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Die Grundschullehrerin

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05.05.2015
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Die Grundschullehrerin

1
Die Straßenmusikantin legte ihre Gitarre auf die bunte Patchworkdecke neben sich. Sie nahm einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche, die neben ihrem Campingstuhl stand, und lächelte den Passanten, die ein Geldstück in die kleine bunte Keramikschüssel legten, dankbar zu. Es läuft gut heute, dachte sie. Das Wetter war günstig: sonnig, aber nicht zu heiß, sodass die Menschen gut gelaunt durch die Fußgängerzone bummelten. Sie stellte sich vor, was die Leute sahen, wenn sie an ihr vorüberkamen: die junge Frau mit der altmodischen Gitarre, die sie sich an einem breiten gemusterten Band um die Schultern gehängt hatte Sie war gekleidet mit einem weiten geblümten, bis zu den bloßen Füßen reichenden Sommerrock und einer weißen Bluse, deren weiter Ausschnitt kokett eine runde Schulter sehen ließ. Dazu der Wust von rotblonden krausen Haaren, schulterlang, von einem bunten Tuch aus der Stirn gehalten. Das Gesicht noch jung, aber nicht mehr jugendlich, scheinbar ungeschminkt, sommersprossig, mit leuchtend grünen Augen. Sie trug aus bunten Bastfäden selbst geflochtene Armbänder und mehrere Halsketten aus farbigen Glasperlen. Ich muss für die Leute aussehen wie ein übrig gebliebenes Hippiemädchen, dachte sie. Aufmerksam beobachtete sie die Passanten, während sie spielte und sang.
Die Älteren dachten wahrscheinlich an ihre eigene Jugend zurück, an Woodstock und Jimmi Hendrix und die wilde Zeit der Blumenkinder. So wie das Ehepaar um die Sechzig, das sich, gewohnheitsmäßig oder aus echter Zuneigung, an den Händen hielt und sich die Zeit nahm, dem Gitarrenspiel eine Weile zuzuhören. Wie sie sich gegenseitig etwas zuflüsterten und lächelten! Vielleicht teilten sie Erinnerungen aus an eine Zeit, in der sie selbst noch jung gewesen waren und noch nicht unter zu hohem Blutdruck und geschwollenen Füßen litten.
Für die Jugendlichen war sie, die Musikerin, dagegen wahrscheinlich ein Relikt aus einer Zeit vor ihrer Geburt, etwas exotisch, aber eigentlich nur komisch und ein bisschen bedauernswert. Kaum dass sie es schafften, ihre Aufmerksamkeit einen Moment von ihrem Handy auf die sie umgebende Wirklichkeit zu lenken und ihr einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Bekleidet mit teuren, von den hart arbeitenden Eltern bezahlten Markenklamotten und in ihrem Bestreben, nur ja nichts Neues in ihrem sozialen Netzwerk zu verpassen, spielte das reale Umfeld nur eine untergeordnete Rolle in ihrem 2.0 - Dasein.
Die ganz Alten, die mit unsicheren Schritten ihren Rollator an ihr vorbei schoben, fühlten sich durch ihren Anblick womöglich an Zigeuner erinnert, was ihre misstrauischen und abschätzigen Blicke erklärte. Begleitet von nur unwesentlich jüngeren, aber noch agileren Freundinnen oder Pflegerinnen, blieben sie nie stehen, sondern schlurften weiter im Schneckentempo ihres Weges.
Nur die kleinen Kinder waren offen und interessiert. Neugierig zogen sie ihre widerstrebenden Eltern näher und veranlassten sie stehenzubleiben und zuzuhören. Manchmal fühlen sich dann die jungen Väter oder Mütter veranlasst, eine Münze in die selbst gebrannte Keramikschale zu werfen, bevor sie ihre widerspenstigen Zöglinge weiter zogen, um eiligst im nächsten Kaufhaus die dringend benötigten Spielsachen oder Kleidungsstücke zu erwerben.
Die Musikantin nahm nun wieder ihre Gitarre zur Hand und intonierte die ersten Takte des Liedes 'Where have all the flowers gone'. Als sie begann, mit ihrer schönen vollen Altstimme das bekannte Antikriegslied vorzutragen, wobei sie ein wenig den Stil von Joan Baez imitierte, blieben viele Leute stehen und hörten zu. Die letzte Strophe sang sie auf deutsch, weil sie wusste, dass die Menschen durch den traurigen Text berührt wurden, und erwartungsgemäß wurde applaudiert und die Münzen in dem Schälchen wurden durch einige Scheine ergänzt. Nicht, dass sie es auf möglichst große Geldeinnahmen abgesehen hatte. Das Geld interessierte sie nicht im Geringsten. Die Reaktion der Menschen zu beobachten, das war ihr wichtig. Zu sehen, wie sie die Gefühle steuern konnte, wie sie Macht über die Emotionen erlangte, das war es, was sie reizte.
Nach einer Weile - sie musste darauf achten, nicht zu lange an einem Standort zu verweilen, da sie weder eine Erlaubnis vom Ordnungsamt hatte, auf der Straße zu singen, noch eine Standortgenehmigung - schüttete sie das Geld aus der Keramikschale in ihre Hand und steckte es in die Tasche ihres weiten Rocks. Die Schale und die bunte Decke verstaute sie in ihre handgewebte Umhängetasche, klappte ihren Campingstuhl zusammen, nahm ihre Gitarre und ging davon. Sie genoss die Blicke, die ihr folgten, und lächelte.

2
Hauptkommissar Johannes Weissgerber wandte sich ab. Er hatte in seiner dreißigjährigen Dienstzeit zwar schon etliche Todesopfer gesehen, aber immer noch konnte er den Anblick der zerschundenen toten Körper nur schwer ertragen.
„Sie ist erschlagen worden“, sagte Dr. Burger. „Mit mehreren Schlägen auf den Kopf. Sie hat versucht, die Schläge abzuwehren, daher die Flecken auf ihren Unterarmen. Es hat ihr aber nichts genutzt.“ Die Ärztin richtete sich auf. „Die arme Frau hatte keine Chance. Wahrscheinlich waren es mehrere Täter, die auf sie eingeschlagen haben. Womöglich ist sie auch getreten worden. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich sie untersucht habe.“
„Kann man erkennen, was für eine Art von Waffe der oder die Täter benutzt haben, Frau Doktor?“
„Der berühmte stumpfe Gegenstand. Ich tippe auf einen kräftigen Knüppel oder so etwas wie einen Baseballschläger.“
Weissgerber ging um die Frauenleiche herum und betrachtete sie genauer. Offensichtlich eine Obdachlose. Mehrere Pullover und Jacken übereinander, trotz des Sommers, eine alte Trainingshose, darüber ein weiter karierter Rock. Keine Strümpfe, aber verschlissene knöchelhohe Tennisschuhe. Von dem linken hatte sich die Sohle ein Stück gelöst. An den Händen Wollhandschuhe ohne Finger. Schmutzige Fingernägel. Graue zerzauste Haare. Soweit das blutige Gesicht noch zu erkennen war, war die Frau von mittlerem Alter. In einer Plastiktüte von Rewe einige leere Bierdosen und eine Flasche mit billigem Rotwein. Weitere Plastiktüten, prall gefüllt. Womit, würde man ihm später mitteilen.
„Seit wann liegt sie hier, Frau Doktor?“
Die Ärztin zog bei der Frage missbilligend die Augenbrauen hoch. Als ob der Kommissar nicht wüßte, dass die genaue Todeszeit erst nach einer genaueren Leichenschau festgelegt werden konnte!
„Ungefähr, wenigstens“, bat Weissgerber.
„Die Leichenstarre ist schon dabei, abzuklingen. Also, bei den Temperaturen heute Nacht: Schätzungsweise seit acht bis zwölf Stunden. Wahrscheinlich ist es gestern Abend passiert. Hier im Park. Man hat sie unter die Büsche geschleift, wo der Hund der Spaziergängerin sie heute Morgen entdeckt hat.“
Dr. Anna Burger packte ihre Sachen zusammen und wandte sich zum Gehen. Ihr Gesicht sah müde aus. Sie schob ihre Brille zurecht und strich sich eine Strähne ihres kinnlangen grauen Haares aus dem Gesicht.
„Tja, da hat wohl mal wieder jemand seinen Hass auf die Menschheit an einer armen Obdachlosen ausgelassen. Ich hoffe, Sie finden den oder die Täter, Herr Kommissar.“
Weissgerber hob die Hand zum Abschied und wandte sich an seinen Kollegen, KommissarCarsten Raabe. Raabe kam gerade von der Polizeischule, das hier war sein erster Mordfall.
„Die Tote hatte keine Papiere bei sich. Nur dieses kleine Portemonnaie mir drei Euro fünfzig. Wir wissen nicht, wer sie war.“ Er schüttelte bekümmert den Kopf. „Hoffentlich ist ihr Gesicht nicht so weit entstellt, dass wir noch ein Fahndungsfoto von ihr machen können. Wie sollen wir sonst herausbekommen, wer die arme Frau war.“
„Vielleicht bringen uns die Fingerabdrücke ein Stück weiter. Oder der DNA-Abgleich.“ Weissgerbers Stimme klang, als setzte er keine sehr große Hoffnungen in diese Identifikationsmethoden. Wenn die Tote nicht kriminell war, würde sie auch nicht registriert sein. Aber wer weiß, dachte er.
„Die Passanten, die ich befragen konnte, haben nichts Auffälliges bemerkt“, meldete Raabe. „Nur die Frau Södersen hier. Sie hat die Leiche entdeckt, das heißt vielmehr, ihr Dackel. Das war gegen halb acht Uhr heute Morgen. Da war in dem Park noch nicht viel los, sagt Frau Södersen.“
Die Frau neben ihm war vielleicht Sechzig, ziemlich füllig mit einem breiten Gesicht, lebhaften kleinen grauen Augen und einem Kopf voll weißgrauer Dauerwellen. Auf dem Arm hielt sie einen niedlichen Kurzhaardackel, dem man ansah, dass er lieber noch weiter herum geschnüffelt hätte.
„Ja, meine Polli hier hat die Frau entdeckt. Ich wollte erst gar nicht zu ihr gehen, weil ich dachte, sie schläft noch. Hier halten sich nämlich häufig Obdachlose auf. Und manchmal, wenn es nicht zu kalt ist nachts, schlafen sie hier einfach auf dem Rasen. Ich verstehe nicht, warum die nicht in ihrer Sozialwohnung bleiben. Jeder bekommt doch heutzutage eine Wohnung bezahlt, wenn er nichts verdient, oder? Die müssen doch nicht draußen schlafen.“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Bevor sie sich jedoch weiter über die Gewohnheiten der Obdachlosen auslassen konnte, stoppte Weissgerber ihren Redefluss.
„Ja, gewiß, das ist wohl so. Doch jetzt etwas anderes. Wohnen Sie hier in der Nähe, Frau Södersen?“
„Ja, ich wohne in dem Häuserblock, gleich hier neben dem Park. Das heißt, mein Mann und ich wohnen dort. Aber mein Mann ist nicht mehr gut zu Fuß, deshalb gehe ich immer mit Polli Gassi.“ Sie hielt inne. „Aber warum wollen Sie das denn wissen, Herr Kommissar?“ Weissgerber ignorierte ihre Frage. „Sicher muss der Hund auch abends Gassi gehen, oder? Haben Sie vielleicht gestern Abend, so gegen neun oder zehn Uhr, etwas Ungewöhnliches bemerkt, hier im Park? Vielleicht etwas gehört?“
„Gestern Abend? Hier im Park?“ Marie-Luise Södersen überlegte, während sie den Dackel, der auf ihrem Arm herumzappelte, krampfhaft festhielt. „Also. Ja, ich bin mit Polli Gassi gegangen, das war so gegen halb neun, jedenfalls war die Tagesschau schon vorbei. Aber ich habe nichts bemerkt. Ja, richtig, eine Joggerin kam vorbei, und ein paar Jugendliche auf Skatern oder wie die Dinger heißen, waren da. Aber sonst...“ Sie zog bedauernd die runden Schultern hoch.
„Vielen Dank, Frau Södersen. Wenn wir noch Fragen haben sollten, melden wir uns bei Ihnen. Der Inspektor hat sich Ihre Adresse doch aufgeschrieben?“
„Ja, er hat sie in sein Dingsda, das Smartphone eingetippt.“ Frau Södersen war sichtlich enttäuscht darüber, dass sie schon entlassen war. Sie zog einen Schmollmund, ließ ihren Hund auf den Boden nieder und ging davon.
„Ich fürchte, es wird schwer sein, den oder die Mörder der armen Frau ausfindig zu machen. Wir haben weder die Tatwaffe noch sonstige verwertbare Spuren gefunden.“ Der junge Polizist klang niedergeschlagen. Zusammen mit Weissgerber sah er zu, wie die Kollegen die Leiche in den Zinksarg legten und abtransportierten. Das weiß-rote Absperrband wurde wieder aufgerollt, und kurze Zeit später erinnerte nichts mehr daran, dass auf dieser Wiese vor kurzem ein brutaler Mord geschehen war.
„Tja, das wird wohl wieder solch ein ungelöster Tötungsfall werden, der schon bald zu den Akten gelegt wird.“
Weissgerber seufzte. Dann wandten er und der Inspektor sich zum
Gehen.

3
Caroline Wittenberg deckte wie gewohnt den Frühstückstisch. Ein Blick auf die Küchenuhr sagte ihr, dass sie sich beeilen musste, damit die Kinder rechtzeitig zur Schule kamen. Sie wollte noch schnell zum Bäcker, Brötchen holen, und ein paar Croissants, die Christian so gern aß. Rasch streifte sie sich ihre Strickjacke über, holte ihr Fahrrad aus der Garage und radelte los.
Nur fünf Minuten brauchte sie zu dem kleinen Einkaufszentrum, in dem der Bäcker seine Filiale unterhielt. Der Supermarkt war um diese frühe Stunde zwar noch geschlossen, aber die Backstube öffnete schon um sieben Uhr. Während die freundliche Verkäuferin die sechs Brötchen und die zwei Croissants in eine Tüte packte, warf Caroline einen Blick auf die Schlagzeilen der BILD-Zeitung, die auf dem Tresen neben der regionalen Tageszeitung ausgelegt war. WER KENNT DIESE FRAU? lautete eine Schlagzeile, die über der Fotografie einer offensichtlich toten Frau stand. Caroline stutzte. Das Gesicht kam ihr bekannt vor. Aber nein, das konnte doch nicht sein!
„Fünf Euro zweiundvierzig bitte“, sagte die Verkäuferin und reichte ihr die Brötchentüte über den Tresen.
„Ich nehme noch eine BILD- Zeitung“, sagte Caroline, nahm die Tüte und die Zeitung und legte das Geld in die Schale auf dem Tresen. Auf dem Weg hinaus sah sie sich die Fotografie genauer an. Nein, sie musste sich getäuscht haben. Das war nicht Manuela. Sie legte die Zeitung neben die Brötchentüte in den Korb auf ihren Gepäckträger und radelte nach Hause.
Die Kinder waren inzwischen aufgestanden und saßen am Frühstückstisch. Christian kam frisch geduscht und angezogen aus dem Schlafzimmer und band im Gehen seine Krawatte.
„Hm, lecker! Croissants“, sagte er und gab Caroline einen Kuss auf die Wange. Sie legte die Zeitung neben seinen Teller.
„Seit wann liest du die BILD-Zeitung?“ Fragend sah er seine Frau an, während er sich einen Klecks Erdbeermarmelade auf sein Croissant häufte.
„Schau dir mal das Foto auf der ersten Seite an“, sagte sie.
„Das hier meinst du?“ Er betrachtete das Gesicht der Frau auf dem Bild. „Ein Mordopfer. Traurig. Offensichtlich hat sie eine Verletzung am Kopf. Aber wieso ...“ Er hielt inne. „Du meinst doch nicht...?“
„Ja. Du siehst es doch auch, oder? Könnte das Manuela sein?“
„Um Gottes Willen! Doch nicht Manuela!“ Bestürzt sah Christian seine Frau an.
„Wer sieht aus wie Tante Manuela?“ Der zwölfjährige Jannis riss seinem Vater die Zeitung aus der Hand. „Tatsächlich, die Frau sieht aus wie Tante Manuela. Ist sie tot?“
„Wer ist tot?“, meldete sich nun die achtjährige Karen zu Wort. „Lass mich mal sehen.“
„Das kann doch nicht sein!“ Caroline weigerte sich, die Ungeheuerlichkeit zu glauben. „Ich rufe Manuela gleich mal an, auch wenn sie jetzt sicher noch schläft. In Hamburg haben sie ja schon Schulferien.“
Sie stand vom Frühstückstisch auf und ging in den Flur, wo das Telefon stand. Sie wählte die eingespeiste Nummer und ließ es klingeln. Niemand nahm ab. Caroline wartete, bis das Rufzeichen automatisch abgeschaltet wurde. Vielleicht ist sie nicht zu Hause, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber morgens um kurz nach sieben? Vielleicht ist sie ja auch gerade Brötchen holen gegangen? Christian kam zu ihr und legte ihr die Arme um die Schultern.
„Das muss nichts bedeuten, Caro“, sagte er tröstend, „wahrscheinlich ist es nur eine zufällige Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Foto. Versuch es später noch mal.“ Er zog sein Jackett an und nahm seine Aktentasche. „Ich muss los, sonst komme ich zu spät.“ Er gab Caroline, die noch immer unschlüssig am Telefon stand, einen Kuss auf die Wange. „Vielleicht ist Manuela ja auch verreist, jetzt wo sie Ferien hat“, gab er zu bedenken. „Mach dir keine allzu großen Sorgen, Schatz.“
Caroline ging zurück in die Küche. „Seid ihr fertig, ihr beiden? Es wird Zeit.“ Sie packte die Schulbrote und etwas Obst in die dafür vorgesehenen Plastikbüchsen und half der kleinen Karen ihre Schultasche auf den Rücken zu hieven. „Macht euch keine Sorgen, das ist bestimmt nicht eure Tante, die Frau in der Zeitung. Sicher nur jemand, der ihr ähnlich sieht.“
Sie gab den beiden einen Abschiedskuss und sah ihnen nach, wie sie mit ihren Fahrrädern die Wohnstraße entlang zur Schule fuhren. Die Grundschule war nur eine Straße weiter; Jannik begleitete seine Schwester bis dorthin und fuhr dann weiter zur Realschule, die ebenfalls nicht weit entfernt lag.
Caroline kehrte an den Frühstückstisch zurück und nahm die Zeitung wieder zur Hand. Konnte es sein, dass es solch eine zufällige Ähnlichkeit gab? Sie las die zum Foto gehörende Mitteilung noch einmal durch. Keine Angaben zu den näheren Umständen, nur, dass sich jemand, der die Frau kannte, bei der Polizei melden sollte. Die Telefonnummer war angegeben. Sollte sie anrufen? Und wenn sie sich irrte? Nein, zuerst würde sie abwarten, ob sie Manuela nicht doch noch telefonisch erreichte. Und wenn sie verreist war, wie Christian vermutete? Hätte sie ihr, ihrer Schwester nicht von einer geplanten Urlaubsreise erzählt? Caroline schüttelte den Kopf. Wie lange hatte sie nichts mehr von Manuela gehört? Das letzte Mal war ihre Schwester zu Christians Vierzigsten da gewesen. Das war jetzt schon zwei Jahre her. Ich kümmere mich viel zu wenig um meine kleine Schwester, dachte Caroline mit plötzlichem schlechten Gewissen. Was weiß ich denn von ihr? Dass sie Grundschullehrerin ist und ganz zufrieden mit ihrem Single-Dasein zu sein scheint, seit ihre letzte längere Beziehung so tragisch geendet ist. Dass sie sehr unter dem Verlust ihres Freundes, der bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war, gelitten hatte. Immerhin war sie seit, wie vielen?, sechs oder sieben Jahren, mit ihm zusammen gewesen. Aber sie hatte sich doch ganz gut wieder gefangen, hatte Caroline immer gedacht. Und wenn sie es doch ist, die Frau auf dem Foto? Was mag ihr denn bloß passiert sein? Caroline lief ein Schauer über den Rücken. Ich rufe sie jetzt noch einmal an, dachte sie, wahrscheinlich hat sie noch geschlafen und ist höchst erstaunt über meinen Anruf. Sie ging zum Telefon und tippte auf die angezeigte Nummer. Im Hörer ertönte das Rufzeichen. Wieder und wieder. Niemand meldete sich.

4
„Herr Weissgerber? ... Hier Dr. Burger, Herr Kommissar. Bitte kommen Sie doch kurz in die Pathologie, ich habe hier etwas Interessantes für Sie. ... Ja, es geht um die Tote aus dem Stadtpark. .... Das sollten Sie sich selber anschauen. ...Ja, bis gleich.“
Dr. Anna Burger legte den Telefonhörer auf und wandte sich wieder der Frauenleiche zu, die auf dem metallenen Seziertisch lag. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Der Körper, den sie fachgerecht und sorgfältig obduziert hatte, war nicht der einer Obdachlosen. Es war der gesunde, gut gebaute Körper einer etwa fünfunddreißigjährigen Frau, sechzig Kilo schwer bei einer Größe von Einmeterundsiebzig. Das Gebiss war vollständig und gut gepflegt, sah man von der Verletzung ab, die einer der harten Schläge gegen den Kopf dem rechten Gaumen zugefügt hatte. Das struppige graue Haar war eine Perücke gewesen, darunter war langes glattes blondes Haar zum Vorschein gekommen. Und das Merkwürdigste: Die Falten im Gesicht, die schwarzen Ränder unter den Fingernägeln, sogar die Schmutzflecken im Gesicht und auf den Armen und Händen: Alles nur Theaterschminke! Die Frau war verkleidet gewesen! Dazu passte, dass in den drei Plastiktüten, die sie bei sich gehabt hatte, nur Zeitungspapierschnipsel gewesen waren.
Die Metalltür öffnete sich und Hauptkommissar Weissgerber und sein Assistent betraten die Pathologie.
„Guten Tag, Frau Doktor. Was gibt es denn so Interessantes. Eigentlich hatten wir gedacht, dass an diesem Fall alles ganz klar sei.“
Weissgerber gab der Pathologin die Hand, Raabe ebenso. Dr. Burger erwiderte die Begrüßung mit einem knappen Lächeln.
„Ich habe hier etwas wirklich Überraschendes, Herr Kommissar. Sehen Sie selbst.“ Sie nahm einen Zipfel des grünen Tuches, das die Leiche bedeckte, und zog es zurück. Weissgerber und Raabe traten näher an den Seziertisch heran und starrten auf die Leiche.
„Das ist unsere Obdachlose? Die aus dem Park?“, fragte Raabe ungläubig. „Aber die war doch viel älter. Und grauhaarig.“
„Diese Frau war höchstens fünfunddreißig Jahre alt und kerngesund. Kein Leberschaden, kein irgendwie gearteter Hinweis auf Drogenmissbrauch, wahrscheinlich hat sie nicht einmal geraucht, wenn man die makellose Haut betrachtet. Abgesehen von den Hämatomen, die von Faustschlägen oder Fußtritten herrühren, und dem massiven Schädel-Hirn-Trauma, das durch zwei heftige Schläge auf den Kopf verursacht wurde, ist der Körper völlig intakt. Der eine Schlag ist seitlich geführt worden und hat das rechte Schläfenbein, einen Teil des Wangenknochens und des Gaumens zertrümmert, der zweite Schlag erfolgte von hinten und hat die Schädeldecke beschädigt. Diese Verletzungen haben innerhalb weniger Minuten zum Tod dieser Frau geführt. Die Hämatome sind ihr kurz vor ihrem Tod beigebracht worden. Sie ist, kurz gesagt, zu Tode geprügelt worden.“
„Aber ... sie hat doch ganz anders ausgesehen, als wir sie fanden.“ Raabes Gesicht zeigte einen völlig ratlosen Ausdruck, als er jetzt um den Metalltisch herumging und den Frauenkröper betrachtete, der trotz der Sezier- und Verletzungsspuren noch einen Rest seiner weiblicher Schönheit bewahrt hatte.
„Sie hat Theaterschminke benutzt, um alt und verbraucht auszusehen. Und eine graue Perücke. Keine Ahnung warum. Die Klamotten, die sie trug, sind in der Kriminaltechnik zur Untersuchung; wahrscheinlich wird man feststellen, dass es gebrauchte Sachen vom Flohmarkt oder aus der Altkleidersammlung sind. Und schauen Sie hier.“ Die Pathologin leerte einen der Plastiktüten auf den Boden aus, „lauter Zeitungsschnipsel. Sie hat nur den Anschein erwecken wollen, als sei sie eine dieser Obdachlosen.“
Weissgerber und sein Assistent sahen sich an.
„Warum um Himmels Willen verkleidet sich eine hübsche junge Frau als Obdachlose und treibt sich am späten Abend im Stadtpark herum?“ Kommissar Carsten Raabe sprach aus, was alle dachten.
„Tja“, antwortete Anna Burger lakonisch, „das ist hier die Frage. Und wer diese Frau in Wirklichkeit war. Und wer sie so brutal ermordet hat. Ran an die Arbeit, meine Herren!“

Weissgerber und Raabe saßen sich am Schreibtisch gegenüber.
„Was hat die kriminaltechnische Untersuchung der Gegenstände ergeben, die die Frau bei sich trug?“, fragte Weissgerber.
„Es waren nur die Fingerabdrücke der Toten auf dem Portemonnaie und der Flaschen und den Dosen. Sie ist nicht registriert. Sie hat nicht aus den Dosen getrunken, auch nicht aus der Rotweinflasche; jedenfalls konnte keine DNA festgestellt werden. Es gibt keine Vermisstenanzeige, die auf die Person passt.“ Raabe zuckte resigniert mit den Schultern. „Wir haben nichts“.
„Wir müssen die einschlägig vorbestraften Kriminellen aus der Rocker- und Drogenszene ermitteln. Wie werden noch einmal alle Anwohner des Parks befragen, wer sich abends dort herum treibt. Und wir müssen die Identität der Frau feststellen. Dr. Burger soll ein möglichst gutes Foto von dem Gesicht machen, das wir an die Presse geben können.“ Kommissar nahm sein Jackett von der Lehne seines Bürosessels und stand auf.

5
Kommissar Raabe atmete tief ein und streckte die Schultern. Das war jetzt die fünfzehnte Wohnungstür, an der er klingelte. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Entweder hatten alle ferngesehen, oder Musik gehört oder waren anderweitig beschäftigt gewesen. Entmutigend.
Er hörte schlurfende Schritte, die sich langsam der Eingangstür näherten. Dann sah er ein Auge, das durch den Türspion spähte. Er hielt seinen Polizeiausweis hoch.
„Ich bin Kommissar Raabe von der Mordkommission. Ich habe nur ein paar Fragen. Bitte öffnen Sie die Tür.“
Er hörte, wie die Türkette zurückgelegt und der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, dann öffnete sich die Tür und ein alter Mann sah ihm neugierig entgegen.
„Mordkommission? Was ist denn passiert?“
„Darf ich 'reinkommen? Dann spricht es sich besser, Herr Drüding.“ Den Namen hatte Raabe auf dem Türschild gelesen, und er wusste aus seinem noch gar nicht so lange zurück liegenden Seminar über Gesprächsführung, dass es hilfreich war, die Menschen wenn möglich mit ihrem Namen anzusprechen; sie fühlten sich dann als Individuum ernst genommen und waren eher bereit, sich mitzuteilen.
Der alte Mann bedeutete ihm mit einer Handbewegung, näher zu treten, und ging ihm voraus in das kleine, altmodisch eingerichtete Wohnzimmer, dessen Fenster zum Stadtpark ausgerichtet war. Neben dem Fenster stand ein gemütlich aussehender Lehnstuhl, was in Raabe die Hoffnung weckte, Herr Drüding könnte, in diesem Lehnstuhl sitzend, im Park etwas beobachtet haben.
„Gestern Abend ist im Park hier gegenüber eine Frau ermordet worden. Wir fragen uns, ob Sie vielleicht zufällig etwas Besonderes beobachtet haben, Herr Drüding?“
„Wollen Sie sich nicht erst einmal setzen, Herr Kommissar? Sicher sind Sie doch schon eine ganze Weile unterwegs auf der Suche nach möglichen Zeugen. Darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Ein Glas Wasser oder eine Tasse Tee? Alkohol dürfen Sie ja bestimmt nicht trinken im Dienst, oder?“
Raabe sah den alten Mann erstaunt an. So viel Freundlichkeit hatte er nach dem anfänglichen Misstrauen nicht erwartet. Er musterte den Alten unauffällig. Hinter den unzähligen Runzeln und Falten in dem hageren Gesicht blitzten hellwache blaue Augen, und die magere, gebückte Gestalt bewegte sich noch mit erstaunlicher Agilität, als der alte Mann nun, ohne die Antwort Raabes abzuwarten, ein Glas und eine Flasche Mineralwasser vor den Inspektor hinstellte.
„Danke, das ist sehr nett. Für eine Tasse Tee fehlt mir die Zeit, aber ein Glas Wasser nehme ich gerne. Es ist doch sehr warm heute draußen.“ Er nahm höflich einen Schluck.
„Darf ich fragen, wie lange Sie schon bei der Polizei sind, Herr Raabe? Sie sehen noch so jung aus, man könnte meinen, dass sie noch zur Schule gehen.“ Drüding begleitete seine Frage mit einem Lächeln, das sein altes Gesicht in noch mehr Falten legte.
Raabe strich sich verlegen durch sein blondes Haar. Er fing an sich zu fragen, wer hier eigentlich das Gespräch führte.
„Tja, lange bin ich noch nicht dabei“, gab er widerwillig zu, „dies ist mein erster Mordfall.“
„Und nun sind Sie auf der Suche nach Zeugen, die Ihnen bei der Aufklärung helfen können.“
„Ja, so ist es. Der Mord ist gestern Abend, wahrscheinlich zwischen zehn und elf Uhr passiert. Es wurde gerade dunkel. Haben Sie zufällig etwas gesehen?“
„Tja, lassen Sie mich überlegen. Ich habe gestern ferngesehen, den Krimi im Ersten, dann die Tagesthemen. Dann habe ich den Fernseher ausgemacht und mich hier ans Fenster gesetzt. Einen Balkon hat diese Wohnung ja leider nicht. Ich habe das Fenster geöffnet, um die Vögel singen zu hören. Wenn es dämmert, singen sie um diese Jahreszeit immer besonders schön. Ja, und da habe ich tatsächlich im Park laute Stimmen gehört. Und Lachen. Das waren diese Halbstarken, die dort häufig ihre Saufgelage abhalten. Diese glatzköpfigen Rowdys, die sich hier öfter herumtreiben. Von meinem Fenster kann man durch die Baumwipfel ganz gut sehen, wer dort sein Unwesen treibt. Und morgens findet man dann die leeren Bierflaschen und die Zigarettenstummel auf dem Rasen.“
Raabe horchte auf. „Sie sagen, es waren Jugendliche, die hier öfter aufhalten. Kennen Sie vielleicht die Namen?“
„Nein, nein, die Namen kenne ich nicht. Aber ich kenne die Jungs vom Sehen her.“
„Würden Sie sie wiedererkennen, wenn ich sie Ihnen auf Fotos zeige? Oder in einer Gegenüberstellung?“
„O ja, sicher. Meine Augen sind noch sehr gut. Die, die ich gestern gesehen habe, würde ich sofort wiedererkennen. Schon an ihren Glatzen und den Tätowierungen. Ich habe sie ja auch schon öfter von Nahem gesehen. Außerdem habe ich ein Fernglas. Weil ich gerne die Vögel beobachte im Stadtpark, natürlich“, fügte er verschmitzt hinzu. Man sah dem alten Mann an, dass es ihm ein Vergnügen sein würde, der Polizei in dieser wichtigen Angelegenheit behilflich sein zu können.
„Dann ist es wohl das beste, wenn Sie mich jetzt gleich zum Polizeipräsidium begleiten und sich unsere Verbrecherkartei ansehen. Wäre das möglich, Herr Drüding?“
„Aber selbstverständlich, Herr Kommissar. Ich muss nur noch meine Schuhe anziehen, dann komme ich mit.“
Raabe musste lächeln über den Feuereifer des Alten. Sicher gibt es in seinem Rentnerdasein nicht viel Abwechslung, dachte er. Hauptsache, er ist ein guter Zeuge.


6
Hauptkommissar Weissgerber telefonierte, als Raabe mit seinem Zeugen das Büro betrat. Ohne den Hörer abzusetzten, bedeutete er seinem Assistenten, zu warten; es sei etwas Wichtiges.
„Ja, am besten kommen Sie sofort hierher nach Hamburg, Frau Wittenberg. Vielleicht ist es ja nur eine oberflächliche Ähnlichkeit, aber Gewissheit haben wir erst, wenn Sie sich die Leiche angesehen haben. ... Ja, melden Sie sich bitte in meinem Büro. Haben Sie sich den Namen notiert? ... Hauptkommissar Weissgerber. ... Noch etwas, Frau Wittenberg: Haben Sie einen Zweitschlüssel zu der Wohnung ihrer Schwester? ... Ja? Bringen Sie ihn bitte mit, für alle Fälle. ... Gut. Bis dann.“ Er legte den Hörer auf.
„Die Schwester unserer Toten, wahrscheinlich. Sie glaubt, sie auf dem Foto erkannt zu haben. Ist sich aber nicht ganz sicher. Sie kann ihre Schwester aber telefonisch nicht erreichen und hat nun Angst, es könnte die Tote vom Park sein. Sie kommt her.“
Er deutete auf den alten Mann, den Raabe mitgebracht hatte. „Und du bringst uns hoffentlich einen Zeugen?“
„Ja. Herr Drüding hier hat womöglich die oder den Täter gesehen, auf jeden Fall aber Jugendliche, die sich gestern Abend im Park um die fragliche Zeit herumgetrieben haben. Ich werde ihm jetzt die Fotos derjenigen zeigen, die bei uns bekannt sind. Vielleicht erkennt er ja den einen oder anderen wieder.“
Carsten Raabe war froh, einen Zeugen gefunden zu haben, mit dem die Ermittlungsarbeit weiter gehen konnte. Er hasste es, wenn die Arbeit ins Stocken geriet und man nichts mehr tun konnte, als die Akte unverrichteteter Dinge zu schließen. Außerdem brannte er darauf, dem Rätsel der verkleideten Obdachlosen auf die Spur zu kommen.
Er setzte Drüding auf einen Bürostuhl vor dem Polizeicomputer und ließ die Kartei mit den polizeibekannten Vorbestraften durchlaufen: alle diejenigen, die sich der Ruhestörung, Körperverletzung, Sachbeschädigung oder ähnlicher Delikte schuldig gemacht hatten. Mit einem Mausklick konnte Drüding sich von Gesicht zu Gesicht durchzappen. Gewissenhaft betrachtete er jedes Bild ein paar Sekunden lang. Es dauerte nicht lange, da hatte er den ersten jugendlichen Straftäter herausgepickt.
Timo Brandt, sechzehn Jahre, Schulabbrecher, ohne Lehrstelle, aufgegriffen wegen Sachbeschädigung, Diebstahls und Beleidigung. Er hatte eine junge Frau von ihrem Fahrrad gerissen, welches dabei beschädigt worden war, hatte ihr die Handtasche und das Handy gestohlen, sie als Fotze und Miststück beschimpft und war davon gelaufen. Das Opfer aber, sportlich und wehrhaft, hatte laut um Hilfe geschrien und ihn zusammen mit einem Passanten verfolgt und gestellt. Der Richter hatte ihn zu einem Jugendarrest verurteilt und zu einem Antaggressionstraining.
Im Arrest jedoch hatte er die Bekanntschaft von Tobias Bergmann gemacht, den zweiten der jungen Männer, die Drüding in der Kartei wiedererkannte. Bergmann war achtzehn und schon eine Nummer härter als Timo Brandt. Als Jugendlicher hatte er sich bereits ein schönes Vorstrafenregister erarbeitet: Handtaschendiebstähle, Abziehen von teuren Jacken und Schuhen bei Schulkindern und Schlägereien, dazu erste Versuche mit Drogenhandel, ganz abgesehen von dem übermäßigen Zigaretten- und Bierkonsum. Er hatte sich den Kopf rasiert und mit allerlei Mustern tätowiert, u. a. eine Schlange, die im Nacken aus dem Kragen seines olivfarbenen Hemdes herauskroch und sich auf seinem Schädel ringelte.
Sein Militäroutfit konkurrierte mit dem seines Kumpels Ole Westphal, der, um einiges älter, der Anführer der kleinen Gruppe war. Westphal hatte schon eine mehrmonatige Haftstrafe hinter sich, war als noch nicht Einundzwanzigjähriger aber bisher glimpflich davongekommen. Drüding erkannte in ihm einen der Männer, die am Tatabend gegen 22.30 Uhr im Stadtpark herumkrakeelt hatten.
„Diese drei kommen als Täter in Frage“, sagte Raabe, als er die entsprechenden Akten vor Weissgerber auf den Schreibtisch legte. „Sie waren zur entsprechenden Zeit am Tatort. Wir können sie zumindest als mutmaßliche Zeugen vorladen und befragen. Womöglich finden wir Faserspuren oder Blut an ihrer Kleidung. Einer von ihnen muss ja die Tote ins Gebüsch geschleift haben. Eventuell ist sogar die Tatwaffe noch in ihrem Besitz. Wenn es ein Baseballschläger war, und alles deutet darauf hin, sagt Frau Dr. Bauer, dann hat der Täter ihn vielleicht nicht entsorgt, sondern nur gereinigt. So ein Schläger ist immerhin nicht ganz billig.“
„Gute Arbeit, Raabe! Also: Holen Sie die drei her. Mal sehen, was sie sagen.“ Er erhob sich. „Ich gehe inzwischen mit Frau Wittenberg in die Pathologie. Wenn sie die Tote als ihre Schwester identifiziert, fahre ich mit ihr zur Wohnung der Toten. Vielleicht finden wir dort eine Lösung für das Rätsel der Verkleidung.“

7
Es dauerte lange, bis Caroline Wittenberg sich wieder gefasst hatte. Immer wieder schüttelte heftiges Schluchzen ihre schmalen Schultern. Weissgerber reichte ihr nun schon das dritte Papiertaschentuch, das sie blind entgegennahm, um sich die nicht versiegen wollenden Tränen abzuwischen. Schließlich schneuzte sie sich, holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Weissgerber legte ihr sanft den Arm um die Schultern und führte sie aus dem Pathologiesaal heraus, wo Dr. Burger den Leichnam der Toten sorgsam wieder mit dem grünen Tuch zudeckte.
Auf die Frage, ob dies ihre Schwester Manuela wäre, hatte Caroline nur genickt. Sie hatte das stille Gesicht mit der hässlichen Wunde an der rechten Seite entsetzt angestarrt und war dann in Tränen ausgebrochen. Immer noch ihre Schultern umfassend, fragte Weissgerber sie, ob sie sich in der Lage fühlte, mit ihm zur Wohnung ihrer Schwester zu fahren , um dort nach einer Erklärung für die merkwürdige Aufmachung Manuelas zu suchen. Caroline hatte ihm die Adresse genannt, und gemeinsam waren sie in seinem zivilen Polizeiwagen in das ruhige Wohnviertel gefahren, wo Manuela in einem Mehrparteienhaus eine hübsche Zweizimmerwohnung gemietet hatte. Caroline erklärte dem Kommissar unterwegs, dass die Grundschule, an der Manuela seit zehn Jahren unterrichtete, ganz in der Nähe dieses Wohnviertels lag.
„Was für ein Mensch war ihre Schwester“, fragte Weissgerber. Er wusste, dass es für viele Angehörige, die gerade eine Todesnachricht erhalten hatten, eine Erleichterung darstellte, über den Verstorbenen reden zu können. Caroline stellte hier keine Ausnahme dar.
„Ach, sie war solch ein netter Mensch, die Manuela. Alle mochten sie, die Kinder in der Schule haben sie geliebt. Wenn ich nur öfter bei ihr angerufen hätte! Aber ich habe immer so viel zu tun, mit den Kindern, wissen Sie, und dann arbeitet ich halbtags in einem Versicherungsbüro, da habe ich nur wenig Zeit.“ Sie kämpfte wieder mit den Tränen. „Wie konnte nur so etwas passieren? Einfach erschlagen! Die arme Manuela! Meine kleine Schwester!“ Wieder unterbrach heftiges Schluchzen ihre Worte. Weissgerber tätschelte beruhigend ihre Hand.
„Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Niemand konnte so etwas ahnen. Und was den oder die Täter betrifft: Wir verfolgen eine Spur, die durchaus vielversprechend ist.“
Sie waren bei der entsprechenden Hausnummer angekommen, und Caroline öffnete mit ihrem Schlüssel die Wohnungstür. Das geräumige Wohnzimmer, dessen große Fenster auf den Balkon hinaussahen, war mit hellen modernen Möbeln eingerichtet. Eine Tür führte in die praktische kleine Küche, eine weitere ins Schlafzimmer. Das hübsche Bad war vom Flur aus zu erreichen. Überall herrschte eine ausgesprochen weibliche Atmosphäre: Zimmerpflanzen und eine Vase mit frischen Schnittblumen, die dringend frisches Wasser brauchten, sprachen für Natürlichkeit, gerahmte Kunstdrucke belebten die weißen Wände und sorgten für farbige Akzente, der Arbeitsplatz, der einen Teil des Wohnzimmers einnahm, bestand aus einem Schreibtisch, einem bequemen Schreibtischsessel und einem Nebentisch mit Laptop und Laserdrucker. Der gesamte Bereich war übersät mit Büchern und Heften, die von der beruflichen Tätigkeit Manuelas zeugten. An der Wand hinter dem Schreibtisch klebten etliche Kinderzeichnungen: offenbar Geschenke der Schulkinder, die Manuela unterrichtet hatte. In einem hohen Bücherregal stapelten sich Fachliteratur, Sachbücher und Romane.
Weissgerber ging langsam durch die Räume und versuchte zu verstehen, was für ein Mensch in diesem Ambiente gelebt hatte. Die Wohnung war aufgeräumt, aber nicht steril. Die Sofakissen waren zerknautscht, eine Fernsehzeitung lag aufgeschlagen auf dem Couchtisch, eine Fotografie in einem schönen Silberrahmen zeigte die lachenden Gesichter von Manuela und ihrer Schwester, ein weiteres die Familie Wittenberg, ein drittes mit einem schwarzen Trauerband, das lächelnde Gesicht eines jungen Mannes. Das muss der Freund sein, von dem Caroline Witterberg erzählt hat, dachte Weissgerber, der, der tödlich verunglückt ist. Eine traurige Geschichte.
In der Spülmaschine in der Küche stand schmutziges Geschirr, der Kühlschrank war gut gefüllt mit Gemüse, Obst, Halbfettmargarine, Aufschnitt, Käse und Milch. Alles ganz normal, dachte der Kommissar. Die hübsche Singlewohnung einer jungen, berufstätigen Frau. Er ging ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank, der die gesamte Längswand des Raumes einnahm.
„Frau Witterberg, bitte kommen Sie einmal her. Haben Sie hiervon gewusst?“
Caroline stellte sich neben den Kommissar und gemeinsam betrachteten sie den Inhalt des überdimensionalen Schrankes. Wohl ein Dutzend verschiedene Outfits hingen da auf den Bügeln. Eine schwarze Nonnentracht mit weißschwarzer steifer Haube hing neben einem langen geblümten Sommerrock mit weißer Baumwollbluse, ein edles Designerkostüm mit engem Rock neben einem knappem Bustier aus roter Seide, einem schwarzen Minirock und Netzstrümpfen. Eine khakifarbene Militärhose und ein olivfarbenes Achselhemd, eine nietenbeschlagene Lederjacke und eine ebensolche Hose, ein dunkelblauer Business-Anzug mit einer weißen Seidenbluse. Sogar eine Burka hing auf einem Bügel. Im oberen Ablagefach fanden sich, fachgerecht auf Styroporfrisierköpfe gestülpt, drei Perücken: eine rote Lockenperücke, eine weitere mit langem weißblonden Haaren, eine Perücke mit kurzen braunen Haaren. Dazu ein breitkrempiger Sommerstrohhut, ein dunkelblaues Käppchen, wie es Flugbegleiterinnen trugen, verschiedene Mützen und Schals. Auf dem Boden des Schrankes waren die entsprechenden Schuhe zu finden: extrem hohe Pumps, ein Paar weißer Lacklederstiefel, die bis zum Oberschenkel reichten, flache, einfache Ledersandalen, Turnschuhe, grobe Militärstiefel, ausgetretene, altmodische Halbschuhe.
Weissgerber zog eine große Schublade auf. Hier fanden sich die zu den verschiedenen Verkleidungen passenden Accessoires und Unterwäscheartikel: edle Spitzenbüstenhalter und Höschen, grobe Baumwollunterhosen, ebensolche Hemden, Modeschmuck, Halsketten, Armbänder und Ringe, denen man nicht ansah, ob sie echt oder falsch waren, Halstücher, Gürtel aus Leder, manche mit Nieten und Metallringen beschlagen, Handtaschen und Beutel der verschiedensten Art. Und ein umfangreiches Schminkset mit zig verschiedenen Makeup-Farben, Bürsten und Kämme, Haarnadeln und Spangen, Puderdosen und Pinseln, Lippenstiften, Mascarabürstchen und Kajalstiften. In einem kleinen Etui lagen grüne, blaue und braune Kontaktlinsen.
Obenauf lag ein DinA4-großer Aktenordner. Weissgerber, der sich vor dem Betreten der Wohnung Gummihandschuhe angezogen hatte, nahm ihn vorsichtig in die Hand. Caroline schaute ihm über die Schulter, als er ihn aufschlug. Säuberlich in Klarsichtfolien verpackt, sahen sie akkurat ausgeführte farbige Zeichnungen, die professionellen Modezeichnungen glichen. Jede Seite zeigte eine Frauengestalt mit einer vollständigen Ausstattung, die ihr eine ganz bestimmte Rolle zuwies: die Nonne, die Prostituierte, die Punkerin, die Geschäftsfrau, die Diva, die Hausfrau. Auch die Figur der Obdachlosen wurde dargestellt, komplett mit der grauen Perücke, den alten Pullovern und dem weiten Rock.
Verblüfft sahen der Kommissar und Caroline sich an.
„Als Kind haben wir uns oft verkleidet, das weiß ich noch. Manuela hatte immer besonders viel Spaß daran. Manchmal lief sie den ganzen Tag in irgendwelchen komischen Klamotten herum und bestand darauf, diese andere Person zu sein. Mal war es eine Prinzessin, mal eine Hexe, mal eine Zauberin.“ Sie hielt inne. „Aber ist das nicht ganz normal bei kleinen Mädchen?“
Der Kommissar nickte. „Aber jetzt ist ihr ihre Vorliebe für Verkleidungen leider zum Verhängnis geworden“, sagte er.
Sein Handy klingelte. Er blickte auf das Display. „Das ist mein Assistent“, sagte er zu Caroline, „entschuldigen Sie mich einen Moment, bitte.“
Während er telefonierte, blätterte Caroline kopfschüttelnd weiter in dem Ordner. Sie musste sehr einsam gewesen sein, ihre kleine Schwester, dachte sie
Weissgerber beendete sein Gespräch und wandte sich ihr zu.
„Gute Nachrichten“. sagte er, „Manuelas Mörder sind gefasst. Kommissar Raabe hat mir gerade mitgeteilt, dass einer der Verdächtigen, fast noch ein Junge, im Verhör ein umfassendes Geständnis abgelegt hat. Es waren drei betrunkene Jugendliche, die sich einen sogenannten „Spaß“ erlaubt haben, indem sie eine Obdachlose verprügelten. Der Älteste von ihnen hat dabei mit seinem Baseballschläger die tödlichen Schläge geführt. Tja, so etwas gibt es, leider.“ Er seufzte tief.

7
Immer wenn sie in eine andere Rolle schlüpfte, genoss sie das Ritual der Verwandlung wie eine Art erotisches Vorspiel. Es war wichtig, dabei eine ganz bestimmte Reihenfolge zu befolgen, von der sie nicht abweichen durfte, wollte sie nicht die Lust an dem Spiel verlieren. Es fing damit an, dass sie ihrer Stimmung nachspürte, um zu entscheiden, wer sie heute sein wollte. Diese Stimmung hing zum Beispiel davon ab, ob es ein sonniger, heiterer oder ein grauer, regnerischer Tag war, wie der Unterricht mit den Zweit- und Viertklässlern verlaufen war und ob ihr das Hühnchen oder die Pasta zum Mittagessen geschmeckt hatten. Wenn sie sich entschieden hatte, wer sie sein wollte, breitete sie die dazu benötigten Kleidungsstücke und Accessoires sorgfältig auf ihrem Bett aus, begutachtete sie, tauschte vielleicht das eine oder andere gegen ein ähnliches aus und prüfte, ob alles vollständig und intakt war. Dann nahm sie eine heiße Dusche, wusch ihr Haar und traf alle erforderlichen Maßnahmen für die neue Identität, bevor sie die Kleidungsstücke anlegte und ein anderer Mensch wurde.
Als sie jetzt aus dem Badezimmer kam, hatte sie ihren schlanken, noch jugendlich straffen Körper auf das heutige Outfit vorbereitet: Beine und Achseln waren frisch rasiert, die Schamhaare auf ein sauberes Dreieck gestutzt, die langen blonden Haare (heute brauchte sie keine Perücke) frisch gewaschen und zu einer üppigen Lockenfrisur geföhnt. Das helle Make up ließ ihre schwarz umrandeten Augen mit den stark getuschten Wimpern und dem blauen Lidschatten besonders groß und ausdrucksvoll erscheinen. Den erdbeerroten Lippenstift hatte sie passend zu den sorgfältig manikürten und lackierten Fingernägeln gewählt.
Vollkommen nackt trat sie vor die ausgebreiteten Kleidungsstücke, und langsam, um die Zeremonie voll auszukosten, zog sie eines nach dem anderen an. Zuerst den spitzenbesetzten Bügelbüstenhalter aus cremefarbener Seide, den dazu passenden Slip und das seidene Unterkleid mit breiter Spitze am Dekolletee und Saum. Sie genoss das seidig glatte Gefühl des zarten Stoffes auf ihrer nackten Haut und den schimmernden Glanz der edlen Materials. Danach rollte sie die hauchdünnen Seidenstrümpfe vorsichtig auf, bevor sie sie über ihre Füße und Beine bis zu den Oberschenkel hochzog, wo der breite Spitzenbesatz endete. Vor dem großen Wandspiegel prüfte sie den Sitz der Strümpfe. Perfekt. Sodann streifte sie ein schlichtes cremefarbenes Seidentop mit dünnen Trägern über, das einen effektvollen farbigen Kontrast zu dem marineblauen Designerkostüm bildete, das sie heute tragen wollte. Die taillierte Jacke und der schmale Rock des leichten Sommerkostüms wiesen einen eleganten, sehr die Figur betonenden Schnitt auf. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her: Es saß tadellos. Das Outfit wurde komplettiert durch sehr hohe, ebenfalls cremefarbene Pumps sowie durch einen Strohhut mit weicher, großer Krempe und schmalem Band, dessen blaue Farbe perfekt zur der des Kostüms passte. Alle diese Kleidungsstücke waren von hervorragender Qualität und hatten ein Vermögen gekostet, was man ihnen auch ansah, dachte sie befriedigt. Dann legte sie kleine, in Gold gefasste Perlenohrringe, eine dazu passende Halskette, eine zierliche goldene Armbanduhr und einen schmalen Golding an, setzte eine große, elegante Sonnenbrille auf und griff zu der cremefarbenen Lederhandtasche von Hermès.
Zuletzt tupfte sie einen Tropfen ihres kostbaren Chanel-Parfums hinter die Ohrläppchen, setzte den Hut auf und hing die Handtasche elegant über den Unterarm. Die Verwandlung war komplett. Der große, bis auf den Boden reichende Spiegel warf in dem weichen Nachmittagslicht, das durch die Vorhänge fiel, ihre Gestalt zurück. Nach einem letzten prüfenden Blick lächelte sie ihrem Spiegelbild zu und verließ das Haus.
Nun kam der zweite, eigentlich noch wichtigere Teil der Verwandlung: Die Reaktion der Menschen auf ihr momentane Identität. Sie fuhr mit ihrem Auto (jedes Mal ärgerte es sie, dass der blaue Golf niemals zu ihrer gerade gewählten Persönlichkeit passen wollte) in die Stadt, stellte den Wagen in einem der großen Parkhäuser ab und ging in die Fußgängerzone. Wie erwartet, zog sie sofort die Blicke der Passanten auf sich. Sie straffte die Schultern, hob ihr Kinn und gab ihrem Gang einen nicht zu übertriebenen, aber betont weiblichen Ausdruck. Wie sie die unverhohlen bewundernden Blicke der Männer genoss! Und die teils neidischen, teils verächtlichen Blicke der Frauen!
Langsam schlenderte sie durch die belebte Einkaufsmeile. Für diese Identität wählte sie meistens ein Wochenende, wenn möglichst viele Leute unterwegs waren. An einem Tag wie heute, an dem die Sonne von einem heiteren Sommerhimmel schien, konnte sie sich der Aufmerksamkeit der vielen Menschen sicher sein.
Nach einer Weile setzte sie sich in ein Straßencafé, nahm ihren Hut ab und legte ihn auf den leeren Stuhl an ihrem Tisch. In den Augen der überarbeiteten Serviererin las sie nur professionelle Höflichkeit, was sie ein wenig enttäuschte. Sie bestellte ein Mineralwasser, schlug die langen schlanken Beine übereinander und ließ ihren Schuh locker auf der Zehenspitze baumeln. Unauffällig musterte sie die Menschen um sich herum. Die gestressten jungen Eltern am Nebentisch mit den zwei quengeligen, ungeduldig nach ihrem Eis verlangenden Kindern beachteten sie kaum. Das ältere Ehepaar, das stumm und gleichgültig nebeneinander saß, während der Mann seinen Blick nicht von ihren Beinen lösen konnte, war da schon interessanter, ebenso die Gruppe von Jugendlichen, die mit Zigaretten im Mund auf den Stufen des nahen Springbrunnens herum lümmelten, immer wieder verstohlen zu ihr herüberschauten und grinsten; sicher machten sie anzügliche Bemerkungen über sie. Der einzelne Mann im Business-Anzug zwei Tische weiter, der jetzt sein Handy, auf dem er die ganze Zeit herum getippt hatte, weg steckte, nahm sie unverhohlen in Augenschein. Als sie seinem Blick begegnete, nickte er ihr mit einem schmalen Lächeln zu. Sie wusste, jetzt brauchte es nur ein winziges Entgegenkommen ihrerseits, und sie hätte einen Liebhaber für eine Nacht. Demonstrativ wandte sie ihren Kopf zur Seite und setzte eine hochmütige Miene auf. Wie leicht es doch war, die Menschen zu manipulieren!
Sie trank ihr Wasser aus, zahlte und stand auf. Wieder bummelte sie von Schaufenster zu Schaufenster, immer im vollen Bewusstsein der Augen, die ihr folgten. Als sie an einer teuren Boutique vorbei kam, trat sie kurz entschlossen ein. Im Inneren herrschte eine gedämpfte Atmosphäre; nur wenige Kundinnen waren anwesend. Eine sehr gepflegte und modisch gestylte Verkäuferin kam auf sie zu. Typisch: Der kurze, ihre Kaufkraft abschätzende Blick vom Kopf bis zu den Schuhen, dann das heuchlerische, überaus freundliche Lächeln. Sie würde es ein wenig strapazieren, dieses Lächeln.
„Darf ich Ihnen behilflich sein, gnädige Frau?“ So viel Beflissenheit! Mal sehen. Mit gelangweilt hochgezogenen Brauen sah sie die Frau an.
„Ich bin auf der Suche nach einem Sommerkleid. Ich weiß aber noch nicht so recht, was mir gefällt. Vielleicht können Sie mir etwas zeigen?“
„Aber selbstverständlich! Wir haben gerade die neusten Modelle hereinbekommen. Welche Größe tragen Sie?“
Nachdem sie sich zwölf Kleider hatte zeigen lassen, zwei davon anprobiert und alternativ zu den Kleidern fünf Blusen und Röcke in Augenschein genommen hatte, verließ sie die Boutique ohne etwas gekauft zu haben.
Dasselbe Ritual wiederholte sie in einem exklusiven Schuhgeschäft, beim Juwelier und, als Krönung dieses Tages, in der größten Bank der Stadt, in der sie sich nach lukrativen Geldanlagemöglichkeiten erkundigte und den Angestellten veranlasste, ihr diverse Angebote auszurechnen, was eine gute Stunde in Anspruch genommen hatte.
Es war ein überaus unterhaltsamer Nachmittag, dachte sie, als sie, wieder zu Hause, in ihrem gemütlichen Hausanzug mit einer Tasse Tee und zwei Scheiben Knäckebrot vor ihrem Fernseher saß. Sie lächelte zufrieden.

 

Hallo Konstantina!

Die Geschichte ist nicht gerade kurz, aber ich nehme es als Herausforderung.

Okay, womit du dich (als Krimischreiberin) meiner Meinung nach unbedingt beschäftigen solltest, ist das Thema "Spannungsaufbau".
Der Titel deiner Geschichte ist nichtssagend und unspannend.
Der erste Satz ebenso. (Die zwei Sätze, über die du dir bei deinen Geschichten am meisten Gedanken machen solltest, sind der erste und der letzte Satz.)
Das, was dem ersten Satz folgt, ist ellenlange Beschreibung, sprich: langweilig.
=> Zum Thema "Spanungsaufbau" gibt es in jedem Schreibratgeber ausführliche Kapitel. Hast du das in deinem Lehrgang/Fernstudium nicht durchgenommen?

Was erzählst du in Abschnitt 1?
Da ist eine Straßenmusikerin Typ Hippiemädchen, die gerne Reaktionen der Passanten beobachtet. Ende der Informationen => Du machst ziemlich viele Worte um das, was ich in einem Satz zusammengefasst habe. Spannungsaufbau? Null. Sehr schlecht für einen Krimi. Die meisten Leser sind bereits abgesprungen.

Abschnitt 2:
Ah, Spannungsaufbau. Die Polizei und die Leiche.
Zum Thema "Todeszeitpunkt und Leichenstarre" hast du schlecht recherchiert. Die Lösung der Leichenstarre tritt erst nach 2-3 Tagen ein, bei Kälte noch später. (aus dem: Skriptum Rechtsmedizin vom Institut der Rechtmedizin St. Gallen)
"Fahndungsfoto"? Sie brauchen doch nicht nach der Frau zu fahnden. Die liegt doch vor ihnen.
Und eine Frage: Wenn die Frau so brutal erschlagen wurde, müssten doch am Tatort 'ne Menge Blutspuren zu finden sein, nicht? Wäre erwähnenswert. (Oder ist der Fundort der Leiche nicht der Tatort? Das wäre noch erwähnenswerter.)

Abschnitt 3:
Viele Nebensächlichkeiten aus dem Leben der Schwester der Toten. Könnte radikal gekürzt werden. Oder man könnte die notwendigen Informationen aus einem völlig anderen Blickwinkel rüberbringen.

Abschnitt 4:
"Bitte kommen Sie doch kurz in die Pathologie" => Nein, in die Rechtsmedizin/Gerichtsmedizin! Recherchiere den Unterschied. Und die Frau Doktor ist natürlich Rechtsmedizinerin/Gerichtsmedizinerin.
Frage: Warum wollen die Polizisten die Kriminellen der Rocker- und Drogenszene ermitteln? Wo soll da ein Zusammenhang zur Toten sein? (Besonders, nachdem die Rechtmedizinerin ausdrücklich gesagt hat, dass die Verstorbene keine Drogen genommen hat.)

Abschnitt 6:
"der verkleideten Obdachlosen" => Du meinst: die als Obdachlose Verkleidete. Wird in dem Satz ein Zungenbrecher. Würde ich umschreiben.
"Er setzte Drüding auf einen Bürostuhl" => Er ließ ihn Platz nehmen, meinst du wohl.
"und ließ die Kartei mit den polizeibekannten Vorbestraften durchlaufen" => Gibt es auch nicht der Polizei bekannte Vorbestrafte?
"Er hatte eine junge Frau von ihrem Fahrrad gerissen, welches dabei beschädigt worden war, hatte ihr die Handtasche und das Handy gestohlen" => Eindeutig Raub. Warum ist er deswegen nicht vorbestraft?
"Antaggressionstraining." => Ich kaufe ein i.

Abschnitt 7:
Die Beschreibungen/Aufzählungen sind mir zuviel. Ich lese über sowas hinweg und vergesse es gleich wieder, weil die Details ja ohnehin nicht wichtig sind. Könnte man kürzen.
Und dann der totale Spannungsabfall: die Mörder haben gestanden, ohne dass der Leser dabei war. Der guckt sich stattdessen eine langweilige Wohnung an.

Abschnitt 7 (du hast zweimal die 7!), die zweite:
Viel zu ausführlich. Wie sie sich verkleidete etc, etc. Hat für mich keinen Mehrwert für die Geschichte. Das "Warum tut sie das?" hast du ja schon in Abschnitt 1 beschrieben.

Zum Ganzen:
Es sind noch ein paar Fehlerchen in der Zeichsetzung drin. Die musst du selbst suchen.

Zu deinen handelnden Personen:
Niemand ist mir wirklich nahe gekommen. Alle, bis auf die Tote, scheinen für dich nur Nebenfiguren gewesen zu sein, aber sie haben den Hauptteil des Textes bevölkert. Ein Missverhältnis.
Die Tote - ich habe verstanden, dass sie sich verkleidet, um verschiedene Reaktionen auszulösen und sich daran zu erfreuen, aber ich kann mich nicht in sie hineinversetzen. Ich kann jetzt nicht erklären, warum das so ist, sorry.

Das wäre es.

Grüße,
Chris

 

Liebe Konstantina,

nachdem ich Deine Geschichte gelesen hatte, hatte ich auf eine Kommentierung verzichtet, weil ich befürchtete, die Geschichte nicht richtig verstanden zu haben. Aber nach dem Kommentar von Chris habe ich wohl doch richtig gelegen. Ich schreibe selber Geschichten, die langweilig erscheinen und in denen nicht viel geschieht. In deiner Geschichte geschieht eigentlich eine Menge und doch ist sie so umständlich erzählt und so mit Unwichtigkeiten angefüllt, dass ich am Ende noch einmal den Anfang lesen musste, weil ich ihn längst vergessen hatte.

Was ist für Dich der rote Faden der Geschichte? Der Mord und seine Aufklärung oder der Hang zum Verkleiden? Im ersten Fall würde ich die Arbeit von Polizei und Gerichtsmedizin intensiver und zutreffender darstellen. Das Verkleiden hat ja dann nur deen Effekt, dass die Polizei die Tote zunächst für jemand anders hält. Ein interessanter Aspekt, der aber viel zu breit dargestellt wird.

Kommt es auf das Verkleiden an - ich fände diesen Strang sehr viel ergiebiger und intereessabter - könnten die Abschnitte zwischen Anfang und Ende deutlich gekürzt werden und die Persönlichkeit der Prot deutlicher beleuchtet werden.

Ich hoffe, es wird klar, dass Du nach meiner Meinung zwei Plots miteinander verquirlst und damit beiden nicht gerecht wirst.

Herzliche Grüße

Jobär

 

Hallo Chris Stone, hallo Jobär!

Danke fürs Lesen meiner Geschichte, die eher eine Erzählung als ein Kurzkrimi ist, und danke für eure Kritik, die mir zu denken gibt.
Es stimmt, es sind eher zwei Plots, die ich miteinander verknüpft habe. Dabei tritt der eigentliche Krimi (Leiche wird gefunden, Polizei rechercheirt, Täter wird gefasst) in den Hintergrund, was womöglich auf Kosten der Spannung geht. Aber dafür tritt die Persönlichkeit des Opfers mit ihrer seltsamen Leidenschaft fürs Verkleiden mehr in den Blickpunkt des Lesers, was meine Absicht war.

Wie dem auch sei: Ich danke euch für eure Geduld beim Lesen und eure Ratschläge.

Gruß, Konstantina

 

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