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Die Freude meines Bruders
Sie kam raus. Ein Pullover, rot wie Leber, dazu eine Jeans, die hellblau und teilweise zerrissen von Mode war. „Ah Kreuzberg, hier sehen sogar die Ärztinnen wie Punks aus“, sagte ich mir.
Während sie erzählte, versuchte ich erfolglos, meine Gähnkette zu unterbrechen.
Dieses Spiel mache ich mit, seitdem ich hier bin: nur einen Teil zu verstehen und gleichzeitig so zu tun, als ob ich alles verstanden hätte. Sie redete sehr schnell und kompliziert, das kenne ich aus dem Heimatland. Ärzte wollen nicht verstanden werden. Es geht um Macht — sowohl die schlechte und unlesbare Schrift als auch die Ver wendung von nichtexistierenden Wörtern.
In weniger als 5 Minuten hat sie alles gesagt, für sie völlig belanglos darüber nachzudenken, dass ich nur zwei Sätze aufgenommen habe. Erstens, Ayshe hat einen Suizidversuch in der Öffentlichkeit unternommen, deshalb wird sie nicht entlassen, und zweitens hat sie Paranoia und Schizophrenie! Ob diese Ärztin wegen des Piercings in der Zunge irgendwelche Schwierigkeiten beim Aussprechen haben könnte und welche Wörter ihr schwer fallen würden, waren meine Gedanken und es war eine Herausforderung, mich nicht ablenken zu lassen und konzentriert zu bleiben. Ich dachte, irgendwas müsste in meinem Hirn gestört sein, es ist doch anormal genau in dem Moment, in dem jemand über die Krankheit meiner Mutter redet, über sowas nachzudenken. „Sollte ich sie danach fragen?“, ging mir durch den Kopf.
Er stand neben mir, rechts. Spielte mit den Fingern in seinem Bart. Er sah dabei nicht besonders nachdenklich aus. Seine Augen kenne ich gut. Ich bin mit diesen Augen aufgewachsen. Jeden Tag habe ich diese Augen gesehen. Ich kann vermuten, womit er beschäftigt ist. Wenn er traurig oder überrascht ist, werden die Augen rund. Zwei runde braune Kugeln. Wenn er in der Vergangenheit schwimmt, werden sie tief und klein. Zwei kleine Tunnel, deren Beginn 1997 ist. Dunkler als sonst. Sich jetzt nicht ablenken lassen, besonders jetzt, das habe ich von ihm erwartet.
„Hast du was verstanden?“, fragte ich ihn trotz meines Wissens, dass mein Deutsch besser ist als seins. Die Schreie der Patienten, ihr lautes Lachen, die Schimpferei, während andere weinen. Es machte mich sauer, dass ich meine Mutter ab Morgen jeden Tag auf einer geschlossenen Station besuchen sollte. Unerträglich.
„Sie wollte sich in der Öffentlichkeit umbringen, deshalb lassen sie sie nicht raus“, sagte mein Bruder lächelnd und zeigte mir Ayshe hinter der Glasscheibe der Tür. Ich wollte hingehen und sie umarmen, ihre grauen Haare streicheln, während ich mit der anderen Hand ihren weichen
Rücken an mich drücke. Ich wollte hingehen und ihr sagen, dass ich sie auch früher geliebt habe und sagen „Ba Miwant bm ', du bist erst 44 Jahre alt, das kann nicht sein.“ Ich ging nicht.
„Warum lachst du denn? Gibt’s was zum Lachen?“, fragte ich aufgeregt, um von mir selbst und meinen Gedanken abzulenken.
„Wo ist dein Humor, Mann? Kannst du nicht sehen, dass in Europa Suizid in der Öffentlichkeit verboten ist? Mit anderen Worten, wenn du zuhause ganz ruhig und zivilisiert zweihundert Schlaftabletten in Wasser aufiöst und trinkst, infolgedessen für immer tief schläfst und niemanden störst, ist das in Ordnung. Aber du darfst nicht auf der Straße so tun, als ob du dich umbringen willst, da dann ein Krankenwagen anfahren muss, Menschen es sehen müssen und natürlich viele traumatisiert werden und danach Therapie brauchen, all das kostet Geld. Sogar im Fall unserer Mutter denke ich, sie hätte gelobt werden können, wenn sie versucht hätte, sich in der Wohnung umzubringen, da es zwei Zwecke erreicht hätte: einerseits gäbe es eine Ausländerin weniger, andererseits hätte sie ihre erfolgreiche Integration in die zivilisierte Gesellschaft beweisen können, wenn sie sich im Privaten umgebracht hätte“, sagte er mit einem teuflischen Gesicht.
„Hör auf, Baban! Jetzt ist nicht die beste Zeit, um deine Analyse über das böse Europa zu hören. Ist dir nicht bewusst, dass wir jeden Tag in dieses verrückte Haus kommen müssen, um Ayshe zu besuchen? Schau dich eine Sekunde um, wir werden auch krank, wenn wir jeden Tag solche Menschen sehen müssen!“, sagte ich wütend und laut.
Als das Lächeln von seinen Lippen verschwand, liefen wir im Stillen zum Aufzug. Ich drückte den Knopf ,Erdgeschoss‘. Dieser Aufzug ist größer als ein OP-Zimmer im Iran, dachte ich. Die Tür öffnete sich. Ich ging hinaus, drehte mir eine Zigarette und steckte sie an. Ob ich ein anderes Leben mit einer anderen Familie verdient hätte, war wieder in meinem Kopf. Menschen kommen nach Europa mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wenn ich den Iran nicht verlassen hätte, wenn ich auch wie die anderen ein normales Leben geführt und mich nicht mit Idealismus verdorben hätte, wäre ich dageblieben und hätte nichts von alledem geschehen sehen, wäre Ayshe nicht krank geworden. Aber ich wollte eben etwas Besseres als das Bestehende, dachte ich.
Auf der Admiralsbrücke waren zwei küssende Menschen zu sehen. Nur 500 Meter weiter, im siebten Stock des Krankenhauses sind über hundert Menschen inhaftiert, in Geschrei und Lärm, damit hier Liebe ausgedrückt werden kann, dachte ich, während ich Neid spürte.
„Du bist meine Seelenwanderungskraft bevor ich dich sah
1 Ein kurdischer Liebesausdruck, wörtliche Übersetzung aus Sorani (Kurdisch) „Ich wünsche mir dein Gast zu sein“
war ich eine einsame Schildkröte
sah dich und verkroch mich im Schild flog raus als eine Nachtigall“
Ich kann es ihr sagen, wenn ich sie wieder sehe, dachte ich mir.
Wir gingen langsamen Schrittes nebeneinander Richtung Kottbusser Tor. Dass ich nun jeden Tag diesen Weg gehen muss, löste Mitleid mit mir selbst aus.
Ich sah mich, wie mein eiliger Onkel mich rennend mitschleifte. Meine Beine waren kürzer als seine. Mein linker Schuh ging verloren. Unter seinem bösartigen Blick zog ich ihn wieder an. Er schlug auf meine rechte Schulter und zog mich weiter, ich hörte, dass er Ayshe leise „unwürdig” nannte.
„Wohin gehst du?”, fragte Baban. „Du solltest wirklich darauf achten, geh zum Arzt! Dass du plötzlich weggehst und deine Wahrnehmung verlierst und anscheinend in Erinnerungen versinkst, ist Dissoziation. Mein Therapeut hat es mal so beschrieben, dass man nicht präsent ist. Man ist zwar hier, aber fühlt sich absolut woanders und wannanders, das ist sehr gefährlich! Du kannst sogar überfahren werden! Denn du siehst nicht, ob die Ampel rot oder grün ist, ob es der Bürgersteig ist oder die Straße!”, sagte Baban und ich fühlte auch eine brüderliche Sorge in seinen Worten.
„Dein Therapeut wusste nicht, dass nicht alle Menschen die ganze Zeit dissoziieren? Diejenigen die immer bei vollem Bewusstsein sind, tragen auch mehr Verantwortung, Bruder.” sagte ich zynisch und schlug vor, einen Kaffee am Kotti zu trinken.
Wir gingen die Treppen hoch und sahen einander gegenüber an einem Tisch. Wir bestellten einen Kaffee und einen Pfefferminztee. Ohne Wortwechsel steckten wir Zigaretten an. „Was denkst du?”, fragte ich.
„Erinnerst du dich an diesen Abend?”, sagte er, während er seine Augen wegen des Rauches zukniff.
Ich lief vor den Erinnerungen weg, aber Baban ließ mich nicht. Ich wusste welchen Abend er meinte. Wir hatten viele gemeinsame Abende miteinander erlebt. Aber nur einer ist so tief in unseren Köpfen geblieben, als ob jemand aus der Antike ihn mit Knochenkeil und Steinhammer in unser Hirn gemeißelt hätte.
„Sein Gesicht ist mir immer noch präsent, ich sehe ihn immer noch, wie er aussah, als er uns diesen Weg zeigte und wartete, dass wir weiter und weiter in den Sumpf gingen”, sagte ich.
„Nein. Kannst du einmal diesen alten Mann aus Serbien vergessen? Du denkst immer noch darüber nach, warum ein Mann im Nirgendwo auf der Grenze zwischen Serbien und Ungarn eine Gruppe von Menschen in den Sumpf schicken wollte? Lieber Wafa, ist Rassismus für dich immer noch kein Thema? Vergiss diese Geschichte, er war bloß ein Mann in Serbien. An diesem Abend sah er mehr als zwölf Muslime, die ins christliche Europa gingen. Der konnte nicht ertragen, Muslime einfach dort hingehen zu lassen. Optimistisch gesehen, war es seine erste, impulsive Idee, dass er Flüchtlinge in diesen Sumpf schicken wollte. Oder es war von vorneherein sein schrecklicher Plan“, sagte Baban ernsthaft, wie ein Er wachsener, der einem Kind etwas erklärt.
„Ich meine diesen Abend, aber nicht den alten Mann und die Möglichkeit, in einem Sumpf ertränkt zu werden. Nein Wafa, ich meine ungefâhr eine halbe Stunde davor“, sagte Baban, als ob er ein Rätsel für mich auflösen wollte.
„Erinnerst du dich, als wir aus Versehen in den Hinterhalt der österreichischen Polizei geraten waren? Das ist auch lustig, dass Polizisten aus Österreich sich erlauben, in ein anderes Land, das nicht einmal das Nachbarland, nicht EU-Land ist...“. Ich unterbrach ihn.
„Baban, bitte fahre ohne deine Analyse fort. Ich habe deine Art zu reden satt, dass du in allem Rassismus entdeckst“, sagte ich und trank einen Schluck Kaffee. „Ich fühle mich schuldig, wegen mir wurdest auch du zur Flucht gezwungen. Bestraft ohne Tat. Hasst du mich wegen dieses ungewünschten Schicksals im Exil?“, fragte ich trotz Angst vor einem Ja, aber er antwortete nicht und ignorierte die Frage.
„Du bist langweilig geworden. Ja, wie gesagt, Polizisten aus Österreich sitzen in Serbien im Hinterhalt, gleichzeitig reden EU-Staaten Tag und Nacht über die Souveränität der Länder. Egal. Als die Schlepper geschlagen wurden und wir wie eine zersprengte Kette auseinander rannten und Ayshe verloren ging, weißt du worüber ich heute im Krankenhaus nachdachte, als diese hübsche Ärztin uns über Ayshes Situation berichtete? Ich dachte, wie ich an diesem Abend, in diesem Hinterhalt der Polizei, in dieser Sekunde, in der Ayshe verloren war, mich freute.“ Das sagte er!