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Die Götter im Fries

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26.10.2001
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Die Götter im Fries

Die Götter waren es schon lange leid, immer dieselben Bilder darzustellen. Tagsüber drückten sie ihre Gesichter und ihre Körper aus dem Stein heraus, und die Besucher des Museums sahen immer dieselben Bilder. Die Göttin Athene nahm einen Giganten bei den Haaren, die Nachtgöttin warf ihren Schlangentopf, Kybele ritt auf ihrem Löwen und der Zeusadler breitete seine Schwingen aus. Nachts, wenn das Museum geschlossen hatte, zogen sie sich vorsichtig in den Stein zurück und spielten Karten oder Verstecken. Da ging es fröhlich zu. Alle hatten sich längst angefreundet, und wenn sie am nächsten Morgen wieder ihre Gesichter aus dem Stein streckten, taten sie es, wie andere Leute zur Arbeit gehen. "Achtung! Fries!" rief Pallas Athene (sie war die Chefin), und alle steckten gleichzeitig die Köpfe aus dem Stein.

Eines Morgens, als das Museum geöffnet wurde und Athene gerade rief: "Achtung! Fries!" nahm der Gigant Athene den Helm vom Kopf, setzte ihn selber auf und nahm sie bei den Haaren. Erst bemerkte niemand etwas. Als die erste Führung kam, sagte der Mann: "Und hier sehen sie die berühmte Stelle, wo die Göttin der Weisheit, mit Namen Athene, einen Giganten beim Schopf faßt." - "Umgekehrt", sagte ein Museumsbesucher. Der Führer stutzte und traute seinen Augen nicht. "Das muß ein Irrtum sein", sagte er und ging schnell weiter.

Am Abend war Athene sauer, und der Gigant mußte am nächsten Tag im Stein bleiben. Steinarrest.

Das gefiel ihm gar nicht so übel. Er unterhielt sich ein bißchen mit Herkules, der schon seit Jahren lieber drin blieb. Herkules war nur ein Halbgott und wurde schnell müde. "Wenn man sich nun stärker durch den Stein drückte", sagte der Gigant, "mit aller Kraft. Dann wär man vielleicht draußen!" Herkules hatte nicht zugehört. Aber den Giganten ließ der Gedanke nicht mehr los.

Am nächsten Morgen, als Athene rief: "Achtung! Fries!", warf er sich mit aller Kraft nach vorn. Und wirklich, er ragte ein ganzes Stück weiter raus. Nur hatte er vergessen, daß Athene ihn ja bei den Haaren hielt, und so mußte er den ganzen Tag in einer unbequemen Stellung zubringen.

Der Wärter schaute sich nun jeden Tag das Fries genau an. Es schien sich zu verändern. Einmal saß Kybele umgekehrt auf ihrem Löwen, einmal hatte der Zeusadler seine Schwingen zusammengefaltet, und wenn er sich nicht täuschte, ragte der Gigant jeden Tag ein Stück weiter heraus.

Der Wärter beschloß, die Sache zu melden. Er ging zum Direktor und sagte: "Herr Direktor, das Fries ist kaputt!" Der Direktor erschrak. "Hat jemand was abgebrochen?", fagte er besorgt. "Nein, im Gegenteil", sagte der Wärter, "der Gigant rückt jeden Tag ein wenig mehr aus dem Stein heraus. Ich meine, vielleicht will er fliehen." Von Kybele und dem Zeusadler sagte er vorsichtshalber nichts.

Der Direktor runzelte die Stirn. Wenn man den ganzen Tag ein Fries bewachen mußte, wurde man vielleicht wunderlich. Man schaute den ganzen Tag die Steingestalten an, und am Schluß glaubte man, die Figuren würden sich bewegen. Der Direktor lächelte.

"Behalten Sie die Sache im Auge", sagte er. Als der Wärter ging, rief er ihm nach: "Machen Sie doch mal einen schönen Urlaub!"

Der Wärter schaute auf das Fries und sah die Nachtgöttin, die ihren Schlangentopf auf dem Kopf balancierte. Er kniff die Augen zusammen und sah woanders hin. Da stieß er gegen die Hand des Giganten, die sich weit in den Raum streckte. "Vielleicht sollte ich mal ans Meer fahren", dachte der Wächter. "Man sieht nur Wasser und den Himmel." Dann begann er zu frühstücken. Zum Schluß drückte er seinen Apfel dem Giganten in die Hand und lächelte nun selbst.

Als sich am Abend die Götter in den Stein zurückzogen, schaute der Gigant verblüfft auf den Apfel in seiner Hand. Er wußte nichts damit anzufangen und warf ihn fort. Herkules fing ihn auf.

"Ein Apfel", dachte er, "woran erinnert mich dieser Apfel?" Herkules fing wieder an, im Stein auf und ab zu gehen. Immer wenn er an die Grenze des Steins kam, drehte er um und ging in die andere Richtung. So ging er hin und er, wie ein Löwe in seinem Käfig.

Am nächsten Tag war das Fries ganz normal. Der Gigant hatte eingesehen, daß es so nicht ging. Je stärker er sich herausdrückte, desto stärker schien der Widerstand zu sein. Als er seine Hand herausgestreckt hatte, hatte er einen schauderhaften Tag verbracht. Ganz lahm war ihm der Arm geworden. Heute fanden alle Götter: So wie sie's immer gemacht hatten, war es doch am schönsten.

Nur Herkules ging innen im Stein auf und ab. Woran erinnerte ihn der Apfel? Er war so versunken, daß er nicht merkte, daß er an die Steingrenze kam. Er vergaß umzukehren und ging gedankenverloren aus dem Stein heraus. Plötzlich stand er im Museum. Er war nicht mehr aus Stein.

Er warf seinen Apfel dem Wärter zu, der ihn verblüfft auffing. "Ein Steinapfel", sah er und betrachtete ihn erstaunt von allen Seiten. Dann blickte er auf, aber der Museumsbesucher war verschwunden.

Als das Museum schloß und der letzte Besucher die Räume verließ, dachte die Frau an der Kasse: "Der hat ja eine komische Frisur, und sein Löwenfell gehört auch mal geflickt." Dann schloß sie die Kasse ab und stand auf. Feierabend.

 

Ganz nette Geschichte. Und so richtig kenne ich mich irgendwie nicht in der griechischen Mythologie aus - und kann deshalb auch weniger was dazu sagen.

Seltsam ist sie aber schon - vor allem der Schluß...

Griasle
stephy

 

Und wenn es tatsaechlich so einfach waere, den Stein zu verlassen?! Nicht mit der muehsamen Kraft des Giganten, sondern gedankenverloren, mit einem Apfel in der Hand, der den Halbgott an seine andere Haelfte erinnert?!
Das Museum, das Goetter aufbewahrt, sollte besser bewacht werden.

 

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