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Die Eichenhütte
In der Nähe eines Bauernhauses befindet sich eine Eiche. Sie ist weder groß noch alt. Zwischen den Eschen und Birken fällt sie auf, aber schon lange nicht mehr so, wie zu der Zeit, in der Großvater um sie herum eine Hütte für seine Schafe baute.
So wie die Eiche, war auch sie gewöhnlich. Sie sah so aus, wie man sich eine Hütte vorstellt, die von einem Mann gebaut wurde, der in seinem Leben nicht viel gebaut hat: mit unterschiedlich hohen Holzwänden aus schief geschnittenen Brettern und kleinen, grob aus dem Holz gestanzten, glaslosen Fenstern. Die Hütte bestand aus den unterschiedlichsten Holzarten. Großvater hat sie selbst gesammelt, die Bretter. Einige sammelte er an der Stelle, an der er jeden Herbst auch Parasol sammelte, in der Nähe einer Lichtung auf der es auch Krokusse gab und einen Hochsitz, das Holz so morsch, dass kaum ein Jäger sich hinaufwagte. Die meisten Bretter waren unbrauchbar, sogar für die Hütte, aber Großvater erkannte die Guten.
An den Samstagen, wenn die Leute zur Sperrmüllanlage fuhren, war Großvater auch da. Nicht sichtbar für die Gemeindemitarbeiter und die Leute, die ihre alten Kästen, Fernseher, Staubsauger, Schreibtische, Stühle und so weiter entsorgten. Er trieb sich vor dem Maschendrahtzaun herum, lag auf der Lauer, gut fünfzig Meter entfernt und wenn jemand her sah, dann duckte er sich. Was sie wegwarfen, sah er durch sein Fernglas.
Großvater war nicht arm. Er hätte sich Holz kaufen und eine viel schönere Hütte bauen können. Er hatte sogar einen Tischlerfreund, der ihm das Holz billiger gegeben hätte. Oder geschenkt, wenn er dafür eine Bierkiste bekam. Aber das wollte Großvater nicht. Stattdessen freute er sich über seine Ausbeute, wenn er nachts über den Maschendrahtzaun kletterte und nach passenden Materialien suchte. Einer seiner schönsten Funde waren babyblaue Holzbalken, mit denen die unförmigen Stallfenster über Nacht geschlossen werden konnten. Dank der stilvoll aus dem Holz gestanzten, spiralförmigen Musterungen an den Seiten wirkten sie wie eine Antiquität. Dass sie viel edler aussahen als der Rest der Hütte, störte Großvater nicht. Sie hatten Charme, so wie die Hütte, dachte er.
Für sich genommen war die Hütte hässlich, das wusste Großvater. Aber darum hatte er sie ja um die Eiche gebaut und die Materialien selbst gesammelt und zugeschnitten und das, so dachte er, macht sie besonders. So wie die Zeit – das dachte Großvater nicht – die in und auf und um sie herum verbracht werden wird.
Weil aus dem Dach mit den Ziegeln, die teils aus Ton, teils aus Lehm waren und die rote, grüne oder schwarze Farbtöne hatten, die Eichenkrone wuchs, nannte Großvater sie Eichenhütte und das taten auch die Leute, die ihn und die Hütte kannten.
„Hässlich ist er schon, dein Stall“, hat einmal ein Nachbar gesagt. „Aber das mit der Eiche, das gefällt mir.“ Und das freute Großvater. Auch wenn er im Laufe der Zeit häufiger darauf angesprochen wurde, dass die Bretter schief, die Fenster unförmig sind und dass das Holz an den Seiten verrottet. Einmal kam einer und fragte, ob er denn nicht daran gedacht hat, dass ein Baum wächst und wie viel Arbeit es doch sei, alleine das Dach instand zuhalten. Ob es das denn überhaupt wert sei, so viel Arbeit in so eine hässliche Hütte zu stecken.
Großvater hat abgewinkt, gemeint, dass andere praktikable Sachen bauen können. Er habe seine Eichenhütte und Hier und Jetzt, wenn er an ihr arbeitet, würde ihn jenes Gefühl ereilen, das einen Menschen nur dann ereilt, wenn er mit eigenen Händen etwas schafft.
Die Eichenhütte befand sich etwa dreihundert Meter von dem Bauernhaus entfernt, in dem Großvater wohnte. Vom Küchenfenster hatte er einen guten Blick darauf. Und auf seine Schafe. Die Böschung, links von der Hütte, führte zu einer schmalen Weide. Dort grasten sie am Tag, gleich neben einem Fluss, der breiter als die Weide war. Rechts lag das Pferdegehege, das Jahre später an einen Bauern verkauft und zu einer Ackerlandschaft werden wird. Damals lebten vier Pferde im Gehege. Zwei gescheckte, ein schwarzes und ein rotbraunes, das Großvater vor einigen Jahren, als es noch keinen Zaun gab, an einer Hausecke überrascht und umgerannt hatte. Drei Wochen lag er im Krankenhaus, weil zu den Verletzungen noch ein leichter Herzinfarkt kam. Großvater nahm es dem Pferd nicht übel. Es hat ihn genauso wenig kommen sehen, wie er es. Nur Respekt hatte er seit dem Vorfall, die Pferde stets im Blick, wenn er das Gehege betrat.
Wann immer Großvater aufbrach, um Reparaturen an der Eichenhütte vorzunehmen, führte sein Weg am Badeteich vorbei, den er mit der Hilfe seines Nachbarn angelegt hatte. Seit Kurzem quakten in ihm Frösche, die er vom Biotop eben jenes Nachbarn gestohlen hat, in der Hoffnung, sie würden sich in seinem Teich ansiedeln (was sie auch taten).
Ein Jahr blieb die Eichenhütte unbewohnt, bevor Großvater die Schafe einziehen ließ. Zum einen, weil er sich nicht sicher war, ob sie stabil genug war, um Sturm und Wetter standzuhalten, zum anderen, weil er noch einen Futtertrog bauen und an der hinteren Innenwand befestigen wollte. Aber Großvater war nicht gut im Schätzen, weshalb der Trog rund fünfzig Zentimeter zu lang war. Außerdem dachte er nicht an den Eichenstamm, der eine beachtliche Menge an Raum im Inneren der Hütte einnahm.
Großvater kürzte den Futtertrog, stanzte aus der Mitte ein großes Loch, sodass er sich um den Stamm herum, an der hinteren Stallwand einsetzen ließ. Statt Stunden kostete es Tage und dann noch einmal Monate, bis der Innenraum von den Schafen bezogen werden konnte. Auch den Boden legte er nachträglich, mit Brettern, die er Stück für Stück zuschnitt.
Als er fertig war, die Schafe bereits ihren ersten Winter in der Hütte verbracht hatten, ergab es sich, dass Kätzinnen sich im Frühling (später auch manchmal im Herbst), den Futtertrog zum Gebären ihrer Kätzchen suchten. Wohl lag es an dem frischen Heu, dass er jeden Abend hinein legte, aber auch an jener Nische, in der Mitte des Trogs, hinter dem Eichenstamm, die durch seine Unbedachtheit entstanden war. Ein Glücksfall, wie Großvater fand, denn er liebte, wie der Stall sich mehr und mehr mit Leben füllte.
An den Reparaturen, die er Jahr für Jahr vornehmen musste, störte er sich nicht. Er packte täglich vier Karotten und vier Äpfel ein, die er den Pferden gab. Aus dem Fluss schöpfte er mehrere Eimer Wasser und bald schon fütterte er auch die Kätzinnen, damit sie sich nicht auf Nahrungssuche begeben und allzu weit von ihren Kätzchen entfernen mussten. Die Salzstange für die Schafe tauschte er nicht täglich, aber er kontrollierte sie. Einige Zeit später bekam er von seinem Nachbarn Fische geschenkt, die sich in den Teich gesellten, zu den Fröschen und den Libellen. Und als er ein Vogelhäuschen an einen Ast der Eiche hing, kamen auch die Vögel, was vor allem den Kätzinnen gefiel. Nur die Hasenkäfige, die Großvater irgendwann an die Hinterseite der Eichenhütte baute, blieben leer. Nicht weil er keine Hasen mochte, sondern weil er erfuhr, dass ein Enkelchen auf dem Weg war. Das freute ihn so sehr, dass er sich kurzzeitig einem anderen Projekt widmete als der Eichenhütte. Denn für Kind wollte er ein Schaukelpferd bauen, die Materialien dafür – nun, das ist dieselbe Geschichte.
Großvaters Freude über Kind wuchs weiter an, als sich herausstellte, dass es seine Liebe zur Eichenhütte teilte. Sobald es laufen konnte, verbrachten sie viel Zeit bei ihr. Im Winter rodelten sie die Böschung hinunter (Großvater baute ein Vordach an die Eichenhütte, unter das sie die Rodel stellten). Die Jahre danach, als das Rodeln zu langweilig wurde, liefen sie Eis auf der gefrorenen Oberfläche des Badeteichs. Großvater lehrte Kind, wie man geschickt über den Kot der Schafe sprang und noch bevor Kind lesen konnte, hielt es einen Akkubohrer in der Hand, mit dem es eifrig Löcher in die Bretter bohrte, die Großvater gegen das im Winter morsch gewordene Holz tauschte.
Die Salzstangen der Schafe wollte Kind selbst tauschen, weshalb Großvater eine kleine Leiter für es aufstellte – denn um hochgehoben zu werden, dachte Kind, sei es schon zu groß.
Die meiste Zeit verbrachten die beiden im Frühling und im Spätsommer bei der Eichenhütte. Oft saßen sie stundenlang auf dem Dach. Großvater befestigte die Ziegel, passte das Dach an den breiter werdenden Stamm der Eiche an, während Kind auf den Ästen kletterte. Manchmal jausneten sie auf dem Dach, dann blockten die Schafe und die Pferde machten ihre Hälse lang.
Besonders gefiel es Kind, wenn die Kätzchen ihre ersten Schritte aus der Eichenhütte taten. Es nannte sie allesamt Lena, weil es den Namen schön fand. Großvaters Frage, wie es die Kätzchen denn auseinanderhalten konnte, tat es schulterzuckend ab: „Es kommen die, die wollen.“
Irgendwann glaubte Kind, groß genug zu sein, um alleine zur Eichenhütte zu gehen. Aber weil Großvater das nicht erlaubte (so verantwortungslos er in manchen Dingen auch sein mochte, er ließ Kind nicht unbeaufsichtigt auf Bäume klettern oder am Wasser spielen), schlich es sich immer erst aus dem Bauernhaus, wenn Großvater schlief. Aber nur in sternenklaren Nächten mit Monden, die stark leuchteten, denn eine Taschenlampe hatte es nicht. Zwischen Fluss und Teich sprang es den breiten Steg entlang über den Schafskot hinweg (manchmal auch hinein), um über den leeren Hasenstall hinauf auf das Dach der Eichenhütte zu klettern. Dort setzte es sich auf den ersten breiten Ast und lauschte dem Rauschen des Flusses, dem müden Blöken der Schafe unter sich, dem Quaken der Frösche im Teich. Kind war gerade so alt, dass die Nacht mystisch wirkte, ohne ihm Angst zu machen. Und wenn es doch einmal gruselig wurde, dann sang es. Denn Kind liebte es, zu singen. Nicht so wie im Kindergarten, wo es immer nur ganz leise sang. Kind war nicht schüchtern, es mochte einfach nicht, wie die Stimmen der lauteren Kinder auf den Kassetten klangen. Darum sang es auch nur hier, auf dem Dach der Eichenhütte laut und voller Inbrunst, weil niemand hier war, um es aufzunehmen. Manchmal redete Kind sich ein, dass die Schafe und die Kätzchen und die Frösche mit ihm sangen.
Nach dem Kindergarten, als Kind in die Schule kam, warteten Lernstunden und Hausaufgaben auf es und keine aufregenden Naturnachmittage mit Großvater. Die ersten Jahre verbrachten sie dafür im Sommer umso mehr Zeit auf dem Dach der Eichenhütte. Irgendwann erlaubte Großvater Kind sogar, allein zur Eichenhütte zu gehen, wenn es die Schafe, die Pferde, die Kätzchen und die Fische fütterte. Kind freute sich, begriff erst spät, dass Großvater alt geworden war. Und als die Eltern das begriffen, kam Kind in einen Kinderhort. Dort hatte es zwar Spaß und fand Freunde, aber die Eichenhütte sah es nicht mehr.
Unterdessen fielen Großvater die Arbeiten immer schwerer. Er schaffte es nicht mehr, aufs Dach zu steigen, um die Ziegelsteine zu befestigen. Bald waren auch die dreihundert Meter vom Bauernhaus zur Eichenhütte zu beschwerlich, um sie jeden Tag zu meistern.
Vom Küchenfenster aus konnte er zusehen, wie die Eichenhütte zerfiel. Er gab die Schafe an den Bauern, der später das Pferdegehege kaufen würde, um dort einen Acker zu bauen, und gleich darauf verkaufte er die Pferde, weil er sich nicht mehr um sie kümmern konnte. Als er dann ins Heim musste, war niemand mehr da, der die Kätzinnen fütterte und der Stamm im Inneren der Eichenhütte war so breit, dass das Holz um ihn angestrengt knirschte. Bei jedem Windstoß lösten sich die Schrauben und morsche Bretter brachen aus den Wänden der Hütte. Die Ziegel rutschten vom Dach, hinterließen große Löcher, sodass das Holz im Inneren faulte. Und als Großvater starb, wurden Bauernhaus und Grund verkauft. Der künstlich angelegte Teich wurde mitsamt den Fischen zugeschüttet, das sommernächtliche Quaken der Frösche verstummte und das Holz, das einst die Hütte gewesen war, wurde auf einen großen Haufen mitsamt den babyblauen Balken geschlichtet und im Osterfeuer verbrannt. Übrig blieb die Eiche.