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Die Kaverne
Mein Weg führte mich in den mexikanischen Dschungel, um für ein Buch zu recherchieren, das nie geschrieben werden würde.
»Wie weit ist, es denn noch bis zu diesem Wasserloch?«, fragte Sam.
»Die Cenote kann nicht mehr weit sein.«, erwiderte ich und zog den PDA mit GPS-Empfänger aus meiner Tasche. »Eine halbe Meile, um genau zu sein.«
»Aha«, sagte Sam und stöhnte.
Seit über einer Stunde prasselte tropischer Regen auf unsere Köpfe und Samantha war entsprechend genervt. Eigentlich wusste ich nicht, warum sie mich begleiten wollte. Um ehrlich zu sein, ich wollte sie nicht einmal mitnehmen. Schließlich hatten wir uns erst am Vorabend in einer Bar kennengelernt. Das Einzige was uns verband, war der darauf folgende One-Night-Stand auf dem Hotelflur. Als ich ihr jedoch später von meinen Plänen erzählt hatte, war sie Feuer und Flamme gewesen. Vielleicht hatte sie sich vorgestellt, wie ich es ihr noch einmal ordentlich unter einem der Dschungelbäume besorgen würde. Andererseits war es vielleicht auch nur ihr Drang etwas Spannendes in ihrem Urlaub zu erleben. Jedenfalls war ich zu verweichlicht, um mit Nein zu antworten. In den vergangenen Stunden hatte ich mir immer stärker gewünscht, so etwas wie Courage zu besitzen. Da Sam mich hart auf die Probe stellte.
Als wir die Cenote erreichten waren wir seit drei Stunden unterwegs, davon hatten wir lediglich die Erste in einem gemieteten Landrover verbracht. Als wir dann unseren Fußmarsch angetreten hatten, fing Sam an zu jammern.
»Wie lange noch?«, ächzte sie.
»Es dauert noch. Soll ich dich zurückfahren?«
»Ach Unsinn, Schatzi.«
Schatzi?
Ich entschied mich vergebens, Sam eine Zeit lang nicht mehr zu antworten. Zwischendurch erzählte sie mir, wie viele Träger-Tops sie eingepackt hatte und das ihre Wanderstiefel von irgendeinem Designer waren. Es schien ein Fehler zu sein, trotzdem nickte ich pflichtschuldig. Nach einer halben Stunde besann sie sich jedoch und begann wieder mit den Beschwerden.
»Diese verdammten Moskitos. Bestimmt bekomme ich Aids oder so was.«
Sam zog eine Dose Insektenspray aus dem Rucksack und nebelte sich damit ein. Wenig später kam ihr dann das Wetter zu Hilfe und es begann, zu regnen. Das machte es natürlich nicht besser.
»Warum regnet es hier ohne Ende? Das ist doch zum Kotzen.«
Es gibt Menschen die nennen das Regenwald.
»Ich bekomme hier kaum Luft.«
Dann erstick doch.
So ging es bis zu unserer Ankunft weiter.
Als wir die Cenote erreichten, tropfte es nur noch von den Blättern und der verhangene Himmel klärte sich langsam auf. Sam blickte den felsigen Abhang hinunter und sah mich daraufhin an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Oder eher, als wüsste ich nicht einmal, wie man eine Tasse benutzt.
»Deswegen sind wir stundenlang unterwegs?«, fragte sie. »Ich dachte, dass du mir wenigstens etwas zeigst, das von den Maya gebaut wurde. So einen Tümpel kann ich mir überall ansehen.«
»Nicht wirklich. Diese Tümpel gibt es nur auf Yucatán, sie sind durch einen Meteoriteneinschlag entstanden. Um genau zu sein, der durch den die Dinosaurier ausgelöscht wurden.«
»Ach wie interessant«, versetzte Sam sarkastisch.
Mehr als ein Schulterzucken brachte ich nicht zustande. Ich trat einen Schritt nach vorn auf den felsigem Untergrund und blickte in das Dickicht des Dschungels, der kreisförmig um die Cenote wucherte. Steinbrocken in allen erdenklichen Größen stapelten sich trichterförmig um das Karstgewässer. Etwa zehn Meter unter uns lag erst die eigentliche Quelle.
Es war ein unwegsamer Abstieg. Kleine Hecken wuchsen in den Ritzen der Kalksteinfelsen und bildeten im Gesamten eine riesige Fläche kleiner Dornen. Die Büsche verwehrten einem zusätzlich den richtigen Blick auf die Felsbrocken, sodass man den Eindruck hatte, jeden Moment falsch zu treten und sich den Schädel aufzuschlagen. Wir schafften es dennoch relativ schnell hinab um darauf, zu den weit über uns liegenden Kiefern zu starren. Man sah, wie sich die letzten Wolken verzogen. Nach der langen Wanderung im Regen glühte nun die Sonne und verbrannte uns die freiliegende Haut.
Das klare Wasser der Cenote schien für mich die beste Alternative zu sein. Natürlich wusste ich, dass dieser Tümpel weithin unbekannt war, da die bei Tauchern und Touristen beliebten Cenoten Meilen von uns entfernt lagen. Die Aussicht hüllenlos erwischt zu werden war also gering.
»Wollen wir nicht baden gehen?«
»In diesem Loch? Da gibt es doch bestimmt jede Menge ekelhaftes Viehzeug. Hast du nicht von diesen Fischen gehört, die sich in deinem Schwanz verbeißen?«, entgegnete sie angewidert, und doch glaubte ich ein höhnisches Zucken in ihrem Mundwinkel gesehen, zu haben.
»Da mache ich mir weniger Sorgen. Hast du keine Badesachen dabei?«, fragte ich gespielt. Ich hatte Sam nicht gesagt, dass sie diese möglicherweise gebrauchen könnte. Sie hätte schließlich auch selbst darauf kommen können.
»Nein. Wäre freundlich gewesen, wenn du etwas erwähnt hättest.«
»Gestern warst du auch nicht so Prüde«, erwiderte ich grinsend.
Sie sah mich an als wollte sie mir gleich eine Ohrfeige verpassen. Doch in ihrem Blick versteckte sich eine verschlagene Nuance, etwas das sagte: Okay, dann fick mich da unten im Wasser.
Ich gebe zu, diese Vorstellung war für einen Moment verlockend. Aber ich besann mich und lenkte in Gedanken ein. Schließlich war ihr Gehabe immer noch enervierend genug.
»Gut«, sagte sie, »du hast recht. Lass uns schwimmen.«
Wir entkleideten unsere vom Marsch geschundenen Körper und standen völlig nackt auf dem Felsenweg, der wenige Meter um die Cenote verlief. Gestern Abend war ich wohl etwas zu angeheitert gewesen, um es wirklich zu bemerken. Denn erst jetzt realisierte ich wie verdammt gut sie aussah. Es war einer dieser Momente, der einen kurz von der Wirklichkeit entfernte. Mich vergessen ließ, wie nervenaufreibend Samantha wirklich war. In meinen Ohren wurde der Dschungel unerwartet lebendig. Es drangen seltsame Schreie an meine Ohren, lautes und leises Zirpen und mehr als fremd klingendes Vogelgezwitscher. Unerwartet viele Düfte strömten auf meine Nase ein: Schweiß, Parfüm, Blumen, Bäume, Erde, Wasser.
Samantha blickte an meinem nackten Körper hinab und ächzte das künstlichste Stöhnen, das mir jemals zu Ohren gekommen war. »Ich wusste gar nicht mehr was für einen riesen Schwanz du hast.«
Die Realität hatte mich schlagartig zurück. Wäre ich betrunken gewesen, hätte mich dieser Spruch vielleicht angemacht. So fragte ich mich lediglich, warum sie es dann so schnell vergessen hatte.
Einige Sekunden später wandte sich Sam zu der Cenote. Obwohl sie bis vor Kurzem so angewidert getan hatte, rannte sie nun auf die Quelle zu und sprang, mit ausgestreckten Armen voran, in das lauwarme Wasser. Am Rand der Cenote hing an alten, angerosteten Metallbolzen eine Strickleiter. Ihre Seile hatten augenscheinlich einigen Jahren getrotzt. Ich überlegte daran hinunterzuklettern, entschied mich jedoch für den Sprung in das fünf Meter unter mir liegende Wasser.
Sam schrie laut auf.
Zuerst dachte ich, mein Sprung hätte sie zu Tode erschreckt, es dauerte jedoch nur wenige Augenblicke bis mich meine Urlaubsbekanntschaft darüber in Kenntnis setzte was sie so geängstigt hatte.
»Ein Schädel. Da liegt ein Schädel im Wasser«, keuchte Sam, und schwamm davon, als wäre sie von einer Wasserschlange gebissen worden.
»Ach so.«, ich nickte verständnisvoll, während mir Süßwasser über mein Gesicht perlte. »Der ist uralt. Die Maya haben früher in diesen Cenoten geopfert. Für sie waren es heilige Quellen.«
»Was? Was?«, schrie sie. »Und darin lässt du mich schwimmen? Du bist doch krank und widerlich.«
Während sich Sam weiter über meinen Geisteszustand ausließ, schwamm ich weiter auf der Stelle und hörte mir geduldig ihre Ausführungen an. Nach kurzer Zeit verklangen ihre Beschimpfungen und Sam sah mich nur noch wütend an.
»Es tut mir leid. Ich hätte es dir erzählen können.« Wenn du nicht stundenlang gejammert hättest.
»Ja. Also ist der Schädel wirklich alt?«, fragte Sam nun unsicher.
»Glaub mir. In dieser Cenote ist seit Jahrhunderten kein toter Körper mehr geschwommen.«
Nun sah sie mich nachgiebig an und lächelte. »Na gut. Aber wenn es noch mehr Überraschungen gibt, dann solltest du mir das jetzt erzählen.«
Zu freundlich. »Außer ein paar Knochen und Tonscherben wirst du hier sicherlich nichts finden.«
Während ich mehrere Runden durch die Cenote drehte, beschäftigte sich meine Urlaubsbekanntschaft mit dem betrachten ihres Spiegelbildes im Wasser. Mir wurde das dauernde Umkreisen von Sam schnell zu monoton. Nach Kurzem überlegen entschied ich mich, meine Taucherbrille aufzusetzen um mir die heilige Quelle unter der schimmernden Oberfläche anzusehen.
Vor vier Wochen hatte mir Sanchez (der laut eigenen Aussagen von den Maya abstammte), während meiner Recherchen, von diesem Ort erzählt. Mit seiner Hilfe gelangte ich das erste Mal zu dieser Cenote und speicherte die GPS-Daten. Der alte Mann wedelte mit einer Landkarte vor meiner Nase, die gut und gerne sechzig Jahre alt sein mochte. Zumindest machte sie diesen Eindruck. Mit ausufernden spanischen Phrasen beteuerte Sanchez die Karte sei noch viel älter als sie wirkte und ich könnte dieses Stück Geschichte für nur fünfzig Dollar haben. Auch wenn ich nur die Hälfte verstanden hatte, willigte ich schlussendlich ein und gab ihm den geforderten Betrag. Schließlich glaubte ich damals wie heute an meine Geschichte. Mein erstes Buch sollte ein richtiger Knüller werden, nicht irgendein lahmer Regionalkrimi. Der Drang Erfahrungen in meinem Leben zu sammeln, und nicht lahm in meinem Administratorenbüro zu versauern, hatte mich schon in einige Länder verschlagen. In meinem Job hatte ich genug Zeit mich mit Büchern zu beschäftigen und irgendwann hatte ich mich auch im Schreiben versucht. Nun hoffte ich diesen Abenteuertrieb mit meinem Hobby, zu verbinden.
Als ich mit Sam zu der Cenote ging, war ich zum dritten Mal dort. Während meines ersten Besuchs hatte ich Bedenken und war nicht darin geschwommen. Der zweite Ausflug verlief anders. Ich schaute stundenlang auf das Gewässer, machte mir Notizen und überwand meine Zweifel. Das klare, lauwarme Wasser der Cenote schien nur auf mich gewartet zu haben und ich verbrachte fast drei Stunden darin. Als ich aus dem Wasser stieg, entschied ich mich, für das nächste Mal eine Schnorchelausrüstung zu kaufen.
Was ich nun auf meinem Tauchgang entdeckte, war eigentlich nicht einmal etwas Besonderes. Schließlich hatte ich vor meinen Exkursionen bereits einiges über Cenoten erfahren. Die meisten Experten und Einheimischen unterhielten sich mit mir und waren fast überraschend auskunftsfreudig.
Dennoch erstaunte mich der Höhleneingang, denn ich schwamm auf einen nahezu kreisrunden Tunnel in der Kalksteinwand zu.
Fast hätte ich mich dafür verflucht keine Tauchausrüstung dabeizuhaben. Natürlich hatte ich überhaupt keine Qualifikation in Höhlen zu tauchen, geschweige denn einen Tauchschein. Aber in solchen Momenten denkt man nicht unbedingt an solch entscheidende Tatsachen. Man wünscht einfach es wäre so.
Ich tauchte kurz auf und sah mich nach Sam um. Sie war an der Strickleiter hochgeklettert und trank stilles Wasser aus meiner Flasche.
»Ich komme gleich«, rief sie mir zu.
»Da unten ist, eine Höhle«, erwiderte ich. »Ich würde mal gern einen Blick hineinwerfen.«
»Ohne Tauchzeug?«
»Nur einen kurzen Blick, ich will nicht weit hinein«, argumentierte ich.
»Wie du meinst«, entgegnete sie und schob mein Wasser in ihren Rucksack. Ganz offensichtlich war meine Flasche Pascual in Sams Besitz übergegangen.
Ich bat sie die Taucherlampe hinunterzuwerfen. Fast hätte sie mich damit am Kopf getroffen. Kopfschüttelnd sah ich zu meiner Begleiterin hinauf. Sams schmallippiges Grinsen verriet, dass sie die Lampe nicht ganz unabsichtlich in diese Richtung geworfen hatte.
Während ich untertauchte, hörte ich ihren Aufschlag auf dem Wasser und wie die Wellen über meinen Kopf hinweg schwappten. Vorsichtig kraulte ich bis vor die Höhle und schaltete das Licht ein.
Soweit ich sehen konnte, stieg dieser direkt hinter der Öffnung steil an und endete in einem luftgefüllten Hohlraum. Ich war wirklich verblüfft, da ich auf keinem Bild und in keinem Film gesehen hatte, dass diese Höhlen nicht über die gesamte Länge unter Wasser lagen. Zwar wurde ich während meiner Recherchen darüber aufgeklärt, dass diese Höhlensysteme nicht immer unter Wasser gestanden hatten, doch dies traf nicht auf die heutige Zeit zu und schon gar nicht auf ein Phänomen wie dieses.
Ich schwamm zurück zur Oberfläche der Cenote und hielt erneut Ausschau nach Sam. Sie kraulte wenige Meter von mir entfernt an der Strickleiter vorbei.
»Du wirst es nicht glauben«, rief ich ihr zu. Meine Begeisterung war sicherlich herauszuhören gewesen, Sam schien davon jedoch nichts, zu merken.
»Hast du Tonscherben gefunden? Vielleicht eine Blümchenvase?«
»Was?«, im ersten Augenblick verwirrte mich ihr spöttisches Desinteresse. »Nein. Die Höhle liegt nicht unter Wasser.«
»Wie soll das denn gehen? Du bist doch zu ihr getaucht.«
Diesmal klang Sam überrascht und ihr plötzliches Interesse verwunderte mich umso mehr.
»Der Tunnel steigt an«, antwortete ich. »Sieht so aus als würde er nur am Anfang unter Wasser stehen.«
»Und unser kleiner Abenteurer will in die Höhle. Habe ich recht?«, fragte sie nun wieder höhnisch.
»Ja, der kleine Abenteurer hatte so etwas vor«, erwiderte ich, und überlegte, ob ein gezielter Wurf mit der Taucherlampe sinnvoll wäre.
Ich entschied mich gegen die Attacke und diskutierte mit Sam über unser weiteres Vorgehen. Sie wollte mitkommen. Außerdem beschlossen wir uns etwas überzuziehen.
Überraschenderweise wirkte Sam auf einmal sehr interessiert. Obwohl mir ihre Motivation, mir in den Dschungel zu folgen, völlig unklar war, schien in ihren Augen die Abenteuerlust aufgelodert.
Schließlich kletterte ich vor Sam hoch auf den Felsenweg und gab ihr aus meinem Rucksack eine zweite Taucherbrille. Danach sprangen wir beide mit Anlauf in das Wasser und Sam tauchte hinter mir her.
Während ich in die Höhle glitt, pochte mein Herz wie ein ungebändigter Motor, der mich schnell vorantreiben wollte.
Es dauerte wohl nicht mal eine halbe Minute, bis wir den kreisrunden Tunnel durchquert hatten und unsere Köpfe in die abgestandene Luft der Höhle streckten.
Sam hielt sich die Nase zu. »Igitt. Hier stinkt es ja widerlich.«
Ausnahmsweise hatte sie recht.
Ein stark süßlicher und doch fauliger Gestank schwängerte die dunkle Welt um uns herum. Die dicke, stinkende Luft war unangenehm, doch sie störte mich nicht weiter. Meine Aufregung war viel zu groß, um vom Moder der Jahrhunderte abgeschreckt zu werden. Also konzentrierte ich mich auf die Höhle. Das Leuchten meiner Taucherlampe durchbrach die fast geformt wirkende Schwärze, während mir augenblicklich der Atem stockte. Auf der Höhlendecke prangte ein in Stein gemeißeltes Gesicht. Das aufgerissene Maul sah bedrohlich aus. Die gewaltigen Zähne machten den Eindruck als wollten sie uns jeden Moment aufspießen. Es sah aus als habe der Gott die haarlose Schnauze einer Fledermaus und runde, fleischig wirkende Ohren. Seine riesigen Pupillen starrten uns an. Eigentlich konnte es nichts anderes als eine Maya-Gottheit sein.
»Heilige Scheiße«, stieß Sam hervor. Ihre Worte sprangen in wilden Echos von einer Kalksteinwand zur anderen und mischten sich mit dem fremden Klang der Isolation.
Mir hatte dieser Anblick die Sprache verschlagen. Wie gelähmt starrte ich hinauf an die Decke und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Es schien mir unmöglich, dass niemand vor uns dieses Geheimnis gelüftet haben könnte.
»Gib mal her«, sagte Sam forsch und riss mir währenddessen die Taucherlampe aus den Händen.
»Was soll …«, ich kam nicht mehr dazu mich, zu beschweren.
Der gelbliche Schein erleuchte einen Bereich voller Glyphen. Ich betrachtete die Unmengen alter Texte und mir wurde etwas bewusst: Was auch immer sie bedeuten mochten, niemand konnte sie heute richtig entziffern.
»Komm schon. Dort können wir hochgehen. Sieht aus wie eine Plattform«, sagte Sam und zog mich am Oberarm durch das hüfthohe Wasser.
Als wir das völlig ebene Plateau betraten, brachte mich die drückend schwüle Hitze sofort zum Schwitzen. Mit meinem Schweiß mischten sich die dicken Tropfen Kondenswasser, die von der Decke auf uns fielen. Wir standen mittig in der Höhle. Der Steinboden war im Gegensatz zu der Luft überraschend kühl, brachte aber dennoch wenig Erleichterung.
Eigentlich wirkte hier nichts natürlich, es war eine künstliche Höhle, eine Kaverne. Alles erinnerte an das Innere eines Tempels, in dem einem Gott gehuldigt wurde, den die Menschheit längst vergessen hatte. Was das auch immer für ein Heiliger gewesen sein mochte, der die Maya dazu getrieben hatte dieses Kunstwerk aus dem gräulichen Gestein zu meißeln. Er musste etwas Bedeutendes gewesen sein.
Mein Blick schweifte weiter über das Gestein. Die Höhle hatte im Inneren die Ausmaße einer Kirche und war bis auf wenige Zentimeter mit grausamen Darstellungen des Gottes bedeckt, auf denen er Gehirne und Herzen fraß. Eine Gänsehaut machte sich breit und ich war froh nicht als Maya gelebt, zu haben. Der Lichtstrahl fiel auf das Ende des Felsendoms. Dort befand sich eine Art Opfernische, in deren Mitte ein Maya-Kalender gehauen war. Darunter lagen unzählige Schädel. Seitlich davon befanden sich zwei bogenförmige Stollen, die mein Herz für einen Augenaufschlag zum Stillstand brachten. Ich fragte mich, wohin sie führen mochten.
Sam schwang das Licht wieder über die Gottheiten, die uns plastisch von allen vier Wänden angrinsten.
»Weißt du was das bedeutet?«, ihre Stimme zitterte.
»Wie meinst du das?«
Als sie den Kopf zu mir drehte, sah ich ihren verständnislosen Blick. Sam war nun scheinbar endgültig zu dem Schluss gekommen, dass mein Verstand irgendwann ausgesetzt hatte.
»Wir sind reich«, sagte Sam und grinste.
»Das ist nur ein Haufen alter Steine. Ein archäologischer Wert vielleicht, aber …«
Ihre Stirn legte sich in Falten. »Du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
Nun gut, sie hatte mich unterbrochen. Aber wenigstens bestätigte sie jetzt meine Vermutungen. Offensichtlich hielt sie mich für leicht verblödet. In diesem Moment dachte ich nur: Warte ab, bis ich meinen ersten Bestseller geschrieben habe. Damit mache ich mehr Kohle als du mit ein paar Brocken Gestein.
»Schau dir die Augen an«, sagte Sam und wedelte wild mit der Lampe.
Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, was Sam meinte. Ich muss gestehen, dass ich mir im ersten Augenblick wie der fleischgewordene Indiana Jones vorkam. Was Sam und ich nun anstarrten, waren die goldenen Pupillen der Gottheiten, allesamt in der Größe von Medizinbällen.
Wie viel Geld bekam man wohl für diese zehn goldenen Kugeln?
Ich schluckte und merkte, wie stark mein Hals ausgetrocknet war. Mit vorsichtigen Schritten trat ich an den rechten Stollen. Sam gesellte sich zu mir und leuchtete hinein. Der Strahl verlor sich jedoch im Dunkel und wir sahen nichts außer völlig glatten Wänden. Wenn sich bereits hier oben solche unermesslichen Schätze versteckten, was mochte dann erst dort unten verborgen sein?
»Wollen … wollen wir dort hinunter?«, stammelte ich.
Plötzlich erstarb der Lichtstrahl.
Adrenalin schoss durch meinen Körper und ich hatte das Gefühl etwas Lauerndes zu spüren. Ein leises Klacken prallte von Wand zu Wand.
»Sam?«
Keine Antwort. Nur Stoff raschelte leise.
Etwas rollte mit Unwucht über den Boden, direkt auf mich zu; es waren die Totenköpfe. Erschaudert trat ich einen Schritt zurück, doch sie schlugen gegen meine Schuhe, kullerten an mir vorbei.
»Saaam!«
Ein Schaben kratzte vor mir über den Boden.
Dann erhellte die Taschenlampe wieder das Innere der Kaverne. Sam bückte sich vor die Opfernische und stützte sich dabei an der Wand ab. Sie streckte mir ihren nackten Hintern entgegen.
»Zur Feier unserer Entdeckung musst du mich mal richtig ficken«, forderte sie.
Wahrscheinlich lag es an meiner Erleichterung, denn ich muss gestehen, dass ich augenblicklich eine ziemlich harte Erektion bekam. Bevor der Nachklang ihrer Stimme verstummte, war ich dabei meine Hose herunterzuziehen.
Plötzlich erklang ein dröhnender Laut, wie das Brüllen eines Dinosauriers in Surround-Sound. Was schließlich auf Sams Körper landete, wäre wohl besser ein Velociraptor á la Jurassic-Park gewesen.
Nun stand ich da, mit heruntergelassener Hose und meinem schrumpfenden Glied, während dieses Ding eine Art Zunge herausfuhr. Die Kreatur war gut einen Meter fünfzig groß. Ihre Haut war weiß und voll wulstiger Falten. Dicke, muskulöse Oberschenkel mit langen klauenbesetzten Füßen, krallten sich an Sams Körper fest. Die Arme der Kreatur wirkten dagegen fast filigran und an den kleinen Händen zuckten sechs Finger, die fast doppelt so lang sein mussten wie meine. Ich brauchte die Fratze nicht lange zu betrachten – nackte Fledermausschnauze, gebleckte Zähne, runde Ohren – um die erschreckende Ähnlichkeit mit den steinernen Fratzen zu erkennen.
Die Zunge des Untiers umschloss Sams Kopf bis hinunter zu ihrem Hals. Wie ein Mund hatte sie sich in der Mitte aufgetan, fast als sei sie eine Schlange, die ihre viel zu große Beute verschlucken wollte. Sams Körper zitterte spastisch. Die Kreatur saugte an Sams Kopf, als sei die gelbliche Zunge der Rüssel eines Moskitos. Klare Flüssigkeit tropfte an Sams nackten Körper hinab und vermischte sich allmählich mit Blut, man sah wie das Untier klumpige Brocken in seinen Schlund saugte. Ich blickte mit geweiteten Augen auf die absurde Szene und fühlte mich nicht imstande zu handeln.
Dann entdeckte ich vier weitere Kreaturen, die von den Wänden hinabkletterten. Sie waren allesamt kleiner als das Vieh, dass sich Sams Gehirn einverleibte.
Eine der Bestien sah mich direkt an. Seine Pupillen weiteten sich und leuchteten in glänzendem Gold. Ich wollte einen Schritt zurücktreten, doch meine heruntergelassene Hose ließ mich nach hinten stürzen. Meine Arme kreisten durch die Luft, bevor ich hart auf meinem rechten Hüftknochen landete. Der darauf folgende Schrei ließ alle Bestien zu mir sehen. Die Kreatur, die immer noch an Sams Kopf saugte, riss meine Urlaubsbekanntschaft zu Boden. Ihr ganzer Körper schien von dem Untier nur mit Kraft seiner Zunge hinter ihm hergezogen zu werden, als es in atemberaubender Geschwindigkeit auf mich zuraste.
Dieser Anblick widerte mich so sehr an, dass ich mich auf meine Hose übergab. Die Bestie hielte inne als sei sie angeekelt von meinem Erbrochenen und fuhr den langen klebrigen Muskel ein. Nur noch ein dicker roter Ball baumelte vor dem Maul. Ich spähte zwischen den Beinen der Bestie hindurch und entdecke Sams kopflosen Körper. Langsam lief eine schwarze Flüssigkeit aus ihrem Hals. Unterdessen stürzten sich die anderen Kreaturen auf den leblosen Körper von Sam. Noch während ich glaubte, die Bestien würden den Rest ihres Körpers in winzige Stücke reißen, fingen sie an auf ihr zu springen als sei sie ein Trampolin. Es hörte sich fast an als würden die Kreaturen dabei Lachen. Der Anblick ließ mich erstarren, denn es schien für sie ein Spaß zu sein Sams Brustkorb brechen zu hören.
Merkwürdiger als das, was diese Kreaturen taten war, was dieser Anblick in meinem Kopf auslöste. Ich dachte an die Gummibärenbande und wie die pelzigen Freunde durch den Wald hüpften.
Ein schmatzendes Geräusch löste mich jedoch aus meinen seltsamen Gedanken.
Die große Kreatur spuckte mir einen Schädel entgegen. Sams Schädel.
In meiner neu aufwallenden Panik fing ich das knöcherne Geschoss, bevor es auftraf, und versuche gleichzeitig meine ruinierte Hose loszuwerden. Als ich sie von mir gestrampelt hatte, warf ich der Kreatur den Schädel entgegen. Mit einem hohen Sprung wich sie meinem plumpen Versuch aus und landete links von mir.
Wo war die Taucherlampe?
Ich sah nur einen leichten Schimmer, der die Höhle erleuchtete. Zuletzt hatte Sam sie bei sich gehabt. Aber ohne das Licht würde ich kaum die Höhle verlassen können. Hastig blickte ich mich um und sah den Ursprung des künstlichen Scheins. Die Lampe war neben der Opfernische in den rechten Stollen gerollt.
Wie sollte ich dorthin gelangen?
Meine einzige Chance sah ich darin meine Hose als Waffe, einzusetzen. Wild wedelnd rannte ich mit meinem vollgebrochenen Kleidungsstück durch die Kaverne.
Die größte Bestie wich zurück und fauchte wild.
Ich lief in Richtung des Tunnels. Der Aufschlag meiner nackten Füße hallte von den Wänden wieder und ich spürte, wie der Boden scheuerte. Vor dem Stollen zog ich meinen Kopf ein. Er war kaum höher als die Kreatur, die auf Sam gesprungen war und damit kam mir ein schrecklicher Verdacht.
Was wenn diese Bestien dort unten lebten?
Wenn mir nun eine Schar weißhäutiger Monster-Götter entgegengestürmt kam?
Während ich der Lampe immer näher kam, entschied ich mich allerdings dafür, dass die Kreaturen hinter mir auch schon genug Probleme bereiten würden.
Doch es war zu spät. Meine Hirngespinste hatten mich vom wesentlichen abgelenkt. Ich sah die Hose in hohem Boden davonfliegen und bemerkte erst in diesem Moment, das ich über einen Schädel gestolpert war. Nur einen Sekundenbruchteil später spürte ich wie eine der Kreaturen auf meinem Rücken landete und mich endgültig zu Boden warf. Die Bestie dünstete den süßlich fauligen Geruch aus, den wir in der Kaverne als erstes bemerkt hatten. Klebriger Speichel tropfte mir in den Nacken. Wie ein Stück Fleisch voll Ahornsirup glitt der Muskel über meinen Kopf. Mit meinem Ellenbogen versuchte ich das Vieh, zu treffen. Mir fehlte wohl noch einiges zu Indiana Jones, denn ein Bein der Kreatur trat meinen Arm so hart zur Seite das Er brach. Dann umfasste es meine Schultern mit seinen langen Fingern und drückte mich zu Boden. Ich fühlte, wie sich die Zunge langsam um meinen Kopf schloss, während ich mich panisch kriechend fortbewegte.
Es war meine letzte Chance.
Ein stechen, wie von Millionen kleinen Nadeln, machte sich an meinem Hinterkopf breit. Dann erreichte ich die Hose. Mit letzter Kraft schleuderte ich den mit Erbrochenen getränkten Stoff nach hinten. Die Bestie brüllte auf und ließ von mir ab. Nach drei schnellen Atemzügen stemmte ich mich hoch und sprintete die letzten Meter zu meiner Taucherlampe. Ich hob sie auf und rannte zurück, um im Lauf nach meiner Hose zu greifen. Ich sah, wie mir eine der kleineren Kreaturen auflauerte. Mit glänzenden Augen hing sie an der Decke des Stollens. Hastig riss ich die Hose über meinen Kopf und duckte mich noch weiter hinab. Die Kreatur knurrte und ließ dann wieder den Dinosaurierschrei hören. Ich stürmte unter ihr hindurch und hörte ein leises Zischen wie von starker Säure, die Fleisch verätzte. Darauf jaulte die Bestie schmerzerfüllt und stürzte hinter mir auf den Boden.
Weit hinten im Tunnel hörte ich den Schrei einer anderen Kreatur. Für einen winzigen Sekundenbruchteil erstarrte ich, sie klang größer, gefährlicher. Die Kaverne war direkt vor mir und ich hatte keine Zeit zu verlieren. Die Bestien hatten sich um den wassergefüllten Eingang versammelt, doch als ich auf sie zustürmte, wichen sie zurück.
Keuchend erreichte ich das Wasser. Wohl wissend, dass die Bestien nach meinem Fleisch geiferten. Mit langsamen Schritten umkreisten sie mich. Die größte Kreatur stand mir frontal gegenüber und ließ das seltsame Lachen erklingen. Zwischen ihren langen Fingern hielt sie einen Schädel. Als der Totenkopf auf mich zuflog, ließ ich reflexartig Hose und Lampe fallen und fing die knöcherne Kugel ein zweites Mal.
Die Hose ließ ich auf der Wasseroberfläche treiben. Ich hatte Glück im Unglück, denn meine Taucherlampe war so günstig gefallen, dass ihr Licht den Tunnel beleuchtete. Mit ungelenken Bewegungen tauchte ich hinaus in die Cenote.
Manchmal fragt mich mein Besuch, warum ich einen Schädel auf dem Schreib-tisch stehen habe. Ich erzähle jedoch niemand von meinem Erlebnissen und meiner festen Überzeugung, dass die Maya nie Göttern geopfert haben. Auch die Pläne für mein erstes Buch verschweige ich jedem und gebe mein zweites Buch immer als mein Erstlingswerk aus. Sonst wüsste Möglicherweise bald jemand, wem dieser Schädel auf meinem Schreibtisch gehörte.
Fragen Sie sich nun, wer ich bin? Nun sie werden es erfahren, wenn sie mich einmal besuchen sollten und mir dieselbe Frage stellen wie meine anderen Gäste. Doch auch dann werde ich nur auf die femininen Züge des Schädels sehen und sagen: »Er ist uralt. Eine Erinnerung an eine heilige Quelle auf Yucatán.«