihundert Meter vom Bauernhaus zur Eichenhütte zu beschwerlich, um sie jeden Tag zu meistern. Sicher sah er vom Küchenfenster aus, wie die Eichenhütte zerfiel.
Ich weiß noch, dass die Schafe an den Bauern verkauft wurden, der später das Pferdegehege zu einem Acker machte. Ich habe keine Ahnung, wer die Pferde nahm. Als Großvater dann ins Heim musste, fütterte niemand mehr die Katzen bei der Hütte. Auch Oma war bereits zu alt, als dass sie die Strecke jeden Tag hätte meistern können. Außerdem war alles verwuchert und verwachsen, jetzt, da es keine Schafe mehr gab. Und der Stamm im Inneren der Eichenhütte war so breit geworden, dass das Holz um ihn angestrengt knirschte. Bei jedem Windstoß lösten sich die Schrauben und morsche Bretter brachen aus den Wänden der Hütte. Die Ziegel rutschten vom Dach, hinterließen große Löcher, sodass das Holz im Inneren faulte. Und als Großvater starb, verkaufte Oma Haus und Grund. Der künstlich angelegte Teich wurde mitsamt den Fischen zugeschüttet, das sommernächtliche Quaken der Frösche verstummte und das Holz, das einst die Hütte gewesen war, wurde auf einen großen Haufen mitsamt den babyblauen Balken geschlichtet und im Osterfeuer verbrannt. Übrig blieb die Eiche.