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Die Revolution

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15.05.2001
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Die Revolution

An der gegenüberliegenden Wand kletterte eine Made. Eigentlich hätte die Küche sauber sein sollen, wie früher, damals, als noch alles sauber war. Vielmehr entschied ich mich, die Kippe aus meinem Mund direkt auf den Boden fallen zu lassen. Sie fiel, konnte man es auch anderes erwarten?, machte jedoch einen unerwarteten Zwischenstop auf meiner Hose, welche sie spontan durchbrannte. Ich fühlte die Glut auf meinem Oberschenkel, war jedoch unfähig, sie zu beseitigen, von der Reinheit des Schmerzes begeistert. Ich registrierte, dass ich existierte, freute mich nicht überschwänglich, aber dennoch mehr als erwartet.
Nun gut, dachte ich, es gibt eine Revolution vorzubereiten und ich hing meinem gerade erdachten Zeitplan bereits hinterher. Der strategische Aspekt war der wichtigste, dachte ich mir, erwog Notizen zu machen, zündete eine weitere Zigarette an. Warum raucht man immer nur eine Kippe, fragte ich mich, war kurz davor mir eine zweite anzustecken, als ich meine Gedanken wieder auf die Revolution zu fokussieren begann. Es wird natürlich mit politischer Instabilität zu rechen sein, und auch die Wirtschaft wird es nicht gleich begrüssen. Die Errungenschaften werden erst mit der Zeit erscheinen, und wie alle Revolutionäre könnte ich sogar erst post-mortem geehrt, ja vor allem verehrt werden. Kurz schwelgte ich mich in diesem Gedanken, wurde aber durch beißenden Zigarettenrauch jäh aus dieser kritischen Überlegung gerissen und spukte aus, bevor mich der Feind in Form einer Zigarette zu verbrennen vermochte. Hitze und Feuer, überlegte ich mir, dass muss ich in den Menschen wecken, nur dann kommen sie aus ihrem Grau hinaus, es wird ihre Häuser und Seelen, ihren Himmel und ihre Triebe wecken, es wird alles erleuchten und eine neue Ära einleiten. Prima.
Vielleicht sollte ich meinen Eltern eine Warnung zukommen lassen, eine Warnung, in Form eines geheimen Briefes. Ja, vielleicht sogar per Einschreiben, denn wer weiss schon, im Zeitalter der Information kann eine solche Situation in kürzester Zeit eskalieren, vielleicht war es ja schon zu spät, er hatte es bereits gedacht und bekanntlich wird alles einst gemacht werden, was erdenkbar ist. Ich erwägte Eile, entschied mich dagegen, wollte nur wohlüberlegt handeln, um später, in der Zeit danach, unangreifbar zu sein, ein Idol, ja sogar eine neue Zeitrechnung sollte eingeführt werden. Vielleicht sollte ich diese heute schon beginnen, dachte ich, wollte den Gedanken erst zurückstellen, bedachte jedoch nicht die Komplexität die ein späteres Rückrechnen erfordern würde.
Was sollt ich mit der kaputten Hose tun. Ein Loch. Leider kein Einschussloch, doch könnte ich es als solches deklarieren, mir einen Orden verleihen, was sicherlich auch bei der Übernahme des Staates positiv wäre, Kleider machen Leute, Orden Generäle. Wie aber sollte ich die Verletzung mimen? Nur humpeln? Kurz dachte ich, mir mit dem Korkenzieher, an welchem noch der Korken meines gestrigen Rioja hing, in den Schenkel, präzise durch das Loch gezielt, zu rammen.
Der Schmerz war noch purer als der durch die Glut erzeugt, zu pur, fast wurde mir schlecht, doch zufrieden war ich nicht. Ein kleines Loch, nicht grösser als eine Erbse, und auch die Menge Blut an der Hose war nicht wirklich überzeugend. Ich ließ ab von diesem Plan, es gab ja eine Revolution vorzubereiten. Der Plan, über Jahre entstanden, geheimgehalten, nur selten gegenüber Gleichgesinnten angedeutet, bald würde er erfüllt werden. Und ich, der Unbeachtete, wäre der neue Jesus, der Lenin, ein wenig Che und Mao. Brauchte ich einen neuen Namen? Dieter Köpp. Hmm. Ich war mir nicht sicher. Meinen Eltern würde es nicht gefallen, wenn ich den Namen änderte. Aber ich musste ja grösser denken, ja global! Ein ö im Namen, nein, das ginge wirklich nicht, Amerikaner und Spanier, ja eigentlich die ganze Welt würde in ihren globusweiten Lobreden meinen Namen falsch betonen, nein, auch das wäre eine grosse Schmach für mich, und die Eltern. Aber es gab eine Revolution zu planen.
Eine deutschlandweite Koordination war etwas trickreicher als angenommen. Die Verbündeten waren gut verstreut, jeder kompetent und gewillt jeden Moment zuzuschlagen. Gesehen, nein, gesehen habe ich noch keinen von ihnen, das Projekt ist viel zu geheim. Heimliche Nachrichten schicken wir uns, der Geheimdienst ist überall, die Sache ist zu wichtig als dass sie am Stammtisch diskutiert werden könnte. Jetzt war der Korkenzieher vom Tisch gefallen und hinterliess einen kleinen Abdruck meines Blutes auf den einst weissen Fliesen. Expressionistisch, dachte ich, ja vielleicht schon Action Painting, ein Foto muss her. Es blitzte, Befriedigung strömte in meinen Körper, er, der die neue Revolution anführen sollte, er war nicht nur begabter Anführer, nein auch Künstler, Literat, rundum ein Genie. Das würde auch die Eltern freuen, er, der doch nicht einmal das Abitur im zweiten Anlauf schaffte, er, vorgeschlagen für den Nobel Preis. Ich warf den Fotoapparat auf das Regal. Eine neue Zigarette musste her und ich merkte, es blieben noch zwei. Zigaretten, sie verliehen mir die Kraft zum Denken, zu Handeln, zu leben. Viele Leute mussten überzeugt werden, da war es gut, denken zu können. Überzeugt, das falsche Wort. Die Augen öffnen, nur sehen mussten sie schon selbst. Welche Werte hatten sie denn noch? Wie Grau waren Sie alle, nicht Schwarz oder Weiss, nein, Grau. Sie mussten lernen, zu sein, zu existieren, zu leben. Aber das würde seine Zeit dauern. Doch er würde es ihnen zeigen. Der Fotoapparat rutschte von dem Geschirr auf dem Regal, fiel, fast in Zeitlupe, landete mit erstrebenswerter Präzision im Abwaschbecken, in dem zahllose Teller mit Makaroniresten und angekrusteten Nudeln in einer wasserähnlichen Brühe den Prozess der Evolution nachvollziehen wollten. Die Werte, dachte ich, wann gingen sie verloren? Mit Sokrates, natürlich, der Schierlingsbecher, darin waren sie, die Werte. Noch einige Male flackerten sie auf, die Geschichte, sie erwähnte sie und jetzt, endlich, gebündelt in mir sollten sie die Herrschaft übernehmen. Welchen Sinn hatte die Periode der Wertlosigkeit, überlegte ich kurz, natürlich wissend, dass sie nur als Rahmen, als Kontrast zu der anbrechenden Wertezeit zu sehen sei und auch so, wie eigentlich alles in der Zeit, ihren Sinn hatte. Warum ich, dachte ich melancholisch mit einer profunden Selbstzufriedenheit, wusste die Antwort im Inneren und gab mich zufrieden. Ich brauchte noch Geld. Später würde Geld natürlich irrelevant sein, die Zeit danach, das Geld, es war doch die Triebfeder zum Werteverlust. Trotzdem war es jetzt nötig, ich konnte ja nicht jeden Händler überzeugen, dass es eine gute Sache sei. Vielleicht sollte ich die Eltern anrufen. Die haben Geld. Zuviel. Sie würden sich später freuen. Ich nahm die letzte Kippe, zerknautschte die Schachtel und warf sie in mein Evolutionsbecken. Scheisse dreckig hier, dachte ich noch, war aber indifferent. Indifferent, wie schön, wertlos fühlte ich mich, nein, nicht wertlos, wertelos, wertfrei, wie besser es schon klang, Werte frei, frei von Werten, der über den Werten steht, objektiv und rational, Freiheit der Gedanken. Wertlos. Nein. Nein, nicht wertlos, hör auf, dachte ich, kniff die Augen zusammen, zog heftig an meiner Zigarette so dass die Spitze glühend zu zischen anfing. Wertlos, welch hässliches Wort, auch Vater gebrauchte es zu oft. Wertelos, er versuchte es ihnen zu erklären, wertelos, nicht wertlos, warum versteht ihr nicht, es ist doch Zeit für die Revolution. Jetzt, Entschlossenheit erwärmte mein Herz, ich sprang auf, stürzte aus der Küche, öffnete die Tür von Zimmer zwei. Die Matratze, lakenlos erschien sie nackt, sie hielt das Geheimnis. Ich bückte mich, hob sie ein wenig und betont sanft, um sie in Ihrer Ruhephase, welche bei einer Matratze natürlich der Tag ist, nicht zu stören, an und sah beruhigt, dass die Revolution gerettet war. Ein Laken muss auf die Matratze! hatte Mutter immer gesagt, er versuchte ihr die Augen zu öffnen, nein, keine Verschleierung der puren Schönheit, nehmt sie ab die Masken, zeigt euch im Wahren und Klaren, ohne dieses Grau vor euch! Welche Schönheit, fragte sie nur, angeekelt von meiner Matratze. Schmutzig ist es hier, sagte sie dann, nein, doch nicht schmutzig, frei ist es hier und ich wusste, sie verstand nicht. Es ist sinnlos, sagte sie. Sinnlos? Nein, jetzt ist das Leben scheinbar sinnlos, aber warte nur, Mutter, danach wird alles besser, es wird einen neuen Sinn geben, neue Werte wird es geben, Werte mit Sinn. Es ist wertlos, sagte sie, Nein! Nein, nicht wertlos, wertelos, raunte ich, wusste, die Revolution musste beginnen, nahm die Waffe, entschlossen setzte ich sie an und schoss mir in den Kopf.
Die Kippe fiel mir aus dem jeder Beschreibung trotzendem Kopfrest, fiel auf die Matratze, störte diese in ihrer Ruhephase und brannte ein sauberes, aussen leicht bräunliches Loch hinein. Fotoreif!


Mannheim, 03.12.99

 

*gulp* beunruhigend... genial... ekelig... schön... lustig... traurig...
so muss eine geschichte sein. da stört mich auch nicht im geringsten, dass da wohl ein toter geschrieben haben muss, im gegenteil... meine hochachtung!

 

Hallo truetype,

ich muss ehrlich zugeben, ich habe mich erst nach mehreren Anläufen dazu ´überwinden´ können, die Geschichte endgültig durchzulesen.
Nichtsdestotrotz, nach einer zum Teil ´krampfhaften Durchforstung´ des Textes muss ich dennoch gestehen, ihn halbwegs nicht uninteressant gefunden zu haben.
Vielleicht aufgrund der revolutionären Art und Weise...


Gruß, Hendek

 

aehm, danke. ich dachte nicht das diese geschichte jemandem gefällt. eher die andere, aber die hat den lesern nicht gefallen. lustig. alles fatalisten hier :)

ok, ich schwimme wieder richtung licht.

tt

 

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