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Die Kinder (1945)

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16.11.2006
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Die Kinder (1945)

Die Kinder

Stille umfängt mich, sie schlafen. Die Schatten der Wimpern auf den Wangen sehen wie dünne Spinnenbeine aus. Darf man das über seine Kinder denken? Über frisch gekämmte kleine Engel in weißen Nachthemden?
Engel sind sie und Engel werden sie sein. Für immer blond, für immer rein und unschuldig. So wunderschön haben sie gesungen heute Morgen. Alle freuten sich über die klaren Stimmchen …
Ein weiteres Dröhnen lässt die Wände erzittern. Nicht mehr lange und ich werde sie nicht mehr beschützen können. Nur diese paar Minuten noch …

„Magda? Magda!“

Josef ruft mich. Ich habe wohl einen Artikel zu archivieren vergessen. Ja, den Observer von dieser Woche habe ich noch nicht durchgesehen. Dummes Archiv. Aber er hängt so sehr daran. Und mittlerweile darf ich ja sogar Berichte über die Kinder und mich ausschneiden und einkleben. Ärgerlich, dass es die schönsten Bilder nur in der Wochenschau gibt. 34mal waren wir vor drei Jahren darin zu sehen.
Wo ist das neueste Album? Wir werden es in Schwanenwerder gelassen haben. Bald sind wir wieder zuhaus. Dann kann ich auch endlich das goldene Parteiabzeichen neben die anderen Orden hängen. Adolf ging gestern mit Eva schon voraus.
Gleich wird Herr Dr. Stumpfegger hier sein, er wollte sich die Kinder noch einmal anschauen. Arme Helga, ihr Hals ist noch immer nicht besser. Ob sie wohl geschnitten werden muss?

Die Tür knallte an die Wand und unterbrach ihren wirren Gedankenstrom. Militärischen Schrittes stampfte der Minister in das enge Kinderzimmer, einen Gewittersturm im Gesicht. „Wird’s bald?“ herrschte er Magda an. „Es ist gleich neun. Werd endlich fertig!“. Wieder knallte die Tür, diesmal ins Schloss. Ihr „Pssst, sie schlafen doch“, verhallte ungehört.
Der zweite Besucher öffnete wesentlich leiser. Weißbekittelt, die schmale Brille auf der noch schmaleren Nase, um Augen und Mund ein Lächeln.
„Sie haben alles vorbereitet?“ fragte der Arzt, die tränenüberströmte Frau ihm gegenüber nickte. „Hedwig hat sich ein wenig gegen den Kakao gewehrt und Hildegard behauptete, er würde bitter schmecken. Er muss wohl angebrannt sein.“ Der Arzt streifte ihr kurz über die Hand, dann begann er sein Werk.

Dr. Stumpfegger öffnet das Futteral, es riecht nach bitteren Mandeln.
In makelloser Reihe liegen sechs Spritzen mit einer gelblichen Flüssigkeit. Eine für jeden nackten rechten Kinderarm. Nur noch ein klein wenig Leiden, dann wird es ihnen besser gehen. So schön und so gut lasse ich sie in die nächste Welt voraus, sie werden die ersten Gefolgsleute unseres Führers sein, werden dort mit ihm gemeinsam das aufbauen, wovon wir alle träumen. Ich folge ihnen bald. Das Marzipan wird ihnen schmecken. Und Josef und mir später auch.

 

Am Abend des 1. Mai 1945 starben die sechs Kinder Magda und Josef Goebbels’ etwa zwei Stunden vor dem Giftselbstmord des Paares mit Blausäure. Bis heute ist nicht herausgefunden worden, wie genau sie zu Tode kamen, sicher ist nur, dass Magda ihre Ermordung vorbereitet hatte. Sie wollte ihren Kindern nicht zumuten, in einer anderen als der vom Nationalsozialismus geprägten Welt aufzuwachsen.
Es wird vermutet, dass Magda selbst sich in den letzten Tagen des Nazi – Regimes in eine Scheinwelt floh.

Aus dem letzten Brief der Magda Goebbels an ihren Sohn aus erster Ehe, Harald Quandt:

… deine sechs kleinen Geschwister und ich, um unseren nationalsozialistischen Leben den einzig würdigen ehrenvollen Abschluss zu geben …
…Gott gebe, dass mir die Kraft bleibt, um das Letzte und Schwerste zu schaffen. Wir haben nur noch ein Ziel: Treue bis in den Tod dem Führer. Harald, lieber Junge - ich gebe dir noch das mit, was mich das Leben gelehrt hat: Sei treu! Treu dir selbst, treu den Menschen und treu deinem Land gegenüber ... Sei stolz auf uns, und versuche uns in freudiger Erinnerung zu behalten ..."

Weitere Infos findet Ihr z.B. unter http://de.wikipedia.org/wiki/Magda_Goebbels

Grüße
Tamlin

 

Eine wirklich ergreifende Geschichte. Das kritisieren überlasse ich den Anderen.

 

Hallo Tamlin,

Eine gelungene Umsetzung dieses recht grausigen Stoffes. Die Gedankengänge wirken durchaus authentisch, nicht überzogen oder zu klischeelastig.
Bei einer Sache nur bin ih mir nicht ganz sicher:

Adolf ging gestern mit Eva schon voraus.
Josef und Magda Goebbels hatten ja tatsächlich auch ein persönliches Verhältnis zu Hitler - aber schloss das denn die Verwendung des Vornamens ein?
Ach, und noch was:
34mal waren wir vor zwei Jahren darin zu sehen.
Die Geschichte spielt ja '45, die 34 Mal in der Wochenschau fielen aber ins Jahr '42, waren also vor drei Jahren.


Gruß,
Abdul

 

Hej Sayare,
vielen Dank fürs Lesen und ergreifendfinden, ich hätt nicht gedacht, dass es so gut ankommt.

Hej AbdulAlhazred,
auch Dir lieben Dank für die äußerst konstruktive Kritik. Dass die Wochenschau-Geschichte zu dem Zeitpunkt bereits drei Jahre her ist hab ich nicht bedacht. Wer rechnen kann ist klar im Vorteil, gell ? ;)

Josef und Magda Goebbels hatten ja tatsächlich auch ein persönliches Verhältnis zu Hitler - aber schloss das denn die Verwendung des Vornamens ein?

Da Magda eine recht lange Zeit als "First Lady" gehandelt wurde und außerdem kurz vor dem Selbstmord Hitlers sein goldenes Parteiabzeichen bekam gehe ich einfach mal davon aus, dass sie ihn und seine Frau wenigstens in Gedanken mit Vornamen nennt. Öffentlich werden sie sich sicherlich nicht so angesprochen haben.

Liebe Grüße
Tamlin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Tamlin,
ja, ein grausliger Stoff, der einen, bei allem Mitleid fuer die Kinder natuerlich auch zwiespaeltig zurueck laesst. Gut geschrieben hast du es, so gut, dass es einem nahe geht - und das will man ja eigentlich nicht, das ist der Knackpunkt. Sicher hast du ja auch den Film gesehen, in dem diese Szene auch sehr eindringlich dargestellt wurde. Dennoch bleibt im Hinterkopf immer der Gedanke - womit hat Frau Goebbels es verdient, vererwigt zu werden, wenn doch Millionen "wertvollere" Menschen ( muss ich jetzt wirklich mal so sagen) unbekannt gestorben sind. Aber so ist wohl die Welt.
An die Serienkiller erinnert man sich, an die freundliche Krankenschwester nicht.
gruss, sammamish

 

Hej sammamish,
eigentlich hast Du absolut Recht. An und für sich wäre es sicher sinnvoller, Geschichten über Kinder wie beispielsweise Anne Frank (wenn man bei der Zeit bleiben möchte) eines war zu schreiben. Aber haben Kinder, und gerade die, die von den Mächtigen dieser Welt als Spielball genutzt werden, nicht generell unser Mitleid verdient?
Ich sehe die Geschichte zwar einerseits auch als Verewigung einer Serienmörderin, andererseits aber als die einer Mutter, die von all den Versprechungen derart verblendet ist, dass sie der festen Überzeugung ist, ihren Kindern etwas Gutes zu tun indem sie sie ermordet.

Leider hat der Mensch eher ein Gedächtnis für das Negative als für das Positive, da wir meist eher durch Schmerzen bzw. schlechte Erfahrungen lernen. Vielleicht ist das, was dieses Grausen auslöst, schlichte Erleichterung darüber, dass uns das nicht passierte?

Vielen Dank fürs Lesen und Deine Gedanken dazu.
Liebe Grüße
Tamlin

 

Liebe Tamlin,
mir hat Deine Geschichte nicht so gut gefallen, da mir vieles zu kurz angeschnitten wird und Du meist nur an den Stellen die Geschichte "anfütterst", wenn es "historisch verbürgt" ist.
Die zentrale Frage ist doch wahrscheinlich: Warum bringt jemand seine eigenen Kinder um? Kurz kann bei diesen Überlegungen auch die eigentliche Figur, Magda Goebbels in den Hintergrund treten.
Die oben gestellte Frage behandelst Du zu kurz und zu wenig für meinen Geschmack und näherst Dich damit in eben das Hauptproblem, welches meines Erachtens auch der Film "Der Untergang" hat. Das darin besteht, dass zwar auf historische Genauigkeit- soweit diese überhaupt herzustellen ist- Wert gelegt wird, nicht/wenig aber auf die zugrunde liegenden Emotionen. Das das bei den NS-Themen schwierig ist, keine Frage.
Auch wenn es zunächst hart klingt, aber wie wäre es die Position der Kinder einzunehmen? Da man zum einen nicht den Tätern die Stimme gibt, zum anderen hier nicht in die Versuchung kommt, ereignisgeschichtlich genau zu sein, da es nur wenige Informationen zu den Kindern gibt. Außerdem erlaubt diese Perspektive das Geschehen von Außen zu betrachten.
Sie merken, dass ihre Mutter nervös ist, hören die Bomben über ihren Köpfen, dürfen nicht nach draußen, wurden in eine fremde Umgebung gebracht...
Und jetzt noch zu Sachen, die mir sonst noch aufgefallen sind:

Stille umfängt mich, sie schlafen. Die Schatten der Wimpern auf den Wangen sehen wie dünne Spinnenbeine aus.
Gefällt mir gut, da die Beziehung zwischen Kindern und Mutter persönlichgestaltet wird.
Leider geht das in den folgenden Sätzen verloren, da hier nur die bekannten Fakten erzählt werden und sich nichts neues aus dem Erzählten ergibt.
Darf man das über seine Kinder denken? Über frisch gekämmte kleine Engel in weißen Nachthemden?
Engel sind sie und Engel werden sie sein. Für immer blond, für immer rein und unschuldig. So wunderschön haben sie gesungen heute Morgen. Alle freuten sich über die klaren Stimmchen …
Ein weiteres Dröhnen lässt die Wände erzittern. Nicht mehr lange und ich werde sie nicht mehr beschützen können. Nur diese paar Minuten noch …
Also, erster Satz: Bedrohung durch die Alliierten.
Zweiter und dritter Satz: Bedrohung durch den nahenden Arzt/Tod der Kinder.
Allerdings tritt die sehr krude Logik in den Hintergrund, dass die Kinder ermordet werden, damit sie vor der kommenden Zeit beschützt werden können. Für mich eigentlich das zentrale Thema: Schutz der Kinder durch deren Mord? Ich vermisse es hier, dass dies nicht tiefer durch einen inneren Monolog oder ähnliches dargestellt wird.
„Magda? Magda!“
Du wechselst weiter unten in die dritte Person und dann wieder in die erste. Ich habe nicht verstanden warum. Allerdings wenn es notwendig ist, warum geschieht es nicht hier, da hier die "Außenwelt" einbricht?
Den Archiv-Teil würde ich etwas kürzen, da er der dargestellten Verwirrung in den folgenden Sätzen den Raum nimmt:
Wo ist das neueste Album? Wir werden es in Schwanenwerder gelassen haben. Bald sind wir wieder zuhaus. Dann kann ich auch endlich das goldene Parteiabzeichen neben die anderen Orden hängen.

Die Tür knallte an die Wand und unterbrach ihren wirren Gedankenstrom.
Ab diesem Satz verändert sich, so finde ich die Einstellung der Mutter. War sie zuvor eher als Mittäterin und zugleich geistig verwirrt lesbar, wird sie nun eher zum Opfer zweier Männer, die scheinbar allein diese Entscheidung getroffen haben. Ich bin eher für mehr Ambivalenz, der Tod "muss" in einer bestimmten (wie gesagt kruden) Logik sein, zugleich sind es ihre Kinder, die sie als Elternteil schützen muss.
Dr. Stumpfegger öffnet das Futteral, es riecht nach bitteren Mandeln.
In makelloser Reihe liegen sechs Spritzen mit einer gelblichen Flüssigkeit.
Ob aus einem gerade geöffneten Etui, vor allem, da sich das Zyankali in den Spritzen befindet, der Geruch bereits in einem Zimmer verbreiten kann, weiß ich nicht.
Ganz viele liebe Grüße,
Bambule

 

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