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Die Lüge der Bücher

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18.05.2018
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Die Lüge der Bücher

Er sass immer am gleichen Ort und las. Die Menschen gingen vorüber, aber er sah nicht auf. Ich würde nicht auffallen, mitten in der Gruppe der Geschäftsleute, der Paare und Touristen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte zu sehen, was für ein Buch er las, aber er hatte die Hand über den Titel gelegt. Vorsichtig ging ich ein paar Schritte näher. Es war dunkel und die Läden längst geschlossen, aber der Menschenstrom versiegte noch lange nicht. Plötzlich sah er auf und starrte mir direkt in die Augen. Panik erfasste mich und bevor ich nachdenken konnte, drehte ich mich um und ging weg. Mein Herz schlug noch, als ich über den hell erleuchteten Trafalgar Square lief. Menschen kletterten auf den steinernen Löwen herum. Sie lachten und waren laut, aber das störte mich nicht, denn ich wusste, dass sie mich nicht beachten würden. Ich war eine von ihnen, eine Londonerin, die abends nach Hause ging. Normal.

In der U-Bahn setzte ich mich immer in den hintersten Waggon, in der Hoffnung, möglichst wenigen Menschen zu begegnen und wirklich war das Abteil fast leer bis auf eine alte Frau, ein junges Paar und mich. Die Frau sass mir gegenüber. Ihre Einkaufstasche schwankte bei jeder Bewegung der Bahn bedenklich, aber sie merkte nichts, sondern starrte nur ins Leere. Ich sah mein Spiegelbild in dem Fenster gegenüber an. Meine Wangen waren vom Rennen ganz rot. Ich schnitt mir ein paar Grimassen, bis ich sah, dass das Mädchen mich anblickte. Nicht auffallen. Es war still, auch das Paar sprach kein Wort. Ich stieg aus.

Die Türe war abgeschlossen und mit einem rot-weissen Band überklebt wie bei einem Tatort. Das Band hatte ich bei einer der vielen Baustellen in der Stadt geklaut. Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, dann setzte ich mich an meinen Lieblingsplatz. Ich hatte ihn sorgfältig ausgewählt, von hier aus sah man weder die Tür noch den alten Apfelbaum im Garten. Ich hasste beide. Das Frühstück liess ich aus, ich hatte sowieso keinen Hunger. Ich wurde langsam bedenklich dünn, das wusste ich, aber ich war gerne dünn, es gab mir das Gefühl, Kontrolle über meinen Körper zu haben. Nach dem Kaffee legte ich eine Platte auf und tanzte ein bisschen durchs Haus. Es war eine alte Platte von Paul. Ich konnte gut tanzen, das hatte Paul mir gesagt und er log nie. Es war ein schöner Tag, am Nachmittag setze ich mich in den Garten und arbeitete an dem Bericht, den ich am Montag abzugeben hatte. Es war ermüdend, wie alles, das ich für die Firma zu tun hatte, aber wenn ich meine Aufgaben nicht erledigte, würden die Leute anfangen, Fragen zu stellen. Carla, die dumme Kuh, hatte mich gestern erst auf meine Figur angesprochen. Sie machte sich Sorgen um mich und hatte mich deshalb eingeladen, heute Abend mit ihr und ihren Freunden wegzugehen. Ich hatte „vielleicht“ gesagt und gelächelt. Mein Lächeln war perfekt und echt, ich hatte es stundenlang vor dem Spiegel geübt. Aber ich wusste, dass ich nicht hingehen würde. Der Bericht wurde vor meinen Augen undeutlich, ich lehnte mich im Stuhl zurück und schloss die Augen.

Zuerst war es nur ein Flüstern im Dunkeln. Dann hörte ich einzelne Stimmen. „Komm her.“ „Du bist eine von uns.“ „Du gehörst hierher.“ Mit einem Zischgeräusch entzündete sich das Streichholz. Der Hass wuchs. Meine Hand zitterte. Die Flamme des Streichholzes warf Schatten an die Wand. Die Stimmen wurden lauter, ich wollte zu ihnen, aber ich wusste, das ging nicht, nicht in diesem Leben. Schweissgebadet wachte ich auf. Mein Telefon klingelte.
„Ja?“ Meine Stimme klang ganz normal.
„Hier ist Carla.“ Zuckersüss. Aber vielleicht war ich ungerecht, sie meinte es gut. „Wie sieht’s aus mit heute Abend?“
Und plötzlich wollte ich nicht allein sein. „OK.“

Carla hatte viele Freunde. Sie war hübsch, intelligent und witzig, jeder mochte sie. Und sie mochte jeden. Ich trug ein schwarzes kurzes Kleid. Die anderen Jeans und T-Shirts. Verdammt. Ich wollte nach Hause, mich umziehen oder mich irgendwo verkriechen. Mein Atem ging schneller. Ich atmete tief aus. Ich wollte nicht, dass meine Stimme seltsam klang, denn dann fragte mich vielleicht jemand, ob etwas nicht in Ordnung war.
Ich lächelte, als ich auf die Gruppe zuging und deutete auf mein Kleid. „Overdressed, was?“
„Ach was“, sagte Carla. „Schönes Kleid.“
Sie meinte das ernst. Ich kannte niemanden, aber das war auch gut so, falls heute Abend etwas schief ging, wusste es nicht gleich das ganze Büro. Carla petzte nicht. „Auch ein Cocktail?“, sprach mich einer ihrer Freunde an. Er sah gut aus. Ich hasste Cocktails, mit Paul hatte ich immer nur Bier getrunken, aber hier passte ich mich an.
„Klar.“
„Ich bin Ethan“, sagte Carlas Freund.
„Hi. Danke für den Cocktail.“
„Ich kenne sie aus dem Fitnessstudio. Und du? Du siehst sportlich aus.“ Er liess seinen Blick anerkennend über meinen Körper gleiten. Was für ein Idiot. Ich war nur Haut und Knochen. „
Wir arbeiten zusammen.“
„Ach ja? Toll.“

Bereits bevor wir den Club, in den Carla gehen wollte, erreichten war mir ein wenig schwindlig. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und den Cocktail sehr schnell hinuntergestürzt. Ethan war nicht von meiner Seite gewichen. Im Club war es stickig. Die Leute standen viel zu eng. Seit einer halben Stunde tanzte ich mit Ethan. Um nicht unhöflich zu erscheinen, hatte ich noch einen Drink mit ihm genommen. Obwohl ich kaum was sagte, hatte ich bereits mehrfach gehört, wie amüsant ich sei. Die Musik war laut. Zu laut. Das Licht blinkte grell. Mir wurde es schwindlig. Die Laute wurden seltsam scharf. Ich hörte ein Lachen, einen schriller Schrei, das Klirren von Gläsern. „Ich- ich muss mal kurz“, flüsterte ich Ethan zu und lief von ihm weg, bevor er mich aufhalten konnte. Vor der Toilette hatte sich eine lange Schlange gebildet. Menschen, überall Menschen. Panik erfasste mich. Es gab keinen Ausweg. Der Raum begann sich zu drehen. Ich merkte, wie mir mein Gesichtsausdruck entglitt. Meine coole Fassade war durchbrochen. Schwer atmend lehnte ich mich an die Wand. Eine Hand legte sich auf meinen Arm.
Ein Mädchen sah mich besorgt an: „Alles klar?“
„Lass mich los“, schrie ich.
Sie nahm die Hand weg und wechselte einen Blick mit ihrer Kollegin. Es war wie ein Albtraum. Alle sahen mich an. Abrupt drehte ich mich um und lief weg. Die Leute starrten mir hinterher. Auf dem Weg nach draussen, begegnete mir Carla. Sie lachte, aber als sie mich sah, hörte sie sofort damit auf.
„Ist-ist etwas passiert? Ethan- er ist manchmal aufdringlich. Ich red mit ihm.“
„Nein“, stiess ich hervor. Gehetzt sah ich mich um. Ich war ein Tier in der Falle. Wo war der Ausgang. Da waren die Stimmen. „Komm zu uns.“ „Nein!“, schrie ich wieder. Carla sah mich an. Ich stiess sie grob zur Seite und rannte nach draussen. Die Gesichter verschwammen. Endlich, die Türe. Erst ein paar Strassen weiter kam ich wieder zu mir. Kalte Luft wehte mir ins Gesicht. Ich hatte die Jacke an der Garderobe vergessen, aber das war egal. Ich war wütend. Warum hatte ich mich auf diesen Scheiss eingelassen? Die Panik legte sich. Ich lief zurück. Die U-Bahn fuhr bereits nicht mehr, aber ich nahm kein Taxi. Die frische Luft tat mir gut. Der Montag im Büro würde schlimm werden. Bestimmt hatte Carla ein schlechtes Gewissen, dass sie mich mitgeschleppt hatte, sie würde sich entschuldigen, mich fragen, wie es mir ging und nicht merken, dass ich in Ruhe gelassen werden wollte. Das merkten sie nie. Ich könnte etwas von zu viel Alkohol vielleicht in Kombination mit Platzangst erzählen. Es war egal, sie glaubte mir sowieso nicht, aber wenn ich Glück hatte, beliess sie es dabei. Es hatte Gerüchte gegeben nach dem Unfall. Natürlich hatte es das.

Erst beim Trafalgar Square wurde mir bewusst, dass ich mit einem Ziel unterwegs war. Und tatsächlich, er war da. Er las, was sonst. Beinahe andächtig sah er aus. Ich ging näher. Er hatte mich bemerkt, aber er sagte nichts. Ich auch nicht. Ein einzelnes Buch lag neben ihm. Es war Grosse Erwartungen. Auf Deutsch.
„Du sprichst Deutsch?“, fragte ich, bevor ich mich stoppen konnte.
Er sah mich an und schüttelte dann den Kopf.
„Nein.“ „Aber-?“
„Ich möchte es eines Tages lesen. Es ist eine Art Erinnerung, verstehst du?“ Ich starrte das Buch an. Wieder wurde mir schwindelig.
„Ja, verstehe ich“, stiess ich hervor.

Es war auf dem dritten Regal von rechts, sechstes Bord, viertes Buch von links. Nichts hatte sich verändert. Grosse Erwartungen. Eine Originalausgabe. Auf English. Das rot-weisse Band hatte ich auf den Boden geworfen. Ich schnappte mir das Buch und schloss die Türe wieder. Ich atmete tief durch. Es war ein schöner Tag. In der Stadt war viel los, aber ich beachtete die Menschen gar nicht. Heute trug er die rote Jacke nicht. Sein alter Hut war mit vielen Münzen gefüllt. Das schöne Wetter machte die Menschen spendabel.
„Hier“, sagte ich und warf ihm das Buch zu.
Fassungslos sah er es an. „Was ist das?“
„Grosse Erwartungen“, sagte ich unwirsch. „Auf English. Das wolltest du doch lesen?“
„Ja.“
„Gut.“
Eine lachende Gruppe mittelalter Frauen rempelte mich an. Ich nutzte die kurze Aufregung und verschwand.

Der Traum hatte sich verändert. Wieder zündete ich das Streichholz an, aber dieses Mal nicht um kaputt zu machen, sondern um zu sehen. Das Flüstern war hier, aber ich hatte keine Angst. Ich erwachte frisch, mein Bettlaken war nicht durchgeschwitzt. Carla war nicht im Büro. Krank. Ein übler Kater, wie ihre Freundinnen kichernd flüsterten. Ich sagte nichts dazu, redete mit niemandem. In jeder Gruppe, an jedem Ort gab es jemand, der einfach komisch war. Es hatte einen Moment gedauert, bis ich gemerkt hatte, dass ich das nun war. Ich arbeitete lange. Erst als es schon dunkel war, verliess ich das Büro. In der U-Bahn sassen 4 Menschen, ein deprimiert dreinschauender Mann, eine Frau mit einem Kopftuch und ein Paar. War es das Gleiche wie ein paar Tage zuvor? Ich wusste es nicht, das Mädchen schaute ähnlich traurig.

Auf der Rolltreppe rempelte mich ein Mann an. Er wollte sich entschuldigen, aber als er mich sah, lächelte er und legte mir die Hand wieder auf den Arm. Ich packte seine Hand.
„Sie lassen mich los“, zischte ich.
Völlig verdattert liess er meinem Arm sofort los.
„Dämliche Ziege“, sagte er und ging weg. Völlig überzogene Reaktion, das wusste ich. Noch immer hielt das gute Wetter an, aber bald würde es sich ändern. Er las wieder. Ich ging vorbei, ohne ihn anzuschauen. Erst als ich bereits ein paar Meter weg war, rief er.
„Der Fremde.“
„Was?“
„Albert Camus. Der Fremde.“
Ich drehte mich um und er sah mich an.
„Bitte.“
Ich lächelte.

Fünftes Regal, zweites Bord, drittes Buch. Hatte ich auf einem Flohmarkt gekauft in der Columbia Road. Mit Paul.
„Hier“, sagte ich.
Dieses Mal warf ich es ihm nicht nur hin, sondern legte es neben seinen Hut. Grosse Erwartungen lag neben ihm. Die Seiten waren umgeknickt und der Rücken gebrochen. Er war nicht sehr sorgfältig damit umgegangen. Früher hätte mich das gestört, aber heute wusste ich, was Bücher tun konnten. Er nahm das Buch auf und betrachtete es von allen Seiten.
„Danke“, sagte er zum ersten Mal.
Ich nickte. Wir sahen uns an, aber ich sagte nichts. Er hatte ganz blaue Augen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, als könnte er meine Gedanken lesen. Abrupt lief ich davon.

Zu Hause sah ich, dass ich eine Nachricht auf dem Telefonbeantworter hatte.
„Ja hallo“, sagte eine Stimme. Smart und weich. „Hier ist Ethan. Vom Samstag. Carla hat mir deine Nummer gegeben. Ruf mich doch an, ich würde dich gerne zu einem Mittagessen einladen.“
Idiot. Ich löschte, die Nachricht, aber ich wusste, dass er sich noch einmal melden würde. Das taten sie immer, Typen wie Ethan.

Paul hatte ich auf einem Konzert kennengelernt. Er war mir sofort aufgefallen, ganz versunken in der Musik stand er da. Alles, was er tat, tat er mit einer ihm ganz eigenen Hingabe. Ich konnte meinen Blick kaum von ihm wenden, von der Musik bekam ich nichts mit. Maggie, meine beste Freundin, überredete mich schliesslich dazu, ihn anzusprechen. Ich fragte ihn, ob er selbst auch Musik machte. Er sagte ja, das würde er und er lächelte dazu. Es war ein sehr, sehr schönes Lächeln. Wir verbrachten die ganze Nacht miteinander und eine Woche später waren wir ein Paar. Er wohnte in einem alten Haus mit einem grossen Apfelbaum und einer Bibliothek. Zusammen machten wir uns auf die Suche nach Möbeln und Dekoration. Und nach Büchern. Ganz vielen Büchern. Wir hatten ein schönes Leben, ich war so glücklich. So glücklich. Bis ich es irgendwann nicht mehr war.

Am Dienstag war Carla wieder im Büro.
„Ich habe Ethan deine Nummer gegeben“, sagte sie, „das ist doch ok oder nicht? Er war doch nicht aufdringlich?“
„Nein, es war ok. Aber – weisst du…“, ich liess es ganz leicht klingen. „Ich glaub, ich bin noch nicht so weit, verstehst du?“
Sie sah mich mitfühlend an. „Wie lange ist Paul schon tot? Ein Jahr?“
Meine Kehle schnürte sich zu. „Ja.“
Ein Jahr, drei Monate und vier Tage um genau zu sein. So lange war ich schon allein. Aber das sagte ich Carla nicht.

Nach der Arbeit wollte ich nach Hause, aber es war, als würde mich etwas davon abhalten wollen. Ich ging in eine Buchhandlung und kaufte Die Elenden. Das passte ja. Wieder sass er da und blickte in sein Buch als hätte er die Welt um sich herum vergessen. Niemand beachtete ihn. Ich legte das Buch neben ihm ab.
„Kennst du das?“, fragte ich.
Er nickte. „Danke.“
Der Fremde lag daneben und sah genauso zerfleddert aus wie Grosse Erwartungen.
„Hast du es gelesen?“, fragte er.
„Was?“
„Die Elenden.“
„Ja. Klar.“
„Wie fandst du’s?“
„Gut.“
Ich wollte schon weggehen, aber die Neugier hielt mich zurück. Ich war schon lange nicht mehr neugierig gewesen.
„Warum liest du?“, fragte ich.
Er sah mich an. Wieder fielen mir seine schönen blauen Augen auf.
„Es ist eine Flucht, weisst du.“
Ich stolperte ein paar Schritte zurück. „Eine Flucht wovor?“
Er sah mich ironisch an. „Eine Flucht hiervor.“
Er deutete auf seinen alten schmutzigen Rucksack und die rote Jacke. Die Hausfassade hinter ihm war schön und imposant. Ich sah ihn nur an.
„Die Bücher- sie bringen mich an einen besseren Ort, verstehst du?“
„Nein. Nein, tu ich nicht.“
Ich schrie und die Menschen starrten mich an, aber für einmal war es mir egal.
„Du verstehst nichts, überhaupt nichts.“ Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Du glaubst, deine Fantasie sei ein Geschenk, nicht wahr.“ Hysterisch lachte ich auf. „Sie ist ein Fluch. Der schlimmste Fluch, den es gibt.“
Er sah mich nur an. Ich wusste nicht, ob er mich für verrückt hielt.
„Du lebst hier, ok? In dieser verdorbenen Welt und jeder, der dir etwas anderes erzählt, ist ein Lügner.“ Ich drehte mich um und sah ihn dann wieder an. „Du bist so dumm.“

Es war ein Tag im November als die Bücher das erste Mal mit mir sprachen. Paul war Pianist für das Orchester und damals gerade für 2 Monate bei einem Musicaltheater im Süden Englands angestellt. Manchmal begleitete ich ihn, aber im Moment war es schwierig, bei der Arbeit Ferien zu bekommen. Ich vermisste ihn, ohne ihn fühlte ich mich verloren und einsam. Maggie war für ihre Ausbildung ein Jahr nach New York gezogen. Nach ein paar Tagen lastete die Einsamkeit und Stille des grossen Hauses schwer auf mir. Es war schreckliches Wetter. Der Wind heulte ums Haus und Regen donnerte an die Fenster. Ich las. Es war ein Buch namens Die verlorene Stadt. Es war kein besonders gutes Buch, aber die Figuren schienen mir sehr nahe zu sein. Erst in der Nacht hörte ich das Flüstern. Die Stimmen lockten mich. Ohne sie wäre ich nicht mehr einsam. Ich glaubte ihnen.

„Seit diesem Tag fühlte ich mich fremd in dieser Welt“, sagte ich. Ich hatte mich neben ihn auf den Boden gesetzt. „Es war als würde mir etwas fehlen. Ich habe gelesen und die Figuren haben zu mir gesprochen. Ich war eine von ihnen. Aber alles war eine Lüge. Ich war wie du, verstehst du? Ich wollte dort sein, wo die Menschen in den Büchern waren. In Algerien oder in der Französischen Revolution. Egal. Die Wirklichkeit war nicht genug.“
„Und dann?“, fragte er leise.
„Als Paul zurückkam, hatte ich mich verändert. Für mich ging alles langsam, aber für ihn war es ein Schock. Früher hatte ich viel gelesen, jetzt tat ich nichts anderes mehr. Wenn er mich dazu bringen wollte, damit aufzuhören, habe ich ihn beschimpft. Wir haben gestritten, immer öfters. Es – es war schrecklich.“ Ich schwieg. Er auch.
„Und dein – Mann, Paul?“
Ich sah auf die Beine, die vorübergingen. Jeans, Anzugshosen, Röcke. Ich holte tief Luft.
„Hey“, rief eine Stimme, die zu einem der Beinpaare gehörte, plötzlich. Ich sah auf. Dort stand Ethan. Ein wenig unsicher sah er auf mich hinunter.
„Was machst du denn hier?“
„Ich spreche mit- “, wollte ich beginnen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Er war weg. Alles hatte er mitgenommen, den Hut, den Rucksack und die Bücher. Die Welt drehte sich. Wo war er hin?
„Alles- alles in Ordnung?“, sagte Ethan.
Ich stand auf. „Wo ist er hin?“, stiess ich hervor.
„Wer?“
„Der Mann, der eben noch hier sass.“
„Der Mann, was? Ich habe niemanden gesehen.“
„Er sitzt immer hier“, rief ich aufgebracht. „Mit einer roten Jacke und seinen Büchern.“
Ethan machte ein Gesicht, als würde er es ernsthaft bereuen, mich angesprochen zu haben. Ich stiess ihn zur Seite und rannte los, zwischen den Menschen hindurch. Die Leute sahen mir nach, als ich mich ohne Rücksicht zwischen ihnen hindurch drängte. Er war nirgends zu sehen. Ich drängte eine Gruppe Jugendlicher zur Seite.
„Hey!“, rief mir ein Mädchen genervt hinterher. Ich rannte, bis ich kaum mehr Luft bekam und meine Lunge zu bersten schien. Nach Atem ringend blieb ich stehend. Ich hatte nicht aufgepasst, wo ich hingelaufen war. Hier waren weniger Menschen, es war eine ruhige Gegend Londons, die etwas von den Touristen verschont geblieben war. Warum war er wohl weggegangen? Bestimmt wegen Ethans aufdringlicher Präsenz. Das musste es sein. Ich lief eine Weile ziellos durch die Strassen bis ich zu einem kleinen Park gelangte, wo ich mich auf eine Bank setzte.

Ob ich zu einem Psychiater gehen wollte, hatte mich Paul gefragt. Ich hatte unwirsch abgelehnt und gesagt, es sei alles in Ordnung. In Wirklichkeit versuchte ich einen Weg zu finden, zu den Figuren in den Büchern zu gelangen. Ich machte ihr Leben nach. Sagte Dinge, die sie sagen würden, trug Kleider, die sie tragen würden. „Du gehörst zu uns“, sagten sie. „Bei uns ist alles in Ordnung.“ Die Welt wurde grau. Alles machte ich automatisch. Paul musste für einen grösseren Auftrag nach Hamburg reisen. Ich blieb zurück. Bei der Abreise sagte ich ihm, wie sehr ich ihn vermissen würde und es war wahr. Er machte sich Sorgen, ich konnte das sehen. Paul wusste immer, wie es mir ging. Und doch liess er sich von mir überzeugen, zu gehen. Und mich alleine zu lassen.

Sobald er weg war, versuchte ich einen Weg, wie die Figuren lebendig werden könnten. Es war ein Spiel, ich war nicht komplett verrückt, ich wusste, dass das nie funktionieren würde. Aber doch, tief in mir drin, hatte ich eine Ahnung, dass ich nicht hierhingehörte. Dass es noch mehr geben musste.
Langsam lief ich zurück. Ethan war verschwunden. Dafür war er wieder da. Auch die Bücher lagen an der alten Stelle.
„Wo warst du?“, fragte ich.
Er lächelte nur. „Setzt dich.“
Der Boden war kalt, ich spürte die Kälte meinen ganzen Körper durchdringen.
„Als Paul zurückkam, war ich wie früher. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Aber ich hatte begonnen, mich vor den Büchern und ihren Worten zu fürchten. Die Türe zur Bibliothek war zu. Wenn Paul sie öffnete, hörte ich das Flüstern. Seine Anwesenheit dämpfte es, aber es war da. Immer. Wir machten eine Reise nach Spanien, es war das erste Mal, dass ich am Mittelmeer war. Schon lange hatten wir darüber gesprochen, dort hin zu fahren. Alles war warm und bunt. Aber ich konnte es nicht geniessen. Es war, als liege ein Schleier über der Welt. Zurück in England wurde es noch schlimmer. Ich konnte nicht mehr schlafen, im Traum war ich in meinen Büchern. Es waren bunte Welten. Farbig und schön. Wenn ich aufwachte, weinte ich. Paul versuchte, mich zu beruhigen, aber ich fühlte mich ihm fremd. Weit weg. Ich begann, die Bücher zu hassen. Eines Tages, als Paul nach Hause kam, fand er mich mit einem brennenden Streichholz in der Hand, in der Bibliothek. Ich weiss bis heute nicht, was ich damit vorhatte.“
Wieder schwiegen wir eine Weile.
„Paul hat mich bei einem Arzt angemeldet“, flüsterte ich. „Wir fuhren dorthin. Mitten auf dem Weg hörte ich die Stimmen wieder.“ Erst jetzt merkte ich, dass ich weinte. „Ich weiss nicht, was geschah. Als ich wieder zu mir kam, lag das Auto in einem Graben. Menschen befreiten uns, aber es war zu spät. Alles war vorbei.“ Jetzt rannten mir die Tränen über die Augen. „Seit diesem Tag habe ich nie wieder gelesen.“ Ich stand auf.

Zu Hause öffnete ich die Türe zur Bibliothek. Ich nahm ein Buch aus dem Regal und sah auf die weissen Seiten. Die schwarze Druckertinte stach hervor und jeder einzelne Buchstabe schien ein Vorwurf zu sein. Aber es waren nur Buchstaben. Sie lebten nicht.
Von da an ging ich einen neuen Weg zur Arbeit. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

 

Der Autor schrieb zum Text:

Hallo Zusammen

Das ist meine erste Kurzgeschichte. Sie ist leider etwas lange geraten.

Ich freue mich über Kritik von euch.


Willkommen bei den Wortkriegern, Auryn

Solche Hinweise bitte immer separat im Extrapost.

Bitte mache nach jeder wörtlichen Rede eine neue Zeile, dann weiß man, wenn der Sprecher wechselt und es liest sich besser.

hatte viele Freunde.
Wer?
Hast du öfter, dass der Name/die Person fehlt.

Viel Spaß hier.
Gruß, GoMusic

 
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Hallo Auryn und willkommen hier!

Da deine Geschichte hier schon länger online ist, hoffe ich dass du meine Kritik noch wahrnimmst und im besten Fall wieder aktiv im Forum wirst :)

Das Positive zuerst:

Ich finde deine Erzählweise gut. Du deutest im Laufe der Geschichte immer wieder Dinge an, die erst später erneut aufgegriffen und gegen Ende hin aufgelöst werden. Dadurch bleibe ich als Leser interessiert an der Geschichte. Beispielsweise diese Stelle:

Zuerst war es nur ein Flüstern im Dunkeln. Dann hörte ich einzelne Stimmen. „Komm her.“ „Du bist eine von uns.“ „Du gehörst hierher.“ Mit einem Zischgeräusch entzündete sich das Streichholz.

Grundsätzlich finde ich auch die Idee spannend, dass man sich in die Geschichten von Büchern hineinflüchtet, die Figuren irgendwann zu guten Freunden werden und man aus der Verzweiflung und der unerträglichen Einsamkeit heraus irgendwann mit ihnen zu sprechen beginnt...

Ich finde, du hättest diesen Teil noch exakter herausarbeiten können: wie es denn überhaupt so weit kommen konnte, die Gedanken, die Gefühle, die Sehnsucht deiner Prot. noch mehr in den Vordergrund bringen.

Dafür würde ich ein paar (für mein Empfinden) überflüssige Stellen streichen oder kürzen. Beispielsweise die Fahrt im Zug, ziemlich am Anfang des Textes. Ich glaube, dadurch könnte dein Text wesentlich dichter und kurzweiliger wirken.

So. Hier nun einige Dinge, die mir beim Lesen aufgefallen sind:

Ich schnitt mir ein paar Grimassen

Das "mir" würde ich hier weglassen.

Mein Atem ging schneller. Ich atmete tief aus.

Besser klingt zum Beispiel: Mein Atem wurde schneller.

Mir wurde es schwindlig.

Minus das "es"

Ich hörte ein Lachen, einen schriller Schrei

einen schrillen Schrei

„Nein“, stiess ich hervor.

stiess ich heraus (klingt für meinen Geschmack besser)

Ein einzelnes Buch lag neben ihm. Es war Grosse Erwartungen.

Diese Buchtitel solltest du kennzeichnen. Mit Anführungszeichen, kursiver Schriftart o. Ä.

Wieder zündete ich das Streichholz an, aber dieses Mal nicht um kaputt zu machen, sondern um zu sehen.

Ich glaube, das kann man schöner formulieren.

In jeder Gruppe, an jedem Ort gab es jemand, der einfach komisch war.

jemanden

In der U-Bahn sassen 4 Menschen, ein deprimiert dreinschauender Mann, eine Frau mit einem Kopftuch und ein Paar.

Das wäre mein Vorschlag:
In der U-Bahn sassen vier Menschen: ein deprimiert dreinschauender Mann, eine Frau mit einem Kopftuch und ein Paar.

„Ja hallo“, sagte eine Stimme. Smart und weich.

Ich weiß nicht, ob und wie eine Stimme smart klingen kann. Erst recht nicht nur aufgrund der Worte "Ja hallo".

Ich löschte, die Nachricht, aber ich wusste, dass er sich noch einmal melden würde.

Den Beistrich kann man weglassen.

„Die Elenden.“ „Ja. Klar.“ „Wie fandst du’s?“

Meinst du "fandest"?

Ich schrie und die Menschen starrten mich an, aber für einmal war es mir egal.

Ich weiß nicht, was hier gemeint ist. Vielleicht eher "auf einmal" oder "dieses Mal"?

Die Stimmen lockten mich. Ohne sie wäre ich nicht mehr einsam. Ich glaubte ihnen.

Eher "Mit ihnen wäre ich nicht mehr einsam", oder?

Wir haben gestritten, immer öfters.

immer öfter ohne "s" macht hier mehr Sinn.

Ich sah auf die Beine, die vorübergingen. Jeans, Anzugshosen, Röcke.

Anzughosen

Nach Atem ringend blieb ich stehend.

stehen

Sobald er weg war, versuchte ich einen Weg, wie die Figuren lebendig werden könnten.

Eher: "suchte ich nach einem Weg, wie..."

Er lächelte nur. „Setzt dich.“

"Setz dich"

Wenn dir deine Geschichte am Herzen liegt, würde ich dir dringend empfehlen, noch einmal (vielleicht auch zweimal oder öfter) drüber zu lesen. Im Großen und Ganzen hat mir aber der Text gefallen und ich hab ihn gerne gelesen!

Hoffe, das war erstmal ausreichend Feedback und ich konnte dir etwas weiterhelfen.


LG, Markus

 

Hallo Markus

Vielen Dank für deine Kritik. Du hast recht, dass das Verhalten meiner Protagonistin noch ein bisschen unmotiviert ist und man sie als Leser nicht ganz verstehen kann. Zum Teil wollte ich es offen lassen, aber ich denke auch, dass es noch ein bisschen genauere Beschreibung braucht. Ich habe die Geschichte in der Zwischenzeit auch bereits überarbeitet.

Die Grammatikfehler werde ich noch korrigieren.

Liebe Grüsse
Auryn

 

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