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Die Nachbarin

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25.11.2022
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Die Nachbarin

Meal Preparation heisst das offiziell, was Du gerade im Gefrierschrank verstaust und bedeutet Wochen im Voraus gekochte, appetitliche Mini-Mahlzeiten in hübschen, verschliessbaren Designerförmchen. Proteinwerte sind berechnet, kcal Angaben nochmals überprüft. Kohlenhydrate kommen nicht, oder nur in nicht erwähnenswerter Menge vor. Nun musst Du keine Zeit mehr verlieren,wenn Du für exakt 60 Minuten auf das Laufband springst oder während du Stufen auf dem Stepper in eine immaginäre Sphäre hinauf trittst, während Du nebenher reality TV schaust, nur ein klitzekleines bisschen, sind ja alles Idioten in ihren Hochhausburgen und ihren hässlichen Einbauschrankwänden, Wahnsinn, woher die immer nur diese Leute nehmen (fragst du dich, frage ich mich). Und dann zwischendrin Werbung für den Erotikadventskalender. Draussen fliegen dicke Schneeflocken durch die Luft und die Aromaduftkerzen drinnen müssen dringend erneuert werden. Die Spotify-Playlist für den 2. Weihnachtstag und Deine und seine Verwandtschaft ist noch nicht fertig und Du hast Lieder aus Versehen falsch abgelegt. Stille Nacht ist auf der «Fit as hell»-Liste, die für Stepper und Laufband, wenn Du kein realty tv siehst, gelandet und «The beast» als Rapversion auf der Xmas List. Von den vielen gebackenen und auch selbst gegessenen Plätzchen glaubst Du schon ein ganz dickes Gesicht zu haben und das wäre, wenn es stimmt, ungünstig, denn du willst auf den Selfies, die Du Deinen Schwestern noch schicken wirst mit vorweihnachtlichen Grüssen, nicht wie ein fetter Hamster aussehen. Deine Titten hingegen sind immer noch klein. Zu klein sehr wahrscheinlich, aber das könnte ja Dein guter Vorsatz fürs nächste Jahr werden: Eine Brustvergrösserung, so wie Dagmar es hat machen lassen im letzten Jahr. Sie kann sich jetzt nicht mehr ganz nackt zeigen im Hellen vor Thomas, denn die Narben sind schon heftig, irgendwas stimmt auch mit den Brustwarzen nicht mehr, aber im Bikini sieht sie wirklich super aus, das hast du selbst gesehen.Du hast Dich heute sehr angestrengt, unangestrengt gut auszusehen. Wenn du mich fragst, sehen Deine Lippen mittlerweile künstlich aus und auch die Lidstraffung sieht man, Du hast jetzt den Gesichtsausdruck von einem permanent überraschten Kind. Aber mich fragst Du natürlich nicht, nie, denn wir mögen uns nicht besonders. Wobei ich glaube, ich mag dich eigentlich lieber als du mich - Du kannst mich definitiv nicht ausstehen, spätestens seitdem du mich bei einem Blick erwischt hast, von der Seite, auf der Gartenparty am Ende der Strasse bei Nicole und Peter.

Du trugst ein kleidähnliches, kurzes, asymmetisches schwarzes Ding, das Dich interessant aussehen lassen sollte, aber in dem Du dennoch eher nuttig aussahst (sorry, das hat David aus dem Haus 4b gesagt, aber ich habe es auch gedacht). Ich stand da in meinem Blümchen-Standard-Outfit, den dritten recyclebaren Becher mit Prosecco in der Hand und betrachtete Dich von der Seite, Deine Absätze, halb im matschigen Gras eingesunken (Peter wird sich gefreut haben über die Löcher in seinem Rasen), die knallrote Handtasche, die kein Mensch braucht, lässig über der Schulter, auf einer Nachbargartenparty, wie immer Dein breites Lächeln, das Gesicht angemalt in rot und blau und irgendwas Silbrigem und Du im Gespräch mit Nico. Ich sah Dich also an von der Seite und überlegte gerade, ob es irgendetwas gab, worum ich Dich beneiden könnte oder wenigstens sollte, da spürtet Du meinen Blick und sahst zurük, genau in dem Augenblick als ich dachte: «Nein, ich beneide sie echt um gar nichts...» und solche Gedanken kann man lesen im Gesicht der Anderen oder wenigstens spüren. Darüber machst Du Dir allerdings gerade im Moment keine Gedanken. Du hast die dämlichen Kerzen mittlerweile erneuert, moon scent, morning pleasure, live in the moment, 39 CHF das Stück, abolut hirnrissig, Dein Handy ans Ohr geklemmt und redest vollkommen unnötige Dinge mit Caroline, Christine, Maja, Sandra oder Brigitte. Dein Mund bewegt sich, bla bla bla und ganz sicher findest Du auch, dass es sich komisch anfühlt zu sprechen, überhaupt ganz anders im Gesicht, seitdem Du Deine Lippen hast aufblasen lassen. Tom ist noch nicht zuhause, sollte aber jeden Moment kommen, es ist seine typische Zeit. Du kraulst Deine Katze mit dem eingerissenen Ohr geistesabwesend, während Dein Mund weiter nicht vernehmbare Geräusche absondert.

Der Schnee draussen fällt dichter.

Ziemlich genau vor einem Jahr, noch vor dem Gartenfest, haben wir uns zufällig auf dem Weihnachtsmarkt getroffen. Ich lief an Dir vorbei, also Du an irgendeinem Ramschstand irgendwas Esoterisches in der Hand hieltest und Du lachtest, als Du mich sahst. Wir redeten darüber ob Du es kaufen solltest oder nicht, das Ding (ein Gong? Ein Klang-Mobile? Irgendwas Feng-Shui) und gingen dann stattdessen einen Glühwein trinken. Eigentlich warst Du ganz nett, Deine Lippen auch noch nicht so gross. Du fragtest höflich nach Nico, erzähltest von Tom und der kleinen Clara, dem Alltag (seufz), der Schwierigkeit als Akademikerin mit kleinem Kind einen gut bezahlten Teilzeitjob zu ergattern (grosses seufz), Deinen Schwestern und ihren verworrenen Leben (lach lach) an anderen Orten in Europa in ähnlichen Häusern mit ähnlichen Männern mit aber fremd klingenden Namen und ich fand dich also eigentlich ganz nett, aber irgendwie gingst Du mir auch schon wieder auf die Nerven, weil Du sagtest im Grunde wie immer nichts. Ich wollte mehr von Dir hören, aber umso mehr Du sagtest, desto gereizter wurde ich, weil es doch irgendwie nichts brachte und mir nicht erlaubte, mir ein neues, grosszügigeres Bild von Dir zu machen. Also wurde ich vermutlich in erster Linie wütend auf mich selbst. Auf Instagram sah ich danach ein Bild von der dampfenden Glühweintasse mit hashtags wie #ersterglühweindesjahres #mangönntsichjasonstnichts . Ausnahmsweise waren weder Dein Kopf noch sonstige Körperteile sichtbar. Ich natürlich auch nicht und es gab auch keinen hashtag, der auf Gesellschaft bei diesem Glühwein hinwies, aber das war mir klar, da ich nicht instagram tauglich bin und deswegen machten wir an diesem Spätnachmittag auch kein Selfie mit aneinandergelegten, vor Kälte geröteten Wangen, kein #friends #gemeinsamweihnachtszeitgeniessen #mygirl.

Toms nachtschwarzer SUV fährt langsam vor und das elektische Garagentor öffnet sich. Du hast das Handy weggelegt und verschwindest aus dem Wohnzimmer und somit aus meinem Blickfeld.

Enttäuscht und erleichtert trete ich von meinem Fenster in der Küche zurück, ich hätte gewunken, hättest Du rübergesehen.

 

Hallo Anschi und danke für Deinen Kommentar...so ist es. Gleichzeitig gibt es hier ja immer wieder Versuche der Begegnung, die dann aber scheitern, weil sich alles zu schnell und an der Oberfläche bewegt und vor allem weil der Blick auf die Andere eher von Annahmen als von Wohlwollen bestimmt wird. Die perfekte Inszenierung in der mühsam aufgebauten Lebenswelt errichtet dicke Mauern. Also viele Fast-Begegnungen, die die Menschen einsamer als zuvor zurück lassen. Liebe Grüsse...

 

Grüße aus der analogen Welt! Manchmal liegt der Fortschritt in der Reduktion
Nein danke, ich möchte lieber nicht ..
Gruselig schöne Geschichte!
Schönes Wochenende
Jutta

 

Danke, Jutta und stimmt..- weniger ist mehr. Und Dir auch schönes Wochenende

@Angie - mit Musen schmusen gefällt mir. Und vielleicht wird es nicht immer kälter, sondern nur immer anders. Schönes und hässliches überall und immer mit inbegriffen.

 

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