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Die Lichtung

Pat

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24.11.2001
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Die Lichtung

Am Morgen seines Todes ging er über die Wiese zu der Lichtung, die er jeden Tag besuchte.
Er schaute zurück zu denen ihm liebsten Wesen auf der Welt, seiner Frau und den beiden halbwüchsigen Söhnen. Sechs Augenpaare schauten ihm nach. Die dunklen Augen seines Jüngsten blickten voller Vertrauen und Unschuld zurück.
Niemand sprach ein Wort. Ein tiefer Frieden erfüllte die mächtige Brust des Vaters.
Nach einigen Augenblicken der Reglosigkeit und des Schweigens wandte er sich ab und ging langsam fort.
Die Luft war kühl und es roch nach nassem Laub.
Die ersten Sonnenstrahlen, die durch die Blätter der Bäume brachen, malten tanzende Flecken auf den Waldboden. Der Nebel begann sich zu heben, langsam und zögernd, die Welt schien versunken unter einem Schleier vollkommener Stille.
Es war noch früh am Morgen, aber er schritt rasch aus, er hatte wenig Zeit. Seine Schritte hinterließen Vertiefungen in dem weichen Boden. Sie füllten sich mit Wasser und wurden zu einer Spur aus Teichen.
Nach einer Zeit stummen Ausschreitens war er am Ziel.
Er betrat die kleine Lichtung, die vor ihm lag. Für einen Moment blieb er stehen und schloß die Augen. Er hob das Gesicht empor und spürte die Wärme der Sonne. Als die gelben Flecken vor seinem inneren Auge sich in tanzende blaue und rote Kreise verwandelten, ließ er den Kopf sinken und öffnete die Augen.
Er atmete einmal tief und begann langsam in die Mitte der Lichtung zu gehen.
Nahezu kein Laut war zu hören, nur das weit entfernte Hämmern eines Spechtes und das langsame Fallen der Wassertropfen von den Blättern der Bäume.
Das leise metallische Klicken hörte er nicht.
Der Mann, der den Vater beobachtete, brachte sein Gewehr in Anschlag. In seinem braunen Anzug war er zwischen den belaubten Bäumen kaum zu sehen. Durch sein Zielfernrohr sah er den Kopf und die Schultern des Vaters, der sich nur langsam bewegte, schließlich stehenblieb. Der Mann hatte Zeit. Über viele Wochen hinweg hatte er die Gewohnheiten des Vaters studiert. Seit zehn Tagen erwartete er ihn jeden Morgen auf der Lichtung und überstürzte nichts.
Als der Vater in der Mitte der Lichtung angekommen war und stehenblieb, entsicherte er sein Gewehr und zielte sorgfältig.
Der Schuß durchbrach die Stille für nur einen kurzen Moment, einige Zweige schwankten leicht, ein Blatt schwebte zu Boden.
Der Mann trat aus seinem Versteck und ging mit langsamen, schweren Schritten zu dem noch lebenden Körper. Der Vater hob den Blick und schaute seinem Mörder in die Augen. Der Mann schaute auf ihn herab, aber in seinem Blick lag keine Freude, eine tiefe Ernsthaftigkeit eher und etwas Wehmut.
Der Vater wandte ein letztes Mal seine Augen zum Himmel und den Wipfeln der Bäume, bevor sein Blick brach und sein Kopf mit dem schweren Geweih sanft und endgültig zu Boden sank.

 

Hm, die Geschichte gefällt mir. Sie gefällt mir sogar sehr gut. Demzufolge habe ich an ihr nichts auszusetzen, weder sprachlich noch stilistisch.
Fast hätte ich sagen wollen, dass ich den annähernden Tod des Vaters nicht gleich zu Anfang verraten hätte, aber diese Vorinformation beeinträchtigt die Qualität der Geschichte nicht im geringsten. Die Tatsache, dass es sich bei dem Opfer um einen Hirsch handelt, setzt beim Betrachten deiner potentiellen Intention andere Sichtweisen und Wertungsmaßstäbe voraus.

Nach all den genre- und belanglosen Geschichten war es endlich mal wieder eine Wohltat, Qualität lesen zu dürfen. :)

Gruß, Hendek

 

Da muß ich mich doch glatt meinen Vorrednern anschließen: die Geschichte hat mir gefallen. Gerade, weil der Tod von vornnherein angekündigt wird, die Identität des Vaters aber erst im letzten Satz klar wird, ist die Geschichte so gut. Weiter so!
Gruß,

chaosqueen :queen:


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