- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Die Kinder (1945)
Die Kinder
Stille umfängt mich, sie schlafen. Die Schatten der Wimpern auf den Wangen sehen wie dünne Spinnenbeine aus. Darf man das über seine Kinder denken? Über frisch gekämmte kleine Engel in weißen Nachthemden?
Engel sind sie und Engel werden sie sein. Für immer blond, für immer rein und unschuldig. So wunderschön haben sie gesungen heute Morgen. Alle freuten sich über die klaren Stimmchen …
Ein weiteres Dröhnen lässt die Wände erzittern. Nicht mehr lange und ich werde sie nicht mehr beschützen können. Nur diese paar Minuten noch …
„Magda? Magda!“
Josef ruft mich. Ich habe wohl einen Artikel zu archivieren vergessen. Ja, den Observer von dieser Woche habe ich noch nicht durchgesehen. Dummes Archiv. Aber er hängt so sehr daran. Und mittlerweile darf ich ja sogar Berichte über die Kinder und mich ausschneiden und einkleben. Ärgerlich, dass es die schönsten Bilder nur in der Wochenschau gibt. 34mal waren wir vor drei Jahren darin zu sehen.
Wo ist das neueste Album? Wir werden es in Schwanenwerder gelassen haben. Bald sind wir wieder zuhaus. Dann kann ich auch endlich das goldene Parteiabzeichen neben die anderen Orden hängen. Adolf ging gestern mit Eva schon voraus.
Gleich wird Herr Dr. Stumpfegger hier sein, er wollte sich die Kinder noch einmal anschauen. Arme Helga, ihr Hals ist noch immer nicht besser. Ob sie wohl geschnitten werden muss?
Die Tür knallte an die Wand und unterbrach ihren wirren Gedankenstrom. Militärischen Schrittes stampfte der Minister in das enge Kinderzimmer, einen Gewittersturm im Gesicht. „Wird’s bald?“ herrschte er Magda an. „Es ist gleich neun. Werd endlich fertig!“. Wieder knallte die Tür, diesmal ins Schloss. Ihr „Pssst, sie schlafen doch“, verhallte ungehört.
Der zweite Besucher öffnete wesentlich leiser. Weißbekittelt, die schmale Brille auf der noch schmaleren Nase, um Augen und Mund ein Lächeln.
„Sie haben alles vorbereitet?“ fragte der Arzt, die tränenüberströmte Frau ihm gegenüber nickte. „Hedwig hat sich ein wenig gegen den Kakao gewehrt und Hildegard behauptete, er würde bitter schmecken. Er muss wohl angebrannt sein.“ Der Arzt streifte ihr kurz über die Hand, dann begann er sein Werk.
Dr. Stumpfegger öffnet das Futteral, es riecht nach bitteren Mandeln.
In makelloser Reihe liegen sechs Spritzen mit einer gelblichen Flüssigkeit. Eine für jeden nackten rechten Kinderarm. Nur noch ein klein wenig Leiden, dann wird es ihnen besser gehen. So schön und so gut lasse ich sie in die nächste Welt voraus, sie werden die ersten Gefolgsleute unseres Führers sein, werden dort mit ihm gemeinsam das aufbauen, wovon wir alle träumen. Ich folge ihnen bald. Das Marzipan wird ihnen schmecken. Und Josef und mir später auch.