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Die Kolonie

Beitritt
22.03.2005
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Die Kolonie

In einem riesigen, immergrünen Wald wuchs ein prächtiger Baum mit dichter Krone und unzähligen Ästen, die blühten und Früchte trugen. Auf einem dieser Äste irgendwo am Rande der Baumkrone lebte von niemandem beachtet eine Kolonie von winzigen, hamsterähnlichen Tierchen. Man würde sie intelligent nennen, denn sie hatten sich während ihres Daseins auf dem Ast zu einer beeindruckenden Zivilisation entwickelt, die Meisterleistungen in Kunst und Wissenschaft vollbrachte. Aber sie waren zu eingebildet, um intelligent genannt zu werden. Zwar hatten sie inzwischen die irrsinnige Theorie abgelehnt, der Baum würde aus ihrem Ast heraus wachsen und nicht umgekehrt, dennoch waren sie dumm genug zu glauben, sie seinen wahrscheinlich die alleinige und auf jeden Fall die höchstentwickelte Lebensform auf dem Baum. Die armen starrköpfigen Kreaturen konnten doch nur die trockenen, unfruchtbaren kleinen Zweige in ihrer unmittelbaren Umgebung beobachten, die Sicht auf die saftigen, vom Leben nur so wimmelnden Äste um sie herum war ihnen aber durch das dichte Laub versperrt.
Ein Außenstehender würde diese Tierchen sicherlich als glücklich bezeichnen. Denn ihr Ast trug das ganze Jahr über herrliche kleine Nüsse, die ihnen wunderbar schmeckten und trotz der rasanten Vermehrung dieser Tierchen für alle reichen könnten. Unglücklicherweise wuchsen diese Nüsse jedoch nur auf dem äußeren Astrand, und die Tierchen, die das Glück hatten, dort geboren zu sein, stopften sich gierig ihre Bäuche voll, und wenn sie nichts mehr fressen konnten, warfen sie das Überschüssige vom Ast in die Tiefe. Die Unglücklichen, die an der nussarmen Schnittstelle zwischen Baumstamm und Ast lebten, winselten und bettelten um die Nahrung und schluckten bittere Tränen, die zusammen mit den überschüssigen Nüssen vom Ast in die Tiefe stürzten, bekamen aber bestenfalls nur für die schwierigste, gefährlichste und erniedrigendste Arbeit eine winzige Portion als Lohn. In ihrer Verzweiflung glaubten sie an einen mächtigen Gärtner, der irgendwo in den dunklen Untiefen unter ihnen lebte, den Baum vor Urzeiten gepflanzt hatte und jeden Tag kam um ihn zu gießen. Dieser Gärtner, so glaubten sie, würde alles sehen und die vom Ast gestürzten Verhungerte auffangen und retten. Von den Nussreichen wurden sie für diese Vorstellung still verhöhnt. „Sonne und Regen“, sagten die Reichen, „das ist alles, was unser Baum zum Leben braucht. Wenn die von ihrem Gärtner satt werden, umso besser – bleibt mehr für uns.“

Als der Gong zum Feierabend läutete und die Arbeitertierchen von den Nussfeldern nach Hause strömten, war ein kleiner Junge unter ihnen. Er war mager und schmutzig, seine Pfoten schmerzten von harter Arbeit, aber er war glücklich. Denn die lange Arbeitswoche war vorbei, und als Lohn für die Tausend Eimer Nüsse, die er gepflückt hatte, durfte er ein Eimer mit nach Hause nehmen. Er konnte es kaum erwarten die stolzen Augen seiner Mutter zu sehen, wenn er endlich nach Hause kommen und das Essen bringen würde. Aber als er nur noch eine Astbiegung von Zuhause weg war, stolperte er über eine Rille im Ast und plumpste bäuchlings in den Schlamm. Der Eimer flog ihm aus den Händen und all die hart erarbeiteten Nüsse fielen in eine klebrige, trübe Brühe. Sie war schon immer da und schien aus dem Innersten des Astes zu kommen, und niemand hatte sich je große Gedanken darüber gemacht… und jetzt war eine ganze Wochenration Nahrung für seine verhungernde Familie dabei, darin einzusickern. Obwohl er seine Pfoten blutig aufgeschürft hatte, sprang der Junge sofort auf und begann, die Nüsse hastig aufzusammeln. Vielleicht könnte er den Großteil noch retten. Vielleicht könnte man die Nüsse noch reinigen und verzehren. Als er alles, was noch zu retten war, aus dieser Brühe herausgefischt hatte, probierte er eine der saubersten Nüsse, um herauszufinden, ob sie überhaupt noch genießbar war. Ein wahres Feuerwerk der Gefühle explodierte auf seiner Zunge. Etwas so leckeres hatte er noch nie gegessen. Die Brühe, die er noch vor Sekunden verflucht hatte, war unglaublich süß und entfaltete einen so herrlichen Geschmack, dass der Junge begann, die darin getränkten Nüsse mit den Pfoten aus dem Eimer zu schaufeln und sich in den Mund zu stopfen, bis er fast an dem klebrigen Nektar erstickt wäre. Als er zu satt war, um auch nur eine Nuss essen zu können, füllte er den halbleeren Eimer mit der süßen Brühe aus der Grube und machte sich auf den Weg nach Hause. Er verspürte ein unglaubliches Machtgefühl. Der Gärtner hatte sie erhört. Niemand von den Nussarmen würde nun hungern müssen.

Am nächsten Tag füllte er ein weiteres Eimer mit dem Nektar und brachte es in die Stadt. Die Leute dort weigerten sich, von dieser unappetitlichen Brühe zu kosten. Als sich aber ein Mutiger fand und nach der Kostprobe vor Begeisterung in die Luft sprang, geriet die Menge außer Rand und Band. Der Eimer war in 10 Sekunden leer und sie verlangten nach mehr. Bald sprach sich die Nachricht von dem wundersamen Nektar auf dem ganzen Ast herum, und ein Tierchen, das schon von einer Nuss mit Nektar gekostet hatte, konnte eine trockene Nuss nicht mal mehr herunterwürgen. Der Vater des Jungen, der diese Entdeckung gemacht hatte, baute einen Zaun um das Nektarfeld herum und stellte Leute ein, die es ausschöpften. Er wurde reich. Sein Handelspartner am Astrand wurde noch viel reicher. Viele Nussarme dankten dem Gärtner und versuchten ihr Glück. Manche stießen auf neue Nektaradern. Die meisten scheiterten und endeten elend. Der ganze Ast wurde durch die Grabungen verunstaltet.
Man sprach von einer neuen Ära des Wohlstands und Genusses.

Nachdem der Baum, auf dessen Ast diese Kolonie von kleinen, hamsterähnlichen Tierchen lebte, um etliche Jahresringe dicker wurde, und bereits die superreichen Urenkel des Jungen mit den ultrareichen Urenkeln dessen damaligen Handelspartners miteinander Handel trieben, versiegten die letzten Adern mit Nektar. „Katastrophe!“, schrien die Börsengurus und warfen ihre „Nektartrade-Wertpapiere“ ab. „Das Ende der Welt!“, schrien die Gärtnerfanatiker und stürzten sich vom Ast in die Tiefe. Doch der Erfindungsgeist der Tierchen war unendlich. Und während die anderen zwischen Trockennuss und Selbstmord wählten, entwickelte eine Gruppe von Wissenschaftlern eine Haltevorrichtung, mit der Arbeitertierchen auf die Unterseite des Astes herabgelassen werden konnten. Dort gäbe es bestimmt zahlreiche Nektarressourcen, so die Wissenschaftler. Und man fand dort Unmengen an Nektar. Und die Welt war gerettet. Und die Wirtschaft boomte. Und die Wissenschaft wurde gefeiert. Und kleine Kinder, dessen ewiger Reichtum prophezeit wurde, mussten Tag und Nacht in der Dunkelheit der Unterseite des Astes in mühsamer Arbeit nach Nektar graben. Und die glücklichen kleinen Tierchen merkten nicht, dass der Ast, auf dem sie lebten, trockener und spröder wurde. Und sie merkten nicht, wie das Grün der Blätter verblasste und in ein krankes, blasses Gelb wechselte.

In der größten und prächtigsten Halle auf dem ganzen Ast tagte eine ehrwürdige Versammlung. Die mächtigsten Vertreter aus allen Teilen der Kolonie entschieden über die Zukunft ihrer Bevölkerung. Lediglich das junge, braun-weiß gestreifte Tier am Rednerpult schien unter den edlen Anwesenden fehl am Platz zu sein.
„Es ist noch nicht zu spät!“, sagte er entschlossen. „Wir müssen damit jetzt aufhören oder nie!“
Ein Raunen ging durch den Saal. Wie konnte er es wagen, ihre wichtigste Einkommensquelle in Frage zu stellen?
„Die Grabungen führen bereits viel zu tief in den Ast hinein, wir müssen sie sofort unterbinden oder unser Lebensraum wird endgültig zerstört!“
„Sie sind doch wahnsinnig!“, unterbrach ihn der fette Vorsitzende, der Urenkel des Urenkels des Nektarentdeckers. „Nichts wird passieren, gar nix. Unser Volk lebt seit Urzeiten hier, und wir werden hier noch mal so lange weiterleben.“
Alle anderen applaudierten. Als sich der Lärm gelegt hatte, fuhr der junge Redner verzweifelt fort.
„Aber sehen sie denn nicht, dass der Ast stirbt?“, richtete er sich an das Publikum. „Sehen Sie nicht die verwelkten Blätter? Spüren Sie nicht das tote Holz unter euren Füßen? Hören Sie nicht das trockene Knacken in der Nacht, das mir die Ohren zerreist?“
„Kommen Sie uns nicht mit diesen Apokalypse-Visionen, die glauben Sie doch nicht mal selbst.“, entgegnete der alte Vorsitzende von Nektartrade. „Und außerdem – was hätten Sie denn für ein Vorschlag, Sie Schlaumeier?“
Im Saal kicherte jemand, der wohl bereits von den Ideen des jungen Forschers wusste.
„Aber es gibt Alternativen!“ Der junge Redner räusperte sich. In dieser Rede sah er seine letzte Chance. Und die letzte Chance für die Kolonie. „Wir können die Nüsse in der Sonne rösten lassen – ich habe eine Studie durchgeführt, und sie schmecken fabelhaft.“
„Widerwärtig!“, rief jemand aus dem Saal.
„Wie abscheulich!“, unterstützte ihn eine andere Stimme.
„Für so was sollte man den ins Gefängnis stecken!“, schlug ein dritter vor.
Der Redner fuhr unbeeindruckt fort.
„Außerdem können wir die Nüsse im Wind trocknen lassen. Dadurch bekommen sie einen unglaublich würzigen Beigeschmack…“
„Hören Sie auf mit diesen Hirngespinsten!“, schrie der Vorsitzende plötzlich auf. „Das ist ja nicht mehr auszuhalten!“
Unter Beifall der Delegierten wurde der unglückliche Redner des Saales verwiesen.

Und sie gruben weiter. Und sie gruben tiefer. Als das Knacken des Astes unerträglich wurde, steckten sie sich Finger in die Ohren. Als der Laub sie nicht mehr schützte und die Sonne Tag für Tag auf ihre köpfe einbrannte, bastelten sie sich Hüte. Sie waren so erfindungsreich. Ihr Erfindungsreichtum brachte sie ins Grab.

„Verdammt, was soll das?“, schrie der Aufseher den kleinen Jungen im Schacht an. „Bist du zu dumm, um ein Eimer hin und her zu tragen oder was?“ Er schlug ihm auf die Pfoten.
„Aber es ist leer!“, sagte der Kleine schluchzend.
„Was? Du willst dich doch nur vor der Arbeit drücken, du verdammter Schmarotzer!“ Der Aufseher schlug ihn erneut, so heftig, dass der Junge in die Knie sank.
„Ich schwöre, es ist nichts mehr da!“, winselte der Junge.
Der Aufseher ging in die dunkle Tiefe des Schachtes, um selbst nachzusehen. Die Arbeiter standen ratlos da. Die Grube war leer. Die letzte Ader, die den Ast am Leben erhielt, wurde durchgeschnitten.

Es dauerte nicht lange. Die jenigen, die sich vor Panik nicht umgebracht hatten, starben den Hungertod. Denn es wuchs nichts mehr auf dem Ast. Und der letzte, armselige Überlebende war der Urenkel des Urenkels des Nektarentdeckers, der noch Unmengen von Nüssen im Lager versteckt hatte und sich so am Leben hielt. Er schaute aus dem Fenster seines riesigen leeren Hauses und sah den toten Nachbarast, der seinem Heimatast nun so erschreckend ähnlich sah. Er hatte nie an den großen Gärtner geglaubt, aber jetzt sank er auf Knie und bat ihn, dem ganzen ein Ende zu machen. Vielleicht wurde er erhört, denn ein starker Windstoß kam auf und riss den ausgetrockneten Ast vom Baum. Im freien Fall in die dunkle Tiefe flog der letzte Überlebende an anderen Ästen vorbei, und er sah überall Lichter und Leben und Zivilisationen, und er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen und dass die Lichter auf seinem Ast wieder entflammten wie auf diesen hier… Aber es kam nur der Aufprall.

 

Weiß nicht so recht, ob die Geschichte zu SF passt. Aber ihr findet bestimmt ein Forum, wo sie hin gehört.

 

Hallo Roland,
irgendwoher kenne ich die Idee mit dem auf einem Baum lebenden Volk, macht aber nichts, ich fand die Geschichte trotzdem über weite Strecke interessant. Einerseits weil sie sehr flüssig geschrieben ist, andererseits auch, weil die Analogien zur "wirklichen" Welt nicht zu belehrend wirken, wie es zuweilen in solchen, fabelähnlichen Texten der Fall ist. Da und dort gibt es einige kleine Unsauberkeiten, etwa beim letzten Satz, der etwas plump wirkt. Ausserdem finden sich da und dort Rechtschreibefehler - zwei sind unten aufgelistet, es gibt aber noch mehr.

Roland von Gilead schrieb:
Der Redner fuhr unbeeindruckt vor.
...

Roland von Gilead schrieb:
Der Aufseher ging in die dunkle tiefe des Schachtes, um selbst nachzusehen.
Tiefe

Auch nicht ganz verstanden habe ich, was du mit Nektar meinst - ich kenne Nektar nur als Blütenflüssigkeit, während du eher von Harz schreibst.

Genremässig würde ich die Geschichte am ehesten unter Seltsam einordnen oder aber unter Philosophisches, aber sicher nicht bei Science Fiction ...

Viele Grüsse,
Sorontur

 

Hi Sorontur,
danke für die Antwort. Die angegebenen Fehler habe ich schon mal beseitigt.
Klar, normalerweise ist Harz das, was so im Ast drin ist. Aber Harz klingt nun mal nicht so lecker wie Nektar und macht bestimmt nicht süchtig...

Einerseits weil sie sehr flüssig geschrieben ist, andererseits auch, weil die Analogien zur "wirklichen" Welt nicht zu belehrend wirken
Super, darum habe ich bemüht.
Genremässig würde ich die Geschichte am ehesten unter Seltsam einordnen oder aber unter Philosophisches, aber sicher nicht bei Science Fiction ...
Philosophisch kam auch mir in den Sinn, aber da hatte ich wiederum Angst, dass sie nicht philosophisch genug ist...

Tschüß Roland

 

Hi!

Auja, das ist mal was nettes, streichelweiches :D
Trotzdem würd ich das Ding auch eher in Seltsam oder im Notfall bei Fantasy/Märchen reinstellen.

Fazit: Stil ist ansprechend, Idee nett. Weiter so! :thumbsup:

bg, LE

 

Hi Roland,

abgesehen von der Parallele zur Ameisen-Blattlaus-Beziehung, weswegen ich mehr den Eindruck einer Fabel habe: Warum wandern die armen Nager nicht den Stamm hinunter, wenn die wissenschaftlich so fortgeschritten sind?

Grüße,
Tyll

 

Hallo Roland,

originelle Idee! Besonders den Anfang und das Ende mit der Beobachtung des letzten Überlebenden mochte ich. Die Geschichte würde besser nach "Fantasy" passen.

Ein Fehler:

Und kleine Kinder, dessen ewiger Reichtum prophezeit wurde, mussten Tag und Nacht in der Dunkelheit der Unterseite des Astes in mühsamer Arbeit nach Nektar graben.
denen

Den Stil fand ich ansprechend, bis auf eine Sache: Du verwendest Unmengen von Adjektiven.

Freundliche Grüße vom

Berg

 

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