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Die Gegenleistung
»Dreckiger, kleiner Wichser«, sagt der Mann vor mir, während Blut von seinen Lippen tropft. »Das wirst du bereuen, Scheißkerl.«
Er macht einen Schritt auf mich zu, mit einer Hand seine Lippen abtastend, während ich zitternd rückwärts robbe und dabei meine Beine nutzlos nachziehe. Meine Hände sind Schwämme, die gierig den Schmutz und die winzigen Kieselsteine der Gasse aufsaugen. Es schmerzt, doch ich merke es kaum. Ein Klappmesser zieht meine komplette Aufmerksamkeit auf sich. Fahles Licht einer Straßenlaterne fließt von seiner Klinge.
Von rechts packen mich Hände, deren Besitzer ich nicht sehen kann.
»Manuel«, lacht er, »du wirst nie wieder auf die Idee kommen, Neidhardt zu bescheißen.«
Und das Messer … es kommt immer näher …
Schweißtriefend schrecke ich aus diesem Traum hoch, der fast jede Nacht an meinen Nerven zerrt. Die Narben, die sich senkrecht über die Stelle ziehen, an der sich früher meine Augen befunden haben, jucken und werden heiß, als die kurz geschnittenen Fingernägel wie von selbst darüber kratzen. Der Schmerz fühlt sich einen Augenblick lang gut an, bis er schließlich unangenehm wird.
Ich stehe auf. Der Boden unter meinen Füßen ist kalt, eine Gänsehaut läuft mir das Rückgrat entlang. Ich mache ein paar unsichere Schritte und stoße mir bereits am Nachttisch das Schienbein.
»Verfluchte Scheiße.«
Das Fluchen habe ich mir angewöhnt. Manchmal hilft es, meistens nicht.
»Das sagt man nicht.«
Vollkommen überflüssig drehe ich mich um, die Stimme hinter mir geglaubt. »Wer ist da?« Mehr ein Windhauch als Worte.
»Ich hatte nie eine Mutter, aber selbst ich weiß, dass man dieses Wort nicht benutzt.« Eine Männerstimme, leise, gelassen. Woher kommt sie?
»Wer ist da?«
»Ja«, seufzt er und ich höre Schritte, »deine Augen.« Lachen. Lachen? »Muss wundervoll sein, so unschuldig zu sein. Bist du blind, kannst du niemanden verletzen.«
Bei der Sehnsucht, die in der Stimme des Fremden liegt, dreht sich mir der Magen um. Wer ist er, dass er glaubt zu wissen, wie es ist, blind zu sein? Wie es sich anfühlt, von allem und jedem abhängig zu sein? Von ihrer Gnade? Ihrer Hilfsbereitschaft?
»Schickt Neidhardt Sie?« Ich versuche, meine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen, doch noch immer zittere ich bei dem Gedanken an das Messer, mit dem Neidhardts Schläger mir die Augen aus dem Schädel gepult hat wie Kerne aus einer Melone.
»Wer ist Neidhardt?«
Kurz herrscht Stille im Raum. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Was wollen Sie dann von mir?«
Wieder seufzt der Mann. »Mit dir reden.«
»Was?«
»Ich bin so neidisch auf dich.«
Vorsichtig weiche ich einige Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stoße. »Zur Hölle, wieso? Ich bin blind! Und wie das vonstatten gegangen ist, war nicht gerade angenehm!«
Er lacht. »Ich würde gerne mit dir tauschen, wenn ich könnte.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Schmerzen wären besser, als alles was ich sehe, denn das sind nur Grausamkeiten.«
Meine Stimme ein Krächzen. »Bitte, wer sind Sie?«
Wieder Schritte, dann das mir bekannte Quietschen der Federn meiner Matratze. »Ich weiß es nicht.«
»Was?«
»Ich weiß nicht, wer ich bin. Was ich bin.«
Wieder verschlägt es mir die Sprache.
»Ich habe schon oft Menschen gefragt, wer ich bin, aber niemand hat mir dann noch antworten können.«
Wieder Quietschen die Federn.
»Irgendwie war ich dazu nicht schnell genug.«
»Warum?«, frage ich, als ich meine Stimme wieder finde. Trotz der Tatsache, dass ich diesem Mann ausgeliefert bin, der meine winzige Wohnung belagert, habe ich nicht wirklich Angst vor ihm. Seine Stimme ist dafür zu sanft, seine Bewegungen zu ruhig.
»Sie sterben.«
Auch jetzt nicht.
»Sie sterben grausam, sie schwitzen, schreien und erbrechen die Überreste ihres Lebens auf den Boden. Sie beten, sie weinen, treten um sich. Und sie tun all das, ohne dass ich sie berühren muss.«
Ich fange an zu zittern, es ist kalt im Zimmer. Wind streichelt über meine Beine, fährt hoch in meine Shorts. Angst? Nein.
»Und dann … dann zerfallen sie zu Staub. Verschwinden einfach.«
Sein Atem geht pfeifend.
»Ich bin ein Monster.«
»Warum bist du ein Monster? Sag mir wie du aussiehst.«
Ich höre, wie er sich Rotz durch die Nase zieht. »Nein.«
»Wieso nicht?«
»Ich kann es nicht.« Er macht eine Pause. »Ich weiß nicht wie ich aussehe.«
Langsam lasse ich mich an der Wand entlang auf den Boden rutschen.
Und neben mir fängt ein Mann, den ich noch nie zuvor in meinem Leben getroffen habe, an zu weinen.
***
Der Wecker reißt mich aus meinem Traum, doch zu spät: Erneut habe ich mein Augenlicht verloren. Es muss sechs Uhr morgens sein.
»Guten Morgen«, höre ich die mittlerweile vertraute Stimme. Von Tag zu Tag klingt er beschwingter, fast glücklicher. »War die Sozialarbeiterin gestern da?«
»Ja«, aber heute wird sie nicht kommen.
»Ich könnte etwas zu essen machen.«
Ohne auf meine Antwort zu warten, höre ich, wie er Schränke öffnet und etwas über einer winzigen Ofenplatte brutzeln lässt, die ich das letzte Mal vor drei Jahren benutzt habe.
Während wir essen, führen wir Gespräche, die wir in den letzten Wochen bereits ein dutzend Mal geführt haben. Beide haben wir kein soziales Leben. Beide haben wir keine Zukunft.
Doch es gibt etwas, das ich habe und das ihm fehlt.
Ich habe ein Ziel.
Langsam bewege ich mich auf das offene Fenster zu, während er in der Küche hantiert und kühler Wind meine Haare rauft. Ich schließe es so leise ich kann und ich lege einen Bolzen um, der erst vor kurzem dort angebracht worden ist und dessen Position ich in den letzten Tagen immer wieder überprüft habe.
»Wer ist das eigentlich auf dem Foto über deinem Bett? Deine Mutter?«, spricht er einfach weiter und ich hoffe, dass er mich nicht beobachtet.
»Ich wünschte, ich hätte eine Mutter. Aber …«, seine Stimme wird zu einem Flüstern, »sie ist gestorben, als sie mich gesehen hat. Ich meine, ich kannte sie nicht, aber … sie fehlt mir trotzdem.«
Ein bisschen fühle ich mich unwohl dabei, ihn zu benutzen. Ihn, der mich als seinen Freund betrachtet. Aber es ist die einzige Möglichkeit.
Nicht mein Augenlicht wieder zurückzubekommen, sondern die Träume loszuwerden.
***
Das Klopfen an meiner Wohnungstür unterbricht den Redefluss und ich höre, wie er scharf die Luft durch seine Zähne zieht.
»Oh«, haucht er und Schritte eilen auf mich zu. »Zur Seite!«, flüstert er, stößt mich, aber zu sanft, als dass ich hätte fallen können. Dielen quietschen, Holz und er ächzen synchron, aber die gleichbleibende Temperatur verrät mir, dass das Schloss des Fensters stand hält. »Nein …«
Zuerst dringen die Stimmen in meine Wohnung. »Manuel«, höre ich ihn und weitere Männer lachen. Genauso, wie er damals gelacht hat und bei dem Gedanken an das Blut, das von seinen Lippen getropft ist, stielt sich auch auf meine Lippen ein Lächeln.
Während sie mit schweren Schritten die Wohnung betreten, sagt er: »Es ist gut für dich, dass du dich entschieden hast, auch den Rest deiner Schulden bei Neidhardt zu begleichen.« Eine Pause. »Du siehst scheußlich aus.«
Ob ich das tatsächlich tue, weiß ich nicht. »Mag sein.«
Das Klacken von Stiefeln und dann halte ich mir die Hände auf die Ohren, ohne mir recht bewusst zu sein, weshalb.
Erst Sekunden später registriere ich die Schreie, die nicht nur meine Trommelfelle zum Vibrieren bringen.
***
Es ist bereits Tage her, dass er mich das letzte Mal besucht hat. Und ich habe den Verdacht, dass sich das auch in nächster Zeit nicht ändern wird.
Das Glücksgefühl der Rache hat sich bereits am nächsten Tag eingestellt, als an meinen nackten Füßen grobkörniger Sand oder Staub geklebt hat. Und auch wenn ihn die Sozialarbeiterin auf mein Bitten hin aufgesaugt hat, werde ich dieses Gefühl nicht los, schmutzig zu sein.
Dreckig.
Ein dreckiger, kleiner Wichser.
Nein, die Träume haben nicht aufgehört, aber sie haben sich verändert. Auch wenn ich nicht gesehen habe, was mit den Schlägern geschehen ist, träume ich davon. Ich habe ihr Leben auf dem Gewissen, sie mein Augenlicht. Und damit sich die Waagschalen ausgleichen, haben sie auch noch meinen Schlaf.
Seufzend ziehe ich mir Socken über. Barfuss gehe ich nicht mehr durch meine Wohnung.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, höre ich plötzlich hinter mir eine Stimme.
Eine vertraute Stimme.
»Worüber?«
»Ob ich wieder kommen soll.« Schritte. »Das war ziemlich … verletzend.«
Ich sage nichts.
»Ich habe gedacht, wir wären … du weißt schon.«
Ich habe mich Jahre lang niemanden mehr erröten sehen, doch in diesem Augenblick kann ich spüren, wie mir das Blut in den Kopf schießt.
»Es …«, tut mir wirklich leid, jedoch nicht so sehr, dass ich die Worte über meine Lippen bekomme.
»Ich kann dich verstehen. Ich meine …«
»Es war die einzige Möglichkeit. Ich musste mich rächen.«
Dieses Seufzen. »Vielleicht habe ich es verdient?«
»Nein«, sage ich und gestikuliere mit meinen Hände unkontrolliert in der Luft, »das hast du nicht.«
Er schweigt und ich fahre fort. »Du hast Erlösung verdient.«
Sein Lachen lässt mich zittern. »Erlösung? Ich lebe bereits über hundert Jahre und noch immer ist kein Ende in Sicht. Ich begehe täglich Sünden und täglich bereue ich sie. Und doch«, seine Stimme hat angefangen zu zittern und er räuspert sich, um sie wieder zu festigen, »die letzte aller Sünden kann ich nicht begehen. Ich habe dann ja keine Möglichkeit mehr, zu bereuen.«
Draußen pfeifen unmelodisch Vögel. »Du willst … sterben?« Ich räuspere mich. »Ich meine: Wirklich?«
»Wie soll ich sterben, wenn es niemanden gibt, der mich töten kann?«
Die Verzweiflung in der Stimme des Fremden … meines Freundes schockiert mich. »Vielleicht«, beginne ich, um dann den Gedanken zu verwerfen.
»Was?« Höre ich Hoffnung?
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit.«
»Ich … ich bin ganz Ohr.«
Langsam taste ich mich in die Richtung meines Badezimmers. »Komm mit.«
Und zum ersten Mal seit Jahren gibt es wieder einen Grund, den Spiegel zu benutzen.
Wenn auch nicht für mich.