Die Narzisse
Es ist an sich nichts Ungewöhnliches in einer entlegenen Vertiefung irgendwo in den Bergen, während man vielleicht spontan, vielleicht mit einem gewissen Ziel, jedenfalls auf dem Weg zu irgendetwas anderem als einer Narzisse ist, dass ein man dann in eben dieser Vertiefung eine Narzisse entdeckt und für nur wenige Sekunden inne hält, um sie näher zu betrachten, aber nur kurz. Die Zeit drängt und man geht weiter.
Inzwischen blieb die Narzisse, die ein Wanderer auf diese ungewöhnliche Art gesehen hatte, wo sie war und das Bild, das ihn die nächsten Schritte noch begleitete, ging schnell zu einem Echo über, das leise in den Eindrücken eines grauen Felsens oder der Sonne versank. Der Wanderer erreichte den Gipfel des Berges, erreichte den berühmten Aussichtsturm und ruhte sich ein wenig aus, aber nur kurz. Die Zeit drängte.
Für den Rückweg wollte er einen anderen Weg gehen. Er hatte im Tal, in dem bewusst rustikalen Hotel mit den holzverkleideten Wänden und den frischen Frühstückseiern die Wanderkarte ausgebreitet auf seinem Tisch liegen gehabt und sich eine Route ausgesucht, an die er sich aber nicht mehr hielt, weil etwas doch von der Narzisse übrig geblieben war und er deshalb doch den Weg zurück gehen musste, den er gekommen war. Er wusste nicht warum.
Als er wieder auf der Höhe der Vertiefung war - zumindest meinte er das - konnte er in ihr weder eine Narzisse noch irgendeine andere Blume, nicht einmal ein bisschen Kraut entdecken. Verwirrt blickte er um sich, ob nicht irgendwo in der Nähe noch eine andere Vertiefung sein könnte. Vielleicht war er falsch abgebogen? Er beschloss zunächst bis zur letzten Kreuzung zurückzukehren, sich vergewissern, dass der Weg stimmt und danach dann weiter zu gehen. Es dauerte sehr lange, bis er die Kreuzung erreichte. Dem Wanderer schien es, als habe sich die Strecke inzwischen zumindest verdoppelt, aber ihm fehlte die Zeit darüber nachzudenken.
Jedenfalls fand er sich dann an besagter Kreuzung wieder. Erschöpft von der langen Strecke setzte er sich auf einen der Steine, die am Wegrand lagen, und, weil ihm etwas schwindlig wurde, trank er seine Wasserflasche aus. Nachdem er sich ausgeruht hatte, ging er wieder den Weg, den er eben gekommen war, weil er sich doch sicher war und erreichte wieder die Vertiefung, in der keine Narzisse zu sehen war. Der Wanderer spürte die Hitze der Nachmittagssonne auf seiner Haut, seinem Kopf, während er in den Hängen nach anderen Vertiefungen suchte. Es half nichts, er musste zurück und nachschauen, ob der Weg der richtige ist.
Allmählich begannen seine Beine zu schmerzen und allmählich bekam er Durst. An der Kreuzung setzte er sich wieder auf den Stein, der am Wegrand lag. Aber er hatte weder Zeit nachzudenken, noch Zeit sich auszuruhen und darum ging er, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Weg, der nun schon zum dritten Mal gehen würde, tatsächlich der richtige ist.
Nur diesmal erreichte er die Vertiefung nicht. Die Anstrengung und der immer stärker werdende Durst ließen ihn unachtsam werden. An einer unübersichtlichen Stelle rutschte er aus und stürzte beinahe hundert Meter in die Tiefe. Er schlug an einem kantigen Felsen auf, der ihm irgendwie bekannt vorkam, und starb noch am selben Abend neben besagter Narzisse in einer entlegenen Vertiefung irgendwo in den Bergen.