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Die Hoffnung des alten Mannes
Es war einmal ein alter Mann, der hatte jedes Glück im Leben verloren. Seine Familie lag tot unter der Erde begraben, und das Klavierspielen, welches früher immer seine größte Leidenschaft gewesen war, wollte ihm nicht mehr gelingen. Doch war er nicht mehr voller Trauer, nein, die Geschehnisse waren lange vorbei. Der Trauer gewichen war eine tiefe Gleichgültigkeit, die sich über sein Herz und seine Seele ausgebreitet hatte. Tagein, tagaus saß er auf seinem Stuhl in seiner Hütte, fernab von jeglicher lebendiger Gesellschaft. Lediglich sein Arzt kam einmal in der Woche zu ihm und brachte ihn nach draußen, damit er nicht krank wurde. Jede Woche untersuchte er ihn, doch das Zeichen eines baldigen Todes war nicht vorhanden. Früher hatte er immer wieder geglaubt, wenn er eines natürlichen Todes stürbe, würde er im Himmel mit seiner Familie vereint sein. Damals hatte er den Arzt jede Woche bestellt und es nie abgesagt. Doch hatte er jeglichen Glauben verloren. Und eines Tages kam ein Herr zu ihm, der ihm sagte, er habe seine Steuern nicht bezahlt und dadurch seine Wohngenehmigung verloren. Als er dies hörte, packte er schweigend seine Sachen zusammen und verließ die Hütte, die ihm über 30 Jahre hinweg ein Zuhause gewesen war. Langsam machte er sich auf den Weg zur Landstraße. Er wusste nicht, wohin sie führte, denn er hatte sie seit 20 Jahren nicht mehr betreten, doch hoffte er, irgendwann auf das Ende der Welt zu stoßen. Immer weiter ging er, langsam zwar, doch stetig. Er wusste nicht, was er machen würde, sollte er das Ende der Welt nicht erreichen, doch dachte er auch nicht darüber nach. 3 Tage ging er so weiter, zwar schlief er, aß, trank, doch machte er ansonsten keine Pausen. Doch nach diesen 3 Tagen war die Landstraße vorbei. Geradeaus weiter kam man nur durch so dichte Wälder, dass kein Mensch dort weitergehen konnte. Es gab nur einen Weg, der nicht von Bäumen versperrt war, und dieser führte in eine Stadt. Er schluckte, seufzte, doch dann folgte er jenem. Als er vor dem Stadttor stand, blickte er über die vielen Menschen, und ihm wurde bang. Doch dann bat er den Pförtner doch um Durchreise, die dieser ihm auch nach einiger Zeit gestattete. Zitternd betrat er die Stadt, hatte er doch seit so vielen Jahren keine Menschenmengen gesehen. Er wollte eigentlich nur rasch durch die Stadt, weiter geradeaus, doch da fiel ihm ein kleines Mädchen auf, das etwa im Alter seiner verstorbenen Tochter sein musste. Tapfer unterdrückte er jedes Gefühl der Traurigkeit und ging näher heran.
Eine Schar Kinder hatten sich um das Mädchen versammelt, es schien ihnen Geschichten zu erzählen. Ab und zu drückten ihr die Eltern eines Kindes eine Münze in die Hand, und sie bedankte sich höflich.
Sie war gerade dabei das Märchen vom Sternentaler zu erzählen. Doch wie sie es tat! Jede einzelne Gefühlsregung konnte man spüren, es war, als würde sie die Geschichte selbst erleben. Und als zum Schluss dem Sternentaler das Glück beschert wurde, schien ihr Gesicht strahlen: „Sternentaler hat etwas ganz Besonderes getan. Obgleich sie doch alles, was ihr lieb gewesen war, verlor, hat sie dennoch an Menschen gedacht, die es noch schlechter hatten. Dadurch konnte sie ihre Lebensfreude bewahren. Wie schrecklich das Leben auch gelegentlich zu sein scheint, immer wird es bessere Zeiten geben, wenn man daran glaubt und nicht aufgibt. Denn nur wenn man sich selbst aufgibt, hat man alles verloren.“
Die kleinen Kinder waren nacheinander aufgestanden und zu ihren Eltern zurückgelaufen, sie verstanden den Sinn dieser Worte nicht. Ihre Eltern hatten sich verächtlichen Blickes abgewandt.
Doch das Mädchen hatte ihn die ganze Zeit über angesehen, so, als hätte sie diese Sätze nur für ihn ausgesprochen.
Erst jetzt konnte er seinen Blick abwenden. Nein, er hatte sich die Geschichte nicht angehört, er hatte sie gelebt. Jedes einzelne Gefühl Sternentalers hatte er aus tiefstem Herzen nachempfunden. Wo war die dicke, feste Schale geblieben, die er über all die Jahre mit Mühe errichtet hatte?Wie dahingeschmolzen schien sie. Nein, er wollte diese Gefühle nicht! Gefühle bedeuteten Trauer, Trauer bedeutete Schmerz und Schmerz bedeutete Leiden. Hatte er nicht schon genug gelitten? Doch es war nichts zu machen, die Schale war fort.
Wenn er ganz ehrlich war, wollte er auch gar nicht, dass sie wiederkam. Das Einzige, was er vermeiden musste, war, an seine Familie zu denken. Um die auf diesen Gedanken aufkeimenden, neu entdeckten Gefühle zu unterdrücken, beschloss er, mit erhöhter Geschwindigkeit weiterzugehen. Kurz nachdem er an dem Mädchen vorbeigegangen war, blieb er noch einmal kurz stehen und winkte ihr kurz zu. Erfreut tat dieses es ihm gleich. Schnell lief er weiter. Doch nachdem nur sehr kurze Zeit vergangen war, blieb er auf einmal abrupt stehen. Hatte er gerade richtig gehört? Dieses wunderbare Mädchen sollte wirklich eine Waise sein? Wie war das möglich? An diesem Abend hatte er viel Stoff zum Nachdenken. Mit dem Einsetzen der Dämmerung hatte er die Stadt verlassen. In einem Wäldchen in der Nähe der Stadt hatte er sein Lager aufgeschlagen. Und lag nun auf dem Boden unter dem Sternenhimmel, um über das Erlebte nachzudenken. Das Mädchen schien niemanden mehr zu haben, und doch hatte es vor Lebensenergie nur so gesprüht! Plötzlich erinnerte er sich an die Worte, die sie ganz besonders ihm, so schien es, verschenkt hatte: „Du hast nur alles verloren, wenn du dich selbst aufgibst.“ Er hatte sich selbst aufgegeben, das war ihm klar, doch klar war ihm auch, dass er dabei war, ein Stückchen von sich selbst wiederzufinden. Doch wollte er das denn so? War er es seiner Familie nicht schuldig, bis an sein Lebensende um sie zu trauern?
Er schlief in dieser Nacht nicht lang, zu hin- und hergerissen fühlte er sich von den beiden Impulsen, entweder hierzubleiben, oder seine Reise ans Ende der Welt fortzusetzen. Am Morgen entschied er sich jedoch dafür, seine Reise fortzusetzen, da es ihm einfach als das Logischste erschien. Doch bereits kurz nachdem er sich auf den Weg gemacht hatte, fühlte er eine merkwürdige Sehnsucht, sofort kehrt zu machen und in die Stadt zurückzukehren. Zunächst bemühte er sich nach Kräften, diese zu ignorieren, doch je mehr er sich bemühte, den Impuls aus seinem Kopf zu verbannen, desto deutlicher hämmerte er sich in sein Gehirn ein. Irgendwann dann hielt er es nicht mehr aus und gab diesem nach.
Er lief den ganzen, bereits gegangenen Weg zurück, was ihn tüchtig ärgerte. Doch als er in die Stadt kam, und das kleine Mädchen sprechen hörte, erschien ihm all das unwichtig.
Als das Kind eine Pause machte, ging er zu ihm hin. Er wollte versuchen, mit ihr in ein Gespräch zu kommen: „Guten Tag“, sagte er steif. „Guten Tag!“ strahlte sie ihn an. Und auf einmal war seine Schüchternheit wie weggeblasen. Flüssig erzählte er von seinem Leben und fragte sie nach dem ihrem aus. Nur dass seine Familie gestorben war, das erwähnte er nicht. Auch sie schien dieses traurige Thema lieber vermeiden zu wollen.
Dieses Gespräch und ein paar Geschichten später mietete der alte Mann sich in eine Pension ganz in der Nähe dieses Standortes ein. Täglich besuchte er sie und sprach mit ihr, und nach einiger Zeit brachte er in Erfahrung, dass ihre Familie wirklich tot war und sie in dem Wäldchen, wo er letzte Nacht geschlafen hatte, lebte, bis sie genug Geld für ein kleines Zimmerchen in der Stadt verdient hatte.
Das Ende?
Nach einiger Zeit entschloss er sich dazu, das Mädchen zu adoptieren und mit ihr in ein Häuschen ganz in der Nähe der Stadt zu ziehen. Dies war nicht weiter schwer, denn sie waren froh, dass das Kind von nun an nicht mehr alleine und ohne Dach über dem Kopf leben musste. Das Mädchen war glücklich. Es begann schon bald, den alten Mann wie einen Großvater zu lieben, den sie sich schon von klein auf gewünscht hatte.
Und der alte Mann? Auch er war glücklich. Zwar hatte er seine Familie nicht zurückbekommen, doch nun hatte er immerhin eine kleine, neue Familie, mit der er sein Leben auf der Erde verbringen konnte. Von nun an war sein Leben erfüllt von Freude und Vorfreude, viel zu lang hatte er getrauert, doch jetzt konnte er glücklich sein. Wie lange war er krank gewesen, sie aber hatte sein Herz wieder gesund gemacht.
Mit seiner neuen Familie konnte er im Jetzt, und später im Himmel mit seiner alten Familie leben.
Und so war es gut.