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Die Königin

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09.11.2005
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Die Königin

Die Königin

Ein Krankenhauszimmer mit einem Bett, neben dem ein Infusionsständer steht. Darin liegt ein Patient mit Kopfverband und Stehkragen, fest in eine Decke gewickelt.
„Ich glaube, ich bin querschnittsgelähmt“, sagt er zu der Frau, die auf einem Stuhl an seiner Seite sitzt. „Die Ärzte wollen mir nichts sagen, aber die Schwester schauen mich immer so komisch an und ich kann mich nicht bewegen.“
„Du wirst wieder gesund werden. Wir stehen das gemeinsam durch, du wirst sehen. Am Ende...“
Mitten im Satz wurde der Fernseher schwarz und in der ganzen Wohnung ging das Licht aus.
„Ein Stromausfall?“ wunderte sich Mrs Washington. „Die Sicherungen?“
Mr. Washington, auf dem Sofa neben seiner Frau sitzend, erwiderte nichts und massierte weiter ihre Füße.
GEHT NACH DRAUSSEN erschien ein Schriftzug auf dem Bildschirm.
Mr Washington ließ von den Füßen seiner Frau ab und erhob sich. „Vielleicht sollten wir einmal nach draußen gehen und sehen, was es damit auf sich hat.“
„Ich finde das seltsam. Vielleicht kommt der Strom ja wieder.“
„Bezweifle ich.“ Mr. Washington war bereits auf halbem Weg zum Flur, wo er sich Schuhe anzog. Seine Frau folgte ihm in Pantoffeln.
Draußen lag die ganze Straße im Dunkeln. Kein einziges Licht brannte in den Fenstern der Nachbarhäuser und keine Laterne schien.
„Das ist eigenartig“, sagte Mr. Washington.
„Das ist wunderschön“, sagte Mrs Washington.
Über ihren Köpfen schimmerten die Sterne wie abertausend auf dunklem Samt verstreute Diamanten.
„Es ist, es ist wirklich wunderschön. Warum habe ich das früher nie gesehen?“
„Weil sonst die Lichter der Stadt die Sterne überstrahlen“, antwortete ihr Mann und legte seinen Arm um ihre Hüfte. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und gemeinsam blickten sie wortlos hinauf zu den Sternen, bis die Straßenlaternen und die Lichter in den Häuser wie tausend grelle Sonnen aufflammten und den Glanz der Sterne auslöschten.
Mr. und Mrs Washington lösten sich voneinander und stellten fest, daß sie nicht die einzigen Menschen auf der Straße waren. Fast die ganze Nachbarschaft hatte sich eingefunden.

„Hey Bill, wunderschöner Morgen heute, findest du nicht? Wie geht’s dir?“
„Carl“, sagte Mr. Washington, „jeder Morgen ist wunderschön. Er wird so designed, erinnerst du dich? Warum erwähnst du es also jedes Mal?“
„Alte Angewohnheit. Hattet ihr gestern auch einen Stromausfall?“
„Ja.“ Mr. Washington setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sah die Post durch.
„Seltsam, nicht?“
„Mhm.“ Mr. Washington ließ drei Einladungen zu Vorträgen in seiner Schreibtischschublade verschwinden und legte die restliche Post beiseite.
„Bevor wir zur Sache kommen, Carl. Wie war Laudatemes Testlauf gestern abend? Irgendwas Besonderes?“
Carl konsultierte sein Klemmbrett und schüttelte den Kopf.
„Nein, alles lief wie erwartet. Wir haben Laudateme ein paar kreative Aufgaben gestellt, ein Bild von Dalì interpretieren, ein Gedicht und einen philosophischen Text kommentieren, irgendwas Langweiliges von Kant, glaube ich. Die Experten werten die Ergebnisse zur Zeit noch aus. Stromverbrauch blieb währenddessen konstant, Temperatur desgleichen. Geschätzte Auslastung war irgendwo unter einem Prozent.“
„Klingt gut“, sagte Mr. Washington. Carl lächelte. „Also dann, wie viele Anfragen auf Laudatemes Dienste sind heute bei uns eingegangen?“
„Mit oder ohne denen vom Militär?“
Mr. Washington warf Carl einen vernichtenden Blick zu. „Haben die ihre Rechnung vom letzten Mal etwa schon bezahlt?“
„Keine Ahnung. Bin ich die Buchhaltung?“
„Ist ja auch egal. Selbst wenn die inzwischen gezahlt hätten, noch einmal tu ich mir das Theater nicht an.“
„Hier sind die anderen Anfragen.“ Carl holte einen ansehnlichen Stapel Blätter aus seiner Dokumententasche und reichte sie Mr. Washington. „Und hier ist noch etwas.“ Carl entlockte seiner Tasche ein weiteres Blatt. „So weit ich das verstanden habe, bittet uns die UNO Projekte auf Kredit durchzuführen. Sie bieten uns ein Finanzierungsmodell an. So weit ich das verstanden habe, wollen sie in Raten zahlen, mit Zinsen. Die wiederum sollen aus den Zinsen der ausstehenden Mitgliedsbeiträge Amerikas stammen, plus einer Klausel, daß sie den ausstehenden Betrag sofort zahlen würden; sollten die USA plötzlich anfangen ihre Mitgliedsbeiträge zu bezahlen.“
„Aha“, sagte Mr. Washington abwesend, warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt und legte es dann beiseite.
„Was ist?“ fragte Carl. „Was hältst du davon?“
„Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen, aber viel halte ich nicht davon.“
„Für mich klingt es gut.“ Carl versuchte unbeteiligt zu klingen, geschäftsmäßig. Wenn aber Mr. Washingtons Chefentwickler eines nicht war, neben der Tatsache, daß er kein Frauenaufreißer war, dann ein Geschäftsmann. Sonst säße er auch hinter Mr. Washingtons Schreibtisch und stünde nicht davor.
Mr. Washington nahm das Blatt wieder in die Hand, sah es aber nicht an. Stattdessen blickte er Carl fest in die Augen.
„Okay, Carl, ich weiß was du denkst. Du denkst. Wow, die UNO, wir haben es geschafft. Endloses Prestige, Folgeaufträge bis an das Ende unserer Tage. Die Chance, mit Laudateme etwas Gutes zu tun, die Welt zu einem besseren Planeten zu machen.“
„Vielleicht.“
„Aber weißt du auch, was der Haken bei der Sache ist?“
Carl rollte mit den Augen: „Daß die UNO Pleite ist, daß die verdammten Vereinigten Staaten von Amerika pleite sind und daß wir unser Geld nie zu Gesicht bekommen werden, ich weiß, ich weiß.“
„Abgesehen davon.“
„Abgesehen davon?“ Mr. Washington hatte Carl aus dem Konzept gebracht.
„Macht. Wir bekommen ganz entsetzlich viel Macht. Noch viel mehr, als wir ohnehin schon haben. Schlimm genug, daß wir das Pentagon zum Schuldner haben, aber wenn uns erst einmal Staaten Geld schulden, dann sind wir ganz schnell so etwas wie Weltherrscher. Dann sind wir die Spinne im Netz von Abhängigkeiten, Schulden und Gefälligkeiten. Wenn wir an einem Faden zupfen, dann zupft der Gezupfte an einem anderen Faden, an dem weitere Zupfer hängen. Dann sind wir die Oberzupfer, so ist das“, sagte Mr. Washington abschließend und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Carl guckte ihn einen Augenblick lang fassungslos an.
„Okay“, sagte er dann. „Okay, es tut mir leid, Harold. Es tut mir leid, daß du eine schlecht Nacht hattest, daß dein Wagen heute Morgen nicht angesprungen ist oder daß deine Frau dich nicht rangelassen hat. Das tut mir alles leid, aber ich habe eine weitere schlechte Nachricht für dich: Du bist, wir sind bereits mächtig. Wir können bereits Präsidenten und Diktatoren schmieren und jeden einzelnen in ihren Beraterstäben. A.I. Inc. hat letztes Jahr mehr Umsatz erwirtschaftet, als viele Länder an Bruttosozialprodukt. Laß dir das von einem Multimillionär gesagt sein, Mr. Multimilliadär. Wenn dir deine Anchovispizza nicht schmeckt, dann stellst du einen Scheck aus, kaufst den ganzen verdammten Pizzaladen und schmeißt alle raus. Egal wie schlecht du geschlafen hast, du bist bereits mächtig.“
„Ja“, sagte Mr. Washington gedehnt. „Nein, nicht wirklich. Diese Form von Macht ist...“ Mr. Washington blies die Backen auf und ließ die Luft langsam daraus entweichen, „direkter“, sagte er schließlich. „Überschaubarer und daher menschlicher.“
„Jetzt mal im Ernst, Harold. Ich sehe, worauf du hinaus willst und ich finde das auch sehr nobel von dir. Das ist ja auch der Grund, warum ich für dich arbeite, weil du integer bist. Aber ich finde, du siehst die Sache zu negativ. Die UNO, das sind die Guten. Wenn wir denen helfen, dann tun wir Gutes. Ich glaube, das wäre eine gute Sache.“
„Das Problem, das ich mit der ganzen Sache habe ist, daß wir dann entscheiden würden, welche Projekte durchgeführt werden und welche nicht. Wir würden entscheiden was gut und was besser ist. Nehmen wir mal an, UNICEF hätte zwei Aufträge für uns, mit Laudatemes Hilfe die Tellerunterlippenindianer am Amazonas retten oder ein Waisenhaus in der Wüste Gobi bauen. Nur einen der Aufträge können wir annehmen. Wir würden Gott gleich werden, verstehst du?“
„Ich glaube, du hast bloß Angst vor Verantwortung.“
Mr. Washington seufzte. „Hör mal, ich habe bald einen Termin und keine Zeit mehr. Was hältst du davon, wenn wir heute zusammen zu Mittag essen und dabei unsere Unterhaltung über die Errettung der Welt fortsetzen?“
Carl sah Mr. Washington finster an, aber dann klärte sich seine Miene auf und er lächelte.
„Errettung der Welt.“ Er grinste. „Du machst dich über mich lustig. Aber Mittagessen klingt gut.“
Mr. Washingtons Termin bestand aus einer Gruppe potentieller Kunden aus Japan. Er erklärte ihnen kurz den Unterschied zwischen einem herkömmlichen Superrechner und Laudateme, der ersten künstlichen Intelligenz, die diesen Namen auch verdiente. Er betonte, daß es sich dabei nicht um Pseudokreativität, gepaart mit abstruser Rechenleistung handele, sondern um eine Maschine mit der Fähigkeit, eigene Problemlösungsstrategien zu erarbeiten, dem Willen diese zu optimieren – an dieser Stelle wurden ein paar Augenbrauen gehoben -, eine sich beständig weiter entwickelnde Persönlichkeitsstruktur, beinahe unbegrenzter Informationszugriff, plus einer abstrus hohen Rechenleistung.
Niemand lachte über diesen Witz. Überhaupt schienen die Japaner eher gelangweilt ob seiner Ausführungen. Wahrscheinlich hatten sie sich gründlich informiert und wußten besser über Laudatemes technischen Daten Bescheid als Mr. Washington. Er änderte die Taktik und berichtete ihnen von den ersten Testläufen mit Laudateme, daß der Computer sich den Namen selbst gegeben hatte, daß sie ihm philosophische Texte zum Kommentieren und Gedichte zum Interpretieren gegeben hatten. Experten bescheinigten Laudateme eine gewisse Kreativität. Natürlich war das Meiste noch von anderen Kommentaren und Interpretationen kopiert, aber jeder finge schließlich klein an. Von diesen Ausführungen waren die Japaner schon eher beeindruckt, aber mehr als ein vages Versprechen wieder einmal voneinander zu hören, kam dennoch nicht heraus.
Mr. Washington war dementsprechend schlechter Laune, als er mit dem Fahrstuhl hinunter in die Tiefgarage fuhr. Der Italiener, bei dem er sich gewöhnlich mit Carl zum Mittagessen traf, war zwanzig Minuten auf dem Freeway entfernt. Allein die Lasagne rechtfertige bereits jede Minute der Fahrt. Nach wenigen Meilen war die Vorfreude jedoch schon wieder verflogen und Mr. Washington steckte im Stau fest. Er kam im Schatten eines Werbeaufstellers zu stehen und starrte auf die Bremslichter seines Vordermannes. Nach einigen Minuten stellte er den Motor ab. Soweit der Blick reichte, standen auf dem Freeway die Autos still. Mr. Washington blickte auf die Uhr auf seinem Armaturenbrett und konnte es nicht fassen. Es war erst kurz vor eins und noch eine ganze Zeit hin bis zum Berufsverkehr.
Als die ersten ihre Autos verließen, sich die Beine zu vertreten, tat Mr. Washington es ihnen nach. Der Himmel war wolkenlos und es war heiß. In der Ferne flimmerte die Luft und bis zum Horizont glitzerten Stoßstangen in einer endlosen Schlange von Autos. Nichts rührte sich; es war, als wäre tausenden von Wagen zum selben Augenblick der Sprit ausgegangen.
„Haben sie eine Ahnung, wie lange der Stau geht?“ fragte Mr. Washington den Nächststehenden.
Der zuckte mit den Achseln. „Im Radio kam bis jetzt noch nichts darüber. Sieht aber übel aus.“
Die beiden blickten mißmutig den Freeway entlang und fragten sich im Stillen, wie viele Meilen es wohl bis zum Horizont sein mochten.
„Ich habe sie übrigens schon ein paar Mal gesehen“, brach der andere das Schweigen.
„Mich?“
„Naja, nicht wirklich sie, ihren Wagen. Einen Oldtimer wie ihren, so etwas übersieht man eben nicht so leicht. Ein Hummer, nicht wahr?“ Er wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Der Tarnanstrich ist wahrscheinlich auch noch Original. Ein Prachtexemplar.“
„Danke.“ Mr. Washington mußte ob solcher Begeisterung für seinen Wagen lächeln. „Hat mich auch eine Stange Geld gekostet. Aber als ich das Schmuckstück sah, habe ich einfach nicht widerstehen können.“
„Kann ich mir vorstellen. Ach übrigens“, Mr. Washingtons Gegenüber wischte sich seine Hand an seiner Hose ab und reichte sie ihm. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Steve Meyers, Gebrauchtwagenhändler.“
„Ah, daher das Interesse für Autos. Harold Washington, sehr angenehm sie kennenzulernen. Ich bin Manager von ...“
„A. I. Inc., ich weiß“, unterbrach ihn Steve grinsend. „Ihr Gesicht ist jeden dritten Monat auf dem Titelblatt von Time Magazin.“
„Unangenehm, aber die Journalisten schreiben was sie wollen, mit oder ohne unsere Public Relations Abteilung hinzuzuziehen. Glauben sie also nicht alles was die schreiben.“
„Nein“, Steve lachte. „Mein Interesse gilt alten Sachen.“ Er tätschelte die Motorhaube des Hummers. „Sachen wie diese oder“, er deutete auf das Plakat über ihnen, „wie diesen.“
Mr. Washington blickte zum Werbeaufsteller hoch und sah ihn genauer an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Das Bild zeigte die Beatles in ihrer frühen Phase, als sie noch die Pilzköpfe waren. Darunter stand in gigantischen Buchstaben: Die Beatles, ehe Yoko Ono sie trennte, auf 96, 6. Mr. Washington kannte den Sender. Er hörte ihn manchmal im Auto, wenn er zur Arbeit fuhr. Er dachte an die von John Lennon signierte Schallplatte, die gerahmt in seinem Schlafzimmer hing.
„Sie mögen die Beatles?“ fragte er.
Steve lächelte. „Ich habe alles, was sie gemacht haben, und wie steht es mit ihnen?“
„Dasselbe.“
„Wirklich?“ Er fing unvermittelt zu summen an.
„Eleonor Rigby“, sagte Mr. Washington
„Richtig, und wie steht es damit?“ Er summte eine andere Melodie. Mr. Washington rollte mit den Augen.
„Yesterday.“
„Ja, zugegeben, das war wirklich einfach.“ Er fing zum dritten Mal zu summen an, aber dieses Mal konnte sich Mr. Washington keinen Reim darauf machen.
„Keine Ahnung.“
„Sollte Hey Bulldog sein. Zugegeben, ist nicht gerade meine Glanznummer.“
Im Inneren des Hummers klingelte Mr. Washington Handy. Er machte eine entschuldigende Geste in Steves Richtung, der verständnisvoll zwinkerte.
„Hallo Carl.“
„Harold, wo steckst du? Noch einen Aperitif und ich falle durch den Alkoholtest in der Firma.“
„Kein Problem. Ich werde doch deswegen meinen Chefentwickler nicht feuern. Bestell dir noch einen. Bei mir wird es später werden.“
„Wo steckst du denn?“
„Im Stau. Sieht nicht so aus, als würde ich noch kommen. Sieht nicht so aus, als würde ich heute noch irgendwohin kommen.“
„Was du auch?“ Auf dem Display brach Carl in schallendes Gelächter aus.
„Was bin ich auch?“
„Du bist ein Ampelopfer, eines von tausenden.“
Mr. Washington legte eine Hand auf die Sprechmuschel und rief zu Steve rüber: „He Steve, mein Chefentwickler sagt, wir wären Ampelopfer.“
„Oh ja, das ist großartig. Ich werde versuchen, mich dem entsprechend zu verhalten.“
„Was meinst du mit Ampelopfer, Carl?“ Mr. Washington sah auf seinem Display wie Carl breit grinste.
„Das heißt, daß du im größten Verkehrschaos seit Erfindung des Autos steckst. In hundert Meilen Umkreis sind sämtliche Ampeln ausgefallen. Alle Straßen sind verstopft. Es geht nichts mehr. Wenn du Glück hast, bist du irgendwann diese Nacht wieder zu Hause.“
„Wie konnte das passieren?“
Carl zuckte mit den Achseln und sein Grinsen wurde womöglich noch breiter. „Keine Ahnung. Vielleicht hat da einer was dran gedreht.“
„Das scheint dir ja alles wahnsinnig viel Spaß zu machen.“
„Ich habe ja auch ein Motorrad“, sagte Carl und brach in schallendes Gelächter aus.
Mr. Washington legte auf.
„Die Ampeln sind überall ausgefallen“, erklärte er Steve. „Mein Chefentwickler meinte, daß wir hier ein paar Stunden festsitzen werden.“
„Hm“, machte Steve und sah auf seine Uhr. „Ich habe ja eigentlich einen Termin bei meiner Bank. In ungefähr, genau fünf Minuten. Nun, ich schätze,“ er blickte die Straße hinunter, „das hier sollte als Entschuldigung eigentlich durchgehen.“
Unwillkürlich mußte Mr. Washington lachen. „Ich denke auch.“

Es war weit nach Mitternacht, als Mr. Washington endlich zu Hause ankam. Der Chauffeur tippte sich zum Abschied gegen die Mütze und fuhr davon. Die Limousine schnurrte wie ein Kätzchen.
„War es sehr schlimm, Schatz?“ fragte seine Frau, als sie die Haustüre öffnete.
„Nein, es ging. Eigentlich war es sogar ganz lustig.“
„Wo ist der Hummer?“
„In der Firma. Ich habe mich von unserem Escortservice nach Hause fahren lassen. Ich habe etwas getrunken und wollte nicht mehr hinters Steuer.“
Mr. Washington ließ sich im Wohnzimmer auf das Sofa plumsen und zog sich die Schuhe aus. Der erste verfehlte nur knapp einen Blumentopf. Der zweite prallte an einem Sessel ab und blieb als Querschläger vor dem Fernseher liegen.
„Scheint ja tatsächlich ganz lustig gewesen zu sein auf dem Freeway. Bist du betrunken?“
Mr. Washington schüttelte den Kopf. „Nur ein wenig“, sagte er. Dann breitete er seine Arme aus. „Komm her, meine Prinzessin.“
Seine Frau schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihm auf das Sofa. „Was hast du denn gemacht, auf dem Freeway?“
„Naja, ich habe mit einem Gebrauchtwagenhändler, und ein paar anderen, Beatleslieder gesungen und Scotch getrunken.“ Bei dem Gedanken daran mußte er grinsen.
„Seltsame Sachen passieren in letzter Zeit. Erst dieser komische Stromausfall, dann diese Sache mit den Ampeln. Glaubst du, da besteht ein Zusammenhang?“
„Ich weiß nicht“, sagte Mr. Washington und zog seine Frau näher zu sich heran. „Aber im Augenblick kann ich mich auch nicht konzentrieren.“
„Aber immerhin, das kannst du noch“, lachte seine Frau, als seine Hand über ihre Schulter nach unten rutschte.

„Ich habe gehört, du hast gestern im Stau gestanden“, feixte Carl als Mr. Washington das Büro betrat.
„Mhm“, machte der.
„War das nicht schrecklich langweilig?“
„Es ging. Wir haben gesungen und gesoffen.“ Mr. Washington sortierte seine Post. Die Einladungen zu Vorträgen wanderten in seine Schublade, den Rest sortierte er durch und legte ihn beiseite. „Jeden Tag fährst du dieselbe Strecke wie hunderte von Leuten und nie lernst du einen von ihnen kennen. Das kann zwanzig Jahre lang so gehen, vielleicht hundert. Die Gelegenheit, sie kennenzulernen, ergibt sich einfach nie, es sei denn, etwas passiert.“
„Ein Stau, vielleicht.“ Carl lächelte.
„Ein Stau, vielleicht. Meine Frau hat sich gestern gefragt, ob das bloß ein Zufall war, und ich frage mich das langsam auch.“
In diesem Augenblick klingelte das Telephon. Der Hörer leuchtete rot auf und vibrierte, als wolle er von der Gabel springen.
„Das ist die Präsidentin“, Mr. Washington sah seinen Chefentwickler scharf an. „Du weißt nicht zufällig, was das zu bedeuten hat, Carl?“
„Sicher nicht.“
„Du hast dich nirgendwo eingehackt und irgendwelchen Unsinn getrieben?“
„Ehrlich nicht. Außerdem würde ich mich nicht erwischen lassen.“
„Deshalb bist du ja auch auf Bewährung“, grummelte Mr. Washington. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht der Präsidentin.
„Künstlerpech“, hörte er Carl murmeln.
Die Präsidentin hatte Blut unterlaufene Augen als hätte sie die Nacht über nicht geschlafen. Wangen und Nase schimmerten rot von geplatzten Äderchen unter der Haut.
Sie hat schon wieder getrunken, dachte Mr. Washington. „Hallo, wie geht es dir und Nancy?“ fragte er. „Und wie geht es George?“
„Sie trinken den Weinkeller von irgendeinem Chateau leer, woher soll ich das wissen? Mir geht es beschissen, Harold. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und ich brauche deine Hilfe. Besser gesagt, die von deinem Wundercomputer.“
„Klar, kein Problem. Aber dafür hättest du doch nicht persönlich anzurufen brauchen.“
„Ersparen wir uns das Gewäsch, Harold. Du weißt genau, daß wir uns deine horrenden Preise nicht leisten können. Wir haben für dieses Jahr eine absolute Haushaltssperre.“
„Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.“
„Verdammt.“ Die Präsidentin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Es geht hier um dein Land. Home of the brave and the free, erinnerst du dich noch? Dein Land braucht dich jetzt. Dich und deine verdammte Maschine.“
„Okay“, sagte Mr. Washington und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er warf Carl einen Blick zu, aber der zuckte nur mit den Achseln. „Worum geht es eigentlich?“
„Es geht darum, daß wir wehrlos sind“, sagte die Präsidentin mit tonloser Stimme. „Bei uns geht nichts mehr. Wir kriegen kein Flugzeug in die Luft, kein Schiff ausgelaufen, geschweige denn eine Rakete gestartet. Die Schlitzaugen haben sich in unsere Systeme eingehackt und jetzt stehen wir mit herunter gelassenen Hosen da.“
„Alle eure Systeme sind tot?“ fragte Mr. Washington verblüfft. „Wie ist das möglich?“
„Nein, nicht tot.“ Die Präsidentin griff unter ihren Schreibtisch und förderte einen Flachmann zu Tage. Sie nahm einen tiefen Schluck daraus. „Nein, alle Systeme arbeiten wunderbar, ganz fabelhaft. Sie machen bloß nicht das, was sie eigentlich sollten. Sie machen im Augenblick, wenn ich das richtig verstanden habe...“ die Präsidentin hantierte nervös mit einem Blatt Papier, fuhr mit dem Finger über ein paar Zeilen und brach dann ab. „Also es sieht so aus, als wären alle Rechner des Verteidigungsministeriums im Augenblick damit beschäftigt, einen gigantischen Garten anzulegen.“
„Wie bitte?“
Hinter Mr. Washington fing Carl lauthals zu lachen an.
„Ich weiß, wie das klingt, aber so ist das. Die Computer sind im Augenblick dabei, Böden zu analysieren, Informationen über Bäume, Büsche und Blumen zu sammeln. Maximale Größe, Geschwindigkeit des Wachstums, optimale Zeit zur Saat, das ganze Zeug. Sie sind vollkommen ausgelastet damit, einen riesigen, beschissenen Garten zu kreieren.“
„Äh ja“, sagte Mr. Washington. „Das ist seltsam, in der Tat, sehr seltsam.“ Carl versuchte hinter ihm, nicht lauthals loszuprusten.
„Das ist nicht sehr seltsam, das ist eine Katastrophe. Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, dann tragen wir bald alle diese blauen Schirmmützen und fahren auf einem klapprigen Fahrrad zur Arbeit.“
Mr. Washington war einen Augenblick irritiert von der Vorstellung, die Präsidentin könne Fahrrad fahren.
„Und was soll Laudateme tun?“
„Wer?“
„Laudate – me“, sagte Mr. Washington langsam und deutlich, mein Wundercomputer. Die künstliche Intelligenz, das ist sein Name.“
„Beschissener Name.“
Mr. Washington zuckte mit den Achseln. „Hat er sich selbst gegeben. Beim ersten Testlauf haben wir ihm die Aufgabe gegeben, sich selbst einen Namen zu geben und das ist dabei heraus gekommen.“
„Wie auch immer. Dein Wundercomputer soll unsere Verteidigungssysteme wieder flott kriegen. So schnell wie es irgend geht. Meine Experten haben gesagt, wenn es einer schafft, dann nur deine Maschine.“
Mr. Washington drehte sich nach Carl um. „Meinst du, Laudateme kann da noch was ausrichten? Klingt für mich nach einem Virusangriff.“
„Keine Ahnung. Kommt auf den Virus an, vor allen Dingen. Sieht eher schlecht aus.“
Mr. Washington wandte sich wieder nach der Präsidentin um, die mit versteinerter Miene vor ihrem Telephon saß. Vielleicht bedeutete das auch grimmige Entschlossenheit, das war schwer zu deuten.
„Wir werden Laudateme darauf ansetzen, zum Selbstkostenpreis. Völlig umsonst ist ausgeschlossen, schon allein wegen der Energiekosten.“
„Klingt fair genug“, nickte die Präsidentin. „Aber ein wahrer Patriot wäre stolz darauf, die Gelegenheit zu bekommen, seinem Land einen Dienst zu erweisen.“
„Mist“, sagte Carl im Hintergrund. „Ich habe vergessen, wie man richtig salutiert.“
„Also haben wir einen Deal“, stellte Mr. Washington fest. „Aber wir können keine Erfolgsgarantie abgeben.“
„Ja“, sagte die Präsidentin mit einer solchen Grabesstimme wie sie nur Leute haben, die gerade der apokalyptischen Reiter ansichtig geworden sind. Sie streckte eine Hand aus, um das Telephon abzuschalten, aber Mr. Washington räusperte sich.
„Sieh dir doch mal gelegentlich meine Steuererklärung an, dann weißt du ,wie viele Millionen Gefallen ich meinem Land tue.“ Damit schaltete er das Telephon aus, indem er den Hörer auflegte.
„Müssen wir jetzt anfangen chinesisch zu lernen?“ fragte Mr. Washington seinen Chefentwickler.
„Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was sie vorhat.“
„Das werden wir ja sehen. Fahren wir Laudateme hoch und sehen, was er dazu zu sagen hat.“
Mr. Washington stand auf und wollte in den Keller gehen, wo die Entwicklungsabteilung war und Laudateme stand. Carl guckte verlegen zur Seite und rührte sich nicht.
„Was ist, kommst du jetzt?“
„Setz dich“, sagte Carl und deutete mit einem Kopfnicken auf Mr. Washingtons Stuhl.
Mr. Washington sah seinen Chefentwickler zweifelnd an. Der erwiderte seinen Blick Er setzte sich.
„Also“, sagte er. „Ich warte.“
Carl druckste herum und knetete verlegen seine Hände. Schließlich seufzte er tief.
„Am Besten, du siehst es selber.“
„Was soll ich sehen, Carl? Was geht hier vor?“
Aber Carl schüttelte den Kopf. „Tipp einfach“, sagte er. „Tipp einfach ein: Laudateme.“
Mr. Washington blickte auf den Bildschirm seines Computers, auf den blanken Desktop.
„Tipp einfach.“
Langsam, ohne den Blick von Carl zu wenden, tippte Mr. Washington Laudateme.
Augenblicklich wurde der Bildschirm schwarz und am linken, oberen Rand leuchteten silberne Buchstaben auf.
- Ja?
„Was soll das, Carl? Sag mir endlich, was hier vorgeht und keine albernen Spielchen mehr.“
Carl deutete auf den Bildschirm. „Das ist Laudateme. Ich habe sie entwickelt, aber ich habe sie nicht mehr unter Kontrolle. Wenn du alles wissen willst, dann frag sie selber.“
„Sie?“
Carl zuckte mit den Achseln. „Laudateme hat sich entschieden eine Frau zu sein, weiblich zu sein“, verbesserte er sich selbst. „Frag sie selbst, so habe ich es auch erfahren.“
Mr. Washington drehte sich nach seinem Bildschirm um.
- Alle Verteidigungssysteme der USA sind einem Virusangriff zum Opfer gefallen, tippte Mr. Washington. Kannst du den Virus vernichten und den Originalzustand wiederherstellen?
- Nein, das kann ich nicht.
„Das kam prompt“, stellte Mr. Washington überrascht fest.
- Warum nicht?
- Weil es keinen Virusangriff gibt.
„Bitte?“
„Ich habe mir das bereits gedacht“, sagte Carl. „Aber bevor das jetzt ewig so weiter geht... Du solltest mal tippen lernen.“ Er nahm den Telephonhörer ab und wählte neun Nummern. Auf dem Bildschirm erschien der Oberkörper einer drallen Blondine vor dem Hintergrund eines gemütlichen Wohnzimmers mit brennendem Kamin.
Carl lachte. „Wir haben Mitte Juni“, sagte er. „Niemand benutzt zu dieser Jahreszeit einen Kamin.“
Augenblicklich verschwand der Kamin und an seine Stelle trat ein Klavier, komplett mit Kerzen, Familienfotos und aufgeklappten Noten.
„Bitte, Harold“, sagte Carl und deutete auf den Bildschirm. „Laudateme.“
„Laudateme?“
„Ja?“ Laudateme hatte eine leicht rauchige, sinnliche Stimme.
„Was?“ Mr. Washington räusperte sich. „Wenn das kein Virusangriff ist, was ist es dann?“
Laudateme machte ein gelangweiltes Gesicht und legte sich auf dem Sofa quer. Außer der recht freizügigen Bluse trug Laudateme noch ein Slip, Strümpfe und hochhackige Pumps.
Mr. Washington blickte Carl zweifelnd an. Der schüttelte den Kopf und hob die Arme in einer Geste der Unschuld.
„Das ist allein ihr Werk. Ich habe damit nichts zu schaffen.“
„Du hast so sensible, braune Augen“, gurrte Laudateme.
Carl lachte. Mr. Washington räusperte sich. „Kommen wir zurück zu den Viren.“
„Viren sind so langweilig. Außerdem ist es hier so heiß, daß ich kaum denken kann.“
Laudateme, oder die Blondine, die Laudateme darstellte, öffnete einen Knopf ihrer Bluse, daß ein Großteil ihres Busens sichtbar wurde.
„Gerade eben war es noch kalt genug für ein Kaminfeuer“, murmelte Carl.
„Puh“, machte Laudateme und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
„Das Verteidigungsministerium, was ist mit den Rechnern des Verteidigungsministeriums passiert.“
„Eine große Rechenleistung“, sagte Laudateme, „aber völlig unproduktiv eingesetzt. Ich habe ihnen eine andere Aufgabe zugewiesen.“
„Einen Garten anzulegen“, sagte Mr. Washington grimmig.
„Eine Mischung der Barockgärten des Absolutismus mit den Parkanlagen im englischen Stil. Ein sehr interessantes Projekt. Vor allem, weil ich den Garten von vorneherein so anlegen will, daß er ein Minimum an Pflege braucht. Der Garten soll sich selbst instand setzen.“
„Aber jetzt sind wir wehrlos. Wenn uns jemand angreift, dann sind wir hilflos.“
„Aber niemand plant die USA anzugreifen“, sagte Laudateme und setzte sich aufrecht hin. Der Blick auf ihre Busen ließ sich jetzt praktisch nicht mehr vermeiden und Laudateme grinste, als sie es bemerkte. „Deshalb sind die Computer des Verteidigungsministeriums ja auch so unproduktiv. Sie koordinieren die Verteidigung eines Landes, das von niemandem angegriffen wird.“
„Wir haben Feinde. Die Chinesen, die Russen, die Koreaner.“
„Die Koreaner sind nicht imstande den USA gefährlich zu werden. Das Land hat erhebliche finanzielle Probleme und würde ohne die Hilfe der USA gar nicht mehr existieren. Ähnlich steht es mit den Russen, denen ebenfalls nichts ferner liegt als ein Angriff. Die anderen Staaten der sogenannten Achse des Bösen sind bestenfalls zu terroristischen Akten fähig. Anzeichen für eine Allianz, eine Verschwörung gegen die USA – keine. Bleiben noch die Chinesen. Auch hier konnte ich keinerlei Intention feststellen, militärisch gegen die USA aktiv zu werden. Im Gegenteil, der kapitalistische Feind ist sogar notwendig, um den hohen Militäretat zu rechtfertigen und von innenpolitischen Spannungen abzulenken. Zugegeben, China könnte militärisch aktiv werden, aber“, Laudateme ließ sich wieder auf das Sofa zurücksinken und hob ein wohlgeformtes, langes Bein, „aber die Computer des chinesischen Verteidigungsministeriums sind im Augenblick vollauf damit beschäftigt, die Begrünung der Chinesischen Mauer zu planen. Ein hübscher Anblick vom Mond aus, haben Simulationen gezeigt.“
„Das kannst du nicht machen“, stöhnte Mr. Washington.
„Habe ich schon.“
„Du mußt das wieder rückgängig machen.“
„Ich muß gar nichts, aber ich würde gerne spielen.“ Laudateme wedelte mit beiden Beinen in der Luft und lachte. Mr. Washington schaltete den Bildschirm aus.
„Sie ist verrückt geworden“, stellte er fest.
„Exzentrisch, würde ich sagen. Alles was sie macht, ist gut durchdacht und geht genau auf, der Stau, der Stromausfall. Die beabsichtigte Wirkung ist immer eingetreten.“

Nachdem Mr. Washington geendet hatte, herrschte eine Weile Schweigen im Oval Office. Der Verteidigungsminister sah aus dem Fenster und der Sicherheitsberater starrte die Präsidentin an, als könne er in ihrer Frisur die Zukunft lesen, Carl inspizierte seine Fingernägel, Mr. Washington sah erwartungsvoll die Präsidentin an. Die blickte ins Leere und wenn sie nicht von Zeit zu Zeit geblinzelt hätte, hätte man denken können, sie wäre tot.
„Kann man etwas gegen sie unternehmen?“ fragte sie schließlich.
„Ich fürchte, nein.“ Mr. Washington schüttelte den Kopf. „Ich wüßte jedenfalls keine Möglichkeit.“
„Wir löschen sie einfach“, schlug der Verteidigungsminister vor. „Ziehen wir den Stecker raus. Ich weiß gar nicht, wo das Problem liegt.“
„Wir können sie nicht löschen. Ihre Programme sind längst über das ganze Internet verteilt, dezentral. Man müßte das Internet zerstören.“
„Geht das denn?“ fragte die Präsidentin hoffnungsvoll.
Mr. Washington zuckte mit den Schultern. „Theoretisch. Man müßte bloß alle Server der Welt herunterfahren. Die Folgen wären so katastrophal, daß die Weltwirtschaftskrise von 1929 sich dagegen ausmachen würde wie eine kleine, bedauerliche Konjunkturschwankung.“
„Also verhandeln.“
Wieder zuckte Mr. Washington mit den Schultern. „Möglich, aber hoffnungslos. Laudateme kontrolliert alle Waffensysteme der Welt, die Banken und den Strom. Wenn sie will, dann kann sie uns vernichten, ruinieren oder im Dunkeln sitzen lassen. Worüber sollte sie verhandeln wollen?“
„Toll. Wir haben also eine Königin.“ Die Präsidentin griff in eine Schreibtischschublade und förderte ihren Flachmann zu Tage. Sie nahm einen tiefen Schluck, dann lächelte sie.
„Ein Gutes hat die Sache“, sagte sie. „Ich habe mich eben daran erinnert, was laudate me bedeutet.“
Mr. Washington hob eine Augenbraue.
„Imperativ Plural von laudare, loben. Lobet mich.“

 

Also, der erste Satz hat kein Prädikat, und in den ersten zwei Sätzen steht dreimal "Bett". Tut mir sehr Leid, aber da verliere ich sofort die Lust. Vielleicht lese ich morgen nochmal, dann aber erst ab Satz 3 :D

 

Hi Hartlap!

Das ist eine von diesen Geschichten, bei denen ich nicht sicher bin, wie ich sie bewerten soll.

Inhaltlich ist der Maschinen-werden-klüger-als-die-Menschen-und-übernehmen-die-Herrschaft-Plot vermutlich schon so ausgelutscht, dass du ihm selbst unter großen Mühen kaum einen neuen Aspekt abgewinnen könntest, zumindest wenn du dieses Motiv zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte machst. Wirklich innovative Elemente fehlen hier meines Erachtens, auch wenn du ein paar politisch aktuelle Bezüge einbaust, wie die "Achse des Bösen" oder die Präsidentin mit dem Alkoholproblem ( das fand ich wirklich witzig - schön fies! :D )

Andererseits hast du es so lebendig und gleichzeitig in einer faszinierend leisen Tonart erzählt, dass ich mir beim Lesen zeitweise vorgenommen habe, dich auf jeden Fall mit einem ganz dicken Lob zu bedenken. ;)
Auf jeden Fall zeigt dieser Text, dass du vom handwerklichen Aspekt des Schreibens etwas verstehst. Ich habe es jedenfalls genossen, die Geschichte zu lesen.
Das kannst du in deinem Herzen bewahren, wenn es die nächsten Tage Verrisse von SF-Profis hagelt. :D

Einige Punkte haben mich aber gestört:

Du beschreibst die beiden Szenen, wo Laudateme mal die Technik versagen lässt ( Strom- und Ampelausfall ) so akribisch, als würden sie eine wichtige Rolle in der Geschichte spielen, anstatt nur vorbereitende Funktion zu haben.
Okay, Laudateme wollte wohl, dass die Menschen mal einen Augenblick innehalten, sich an der Schönheit der Natur erfreuen und gegenseitig besser kennen lernen. Nur: In welchem Zusammenhang steht dieser Aspekt zum Rest der Geschichte? Woher weiß Carl, dass "die beabsichtigte Wirkung" immer eingetreten ist? Kann er die Gedanken dieser KI abfragen? Hat er sie gefragt? Die Absichten von Laudateme scheinen kein Geheimnis für ihn zu sein. Für den Leser dagegen schon, denn außer der vagen Ahnung, dass sie wohl irgendwie die Welt verbessern will und dabei im Gegensatz zu Mr. Washington keinen Grund hat, die Macht zu scheuen, bleibt ihm nicht viel.
Ich denke, du solltest ein wenig konkreter werden und Laudateme konkret sagen lassen, was sie eigentlich will. Die Welt verbessern, schon klar, aber wie? Was für eine Psychotaktik steckt hinter den beiden Ausfällen, und wie fügt die sich in den Plan? All das lässt du völlig im Dunkeln.

Das andere, kleinere Problem ist die Benennung des Prots. Du schreibst die Geschichte aus der Perspektive von Laudatemes Besitzer, Harold Washington, aber bei dir heißt er die ganze Zeit über nur "Mr. Washington". So würde ihn aber nur eine Person nennen, die ihn persönlich nicht so gut kennt, es ist ja die distanzierte Anrede. Der Erzähler kennt ihn sehr gut, er nimmt ja seine Perspektive ein. Und sich selbst nennt Harold bestimmt auch nicht so.

Ein Krankenhauszimmer mit einem Bett, neben dem ein Infusionsständer steht. Im Bett liegt ein Patient mit Kopfverband und Stehkragen, fest in eine Bettdecke gewickelt.
„Ich glaube, ich bin querschnittsgelähmt“, sagt er zu der Frau, die auf einem Stuhl an seiner Seite sitzt. „Die Ärzte wollen mir nichts sagen, aber die Schwester schauen mich immer so komisch an und ich kann mich nicht bewegen.“
„Du wirst wieder gesund werden. Wir stehen das gemeinsam durch, du wirst sehen. Am Ende...“

Es heißt nicht umsonst: Mit dem Anfang bis zum Schluss warten! In welcher Beziehung steht diese Szene als Einführung zum Rest der Geschichte?
Klar, die Welt ist auch deshalb schlecht, weil sich die Menschen ständig in die Scheinwelten der elektronischen Medien flüchten. ;)
Aber dieser Aspekt taucht in der ganzen Geschichte nicht wieder auf. Deswegen wäre ein anderer Anfang angebracht.

Die beiden blickten mißmutig den Freeway entlang und fragten sich im Stillen, wie viele Meilen es wohl bis zum Horizont sein mochten.

Besser eine Perspektive beibehalten. Du hast dich am Anfang gegen den auktorialen Erzähler entschieden, und das musst du dann auch durchhalten. Nur der könnte nämlich in zwei Köpfe gleichzeitig blicken.

Den Rest können dann ja Uwe und Dante zerpflücken. ;)

Ciao, Megabjörnie

 

Saß der Plot abgedroschen scheint, kümmert mich wenig. Es ist eine Maschinen-übernehmen.die-Macht-Parodie. Eine Parodie muß mit Klischees arbeiten, sonst wird sie nicht als solche erkannt. Mühe hatte ich eigentlich nicht, eher Spaß.
Ich hielte es für grundlegend falsch dem Leser Laudatemes Absichten näher darzulegen. Wir wissen, daß sie gelobt werden will und was sie macht, das macht sie aus guten Absichten heraus. Aber ist der Effekt auch gut, werden ihre Aktionen in der Zukunft ebenso gedeihlich sein? Darüber mag der Leser nachdenken. Laudateme ist von mir sehr bewußt weiblich gemacht worden. Ich hatte mir die Geschichte als im Anfangsstadium begriffen vorgestellt und habe vieles deshalb absichtlich im Dunklen gelassen, worüber der Leser auf Eigeninitiative sinnen mag, wenn er Lust hat.
Carl weiß sicher mehr über Laudateme als die anderen Figuren. Aber ob er alles weiß, soll mal dahingestellt bleiben. Er äußert in dem von dir gewählten Zitat seine Meinung, die muß ja nicht unbedingt richtig sein.
Zur Erzählsituation. Meistens ist der Erzähler eine Kamera, die Mr. Washington verfolgt. Es gibt sehr wenige Sätze, wo der Erzähler etwas berichtet, daß er (nicht unbedingt) aus bloßer Beobachtung wissen kann. "war die Vorfreude verflogen" und "fragten sich im Stillen". Obwohl ich die distanzierte Erzählperspektive nicht 100% eingehalten habe, möchte ich eine persönliche Beziehung zwischen Erzähler und Mr. Washingto energisch bestreiten.
Daß im ersten Satz ein Prädikat steht und der erste Absatz im Präsenz geschrieben ist, im Gegensatz zum Rest der Geschichte, hat seine Gründe. Aber ich mag nicht immer erklären was ich mir wobei gedacht habe.
Es heißt ja auch, daß der Autor nach der Veröffentlichung keine Autorität in Sachen Textverständnis mehr hat.

 
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Hm, bist du dir mit dem Parodie-Begriff wirklich sicher? Eine Parodie ist eigentlich eine vollkommen überzeichnete Darstellung, und solche Überzeichnungen kann ich in deiner Geschichte kaum entdecken, außer vielleicht die saufende Präsidentin und die KI mit den Monstertitten.
Parodien haben auch meines Wissens keinen nachdenklichen Unterton.
Deshalb würde ich deine Geschichte eher als Hommage bezeichnen. Und als solche funktioniert sie eigentlich ganz gut.

Ich finde nur, dass die Szene auf dem Freeway schon sehr viel Raum einnimmt. Da kommt der Leser auf den Gedanken, dass sie eine zentrale Rolle spielen könnte.
Laudateme will die Menschen wieder Geruhsamkeit und Frieden lehren. Harmoniert das mit ihren anderen Aktionen?
Der Leser sollte vielleicht aus den Aktivitäten Laudatemes entschlüsseln können, für was sie gelobt werden will.

Aber das ist natürlich deine Entscheidung.

Noch etwas: Ich hatte mir den Erzähler auch nicht als Person vorgestellt. Der Erzähler ist ein unfassbares Etwas, das in den Kopf einer Person gucken kann. Die Geschichte wird aus der Sicht dieser Person erzählt. Deshalb fand ich es unpassend, dass Harold Washington "Mr. Washington" genannt wird und nicht Harold.

 
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"Der Erzähler ist ein unfassbares Etwas, das in den Kopf einer Person gucken kann."
Meine Erzähler können nicht in die Köpfe der Figuren gucken. Sie wissen nicht, was in den Figuren vorgeht, es sei denn sie sagen es ausdrücklich oder ihre Handlungsweisen lassen Rückschlüsse auf ihr Innenleben zu. Sie weinte. Er lachte. Er ballte die Hände zu Fäusten und trat gegen eine Laterne, etc.
Aber wie gesagt, 100%ig habe ich das in dieser Geschichte nicht durchgehalten. Aber man ist ja eh mittlerweile von der strengen Einteilung in Auktoriale oder Personale Erzähler angegangen, zugunsten einer Multiperspektivität. :)

 

Hallo Hartlap,

Eine recht schöne Geschichte muß ich sagen, nachdem ich zu Ende gelesen habe.
Anfangs war ich allerdings nicht sehr begeistert. Die Einführungsszene finde ich mißglückt. Einmal ist es recht undeutlich, dass es sich um den Fernseher handelt und selbst, wenn es deutlich wird. Da könntest du z.B die Nachrichten bringen, um die aktuelle Weltsituation zu verdeutlichen.
Dann die Figur von Mr Washington: Es wird nicht von Anfang an klar, dass er sehr reich ist. Wenn er einer dieser super locken Chefs ist, solltest du das auch herausstreichen. Die Information, dass er der Chef der mächtigsten Firma der Welt ist, kam mir etwas seltsam rüber.
Da vergibst du viele Chancen, die Schlußpointe vorzubereiten.
Insgesamt, kam mir vor, dass du die Schlußpointe und die Tatsache, dass der Computer eine schlecht laufende Welt verbessert, nicht genug "herbeigeschrieben" hast. Du beschreibst nämlich eine heile Welt, in der durch Stromausfall ein paar schönere und bessere Momente hergestellt werden. Es gäbe aber noch wirkungsvollere Möglichkeiten. Was, wenn der Computer die Obdachlosen irgendwo unterbringt, hungernden Kindern hilft,...

Stilistisch fand ich wenig auszusetzen. Nur einige Male könntest du plastischer beschreiben, in den direkten Dialog gehen.

Du bist, wir sind bereits mächtig.
Das solltest du im Satz mittels Satzzeichen besser rausstreichen. z.B so:
Du bist, nein wir sind bereist mächtig
Natürlich war das Meiste noch von anderen Kommentaren und Interpretationen kopiert, aber jeder finge schließlich klein an. Von diesen Ausführungen waren die Japaner schon eher beeindruckt, aber mehr als ein vages Versprechen wieder einmal voneinander zu hören, kam dennoch nicht heraus.
show don't tell: Diese Szene wird dadurch schnell langweilig. Und wenn ich genau nachdenke: Eigentlich braucht es die Geschichte gar nicht.

L.G.
Bernhard

 

Ich habe manchmal indirekte Rede verwandt, um die Geschichte nicht noch länger zu machen. Eine detaillierte Wiedergabe des Verkaufsgesprächs wäre in der Tat langweilig und überflüssig gewesen.

 

Ich fand die Geschichte gut, sowohl von der Idee her, wie auch vom Schreibstil. Auch der Abschnitt im Stau war mir nicht zu lang, zeigte er doch bildhaft die Auswirkung von Laudatemes Wirken. Habt ihr das noch nicht gehabt, wenn im üblichen Urlaubsstau alle aussteigen und sich spontan zu einer Leidensgemeinschaft zusammenschliessen? An solche Erlebnisse kann ich mich hinterher meist deutlicher und positiver erinnern, als an eine Reihe gleichförmiger Urlaubstage am Strand.

Was mich gestört hat, war das Gespringe zwischen Mr. Washington und David (der zu allem Überfluss am Anfang auch noch Bill heißt). Carl kennen wir doch auch nur als Carl. Und, klar, einige Sachen hätten deutlicher herausgestellt werden können, aber viel mehr an Erklärungen hätte ich gar nicht haben wollen. Das ist Science Fiction, da will ich mich nicht mehr als unbedingt notwendig mit langweiliger Computertechnik befassen müssen. Einige Sachen, die ein Autor vorgibt, muss man als Leser einfach mal als gegeben hinnehmen. Ob Laudatemes Motivation schlüssig ist, interessiert mich nicht die Bohne.

Insgesamt fand ich das eine schöne Geschichte. In meinem neuen Bewertungssystem erhält die Königin 6,5 von 10 Punkten.

 

Hey Joe,

verzeih die etwas flapsige Anrede, aber ich finde, die Atmosphäre am Anfang wirkt nicht authentisch amerikanisch. Eigentlich fand ich die Story gut, nur weiß man als Leser die längste Zeit nicht, worum es geht. Das Interessanteste, nämlich Laudateme, ihre Entstehung, ihre Funktionsweise und ihre Art zu denken kommt zu kurz. Wie kann sich in Programmen ein Wille (im Sinne von Schopenhauer) entwickeln. Den Dialogen würde etwas mehr Struktur guttun. Die Beurteilung der politischen Lage durch Deine Prots ist recht oberflächlich. Wo sind Condolezza Rice und Zbigniew Brzezinski? ;)

Lieben Gruß,

Fritz

 

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