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Die Schienenmenschen

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28.12.2001
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Die Schienenmenschen

Die Schienenmenschen

Peter von Gunten war gerne Lokomotivführer. Er ging diesem Bubentraum schon sein ganzes Leben lang nach. Es war ja auch wirklich ein Traum, ein solches Ungestüm aus Stahl steuern zu dürfen. Nicht für alle, wohlgemerkt. Peter von Gunten akzeptierte das. Nicht weil er sich sagte, dass nur sehr begabte Menschen Lokomotivführer werden konnten, nicht weil man das so sagen musste, sondern ganz einfach deshalb, weil Peter von Gunten ein guter Mensch war. Für ihn waren alle Berufe und somit alle Menschen gleich. Peter von Gunten kannte keine VIP’s, also keine „sehr wichtigen Personen“. Über die lachte der Lokomotivführer nur, und wenn er an seine Familie dachte, dann schallend.
Peter von Gunten entstammte einer sehr reichen Familie. Sie war so vermögend, dass man sich im Garten ihres grössten Grundstücks wie in einem unheimlichen Wald verirren konnte. Der Vater, der, obwohl schon sehr alt, noch immer arbeitete, führte ein namhaftes Schokoladenunternehmen in der dritten Generation. Für ihn war es immer selbstverständlich gewesen, dass sein Sohn Peter eines Tages das Unternehmen als Vertreter der vierten Generation weiterführen würde. Doch Peter von Gunten hatte nie Lust gehabt, sich in Generationsfesseln ketten zu lassen. Er konnte die Vorstellungen seines Vaters zwar sehr wohl nachvollziehen, doch dieser seine, was Peter von Gunten ausserordentlich bedauerte, leider nicht. Und deshalb hatte ihm sein Vater gesagt, dass er sich nie wieder blicken lassen solle und dass er enterbt sei. Dabei war Peter von Gunten Geld gar nie wichtig gewesen. Es gab andere Dinge, Dinge, die man nicht anlegen, „share holden“ oder diversifizieren konnte. Aber seine Familie begriff das nicht. So war es etwas minderwertiges, Lokführer zu sein, gleich wie das Kindermädchen, mit dem er nie richtig hatte sprechen dürfen und das er später aus Liebe geheiratet hatte.
An diesem Abend war Peter von Gunten für den Regionalzug von Basel nach Frick zuständig. Man schrieb einen gewöhnlichen Wochentag, graue Wolken hingen am Himmel, müde, abgekämpfte Gestalten besetzten die Zugwagons. An den Stationen stiegen nur noch wenige Menschen ein und aus. Es gab auch Haltestellen, wo um diese Zeit gar niemand mehr ein- und ausstieg. Hier hielt Peter von Gunten seine Lokomotive nur aus Vorschrift an. Er mochte ausgestorbene Bahnhöfe, hässlich leere Betonperrons nicht. Dann fühlte er sich ein bisschen wie der Führer eines Geisterzuges. Dennoch liebte er die Nachteinsätze. Wenn es draussen kalt und finster war und er, als Lokomotivführer gewissermassen über seine schlafenden Passagiere wachte und seine Maschine sicher durch die Nacht leitete. Das machte ihn stolz und glücklich.
Auf dem Fahrkurs in Richtung Frick fuhr Peter von Gunten mit seinem Zug in einen Bahnhof ein, der ihm seltsam erschien und an den er sich nicht erinnern konnte, ihm jemals begegnet zu sein. Trotzdem zog er wie von fremder Hand gesteuert den Bremshebel. Auf dem einzigen Perron drängelten sich hunderte von Menschen. Ihre Gesichter waren blass und ohne Charakterzüge. Nicht laut, nicht leise, schweigend stiegen sie ein. Vollgefüllt verliess die Lokomotive den Bahnhof und setzte ihre Reise fort.
Peter von Gunten kam die ganze Angelegenheit erst wieder in den Sinn, als er zwei Wochen später erneut in die Nachtschicht eingeteilt worden war. Wieder tauchte wie aus dem nichts jener unbekannte Bahnhof auf, wieder erkannte Peter von Gunten eine gigantische Menschenmasse, die auf die Einfahrt seines Zuges wartete. Doch diesmal hakte Peter von Gunten nach. Er wollte wissen, wer die vielen Leute waren und woher sie kamen. Rasch verliess er den Führerstand und begab sich in das vorderste Abteil. „Wer seid ihr und woher kommt ihr in solch grosser Zahl?“, fragte er in die Menge. Irgendwo aus den hinteren Sitzreihen antwortete eine Stimme: „Wir sind diejenigen Menschen, die kein Gesicht haben. Diejenigen Menschen, die sich das Geleise lieber von anderen Menschen stellen lassen. Menschen, von denen es immer mehr gibt. Wir, wir sind die Schienenmenschen.“
Noch in derselben Nacht reichte Peter von Gunten seine Kündigung ein und übernahm wenige Zeit später das Schokoladenunternehmen seines Vaters.

 

Hallo George Müller!

Auch du wolltest dir wohl ab sofort die Geleise stellen lassen...kluge Entscheidung!

Diese Geschichte liest sich wie eine Mischung aus Kindergeschichte und Buchdeckelinformation, so habe ich es auf jeden Fall empfunden. :rolleyes:
Eine Unstimmigkeit beim Satzbau ist mir aufgefallen:

Über die lachte der Lokomotivführer nur, und wenn er an seine Familie dachte, dann schallend.
Von der Konstruktion her liest es sich so, als ob der Lokomotivführer schallend an seine Familie denken würde; wobei sich das Adverb wohl auf lachte bezieht? ;)

Ansonsten; na ja, vom Handlungsablauf her etwas originell :) , von der Thematik hingegen nicht gerade innovativ :dozey: ...


Gruß, Hendek

 

Hi!

Wie Hendek sagte - auch mich erinnerte Dein Stil an eine Geschichte, die für Kinder geschrieben ist (wenn die diversen Fremd- bzw. komplizierteren Wörter nicht wären). Der gute Sohn, der unbeirrt seinen Wunsch verwirklicht hat, seinem Vater zum Trotze. Sein Leben läuft gut und er ist glücklich. Klare Bilder von Gut und Böse (sogar sein Name - von Gunten - leitet einen zu den Begriffen "gutmütig" oder "Gutdunken"), deutliche Moral - auf den Mammon verzichten, das Kindermädchen geheiratet, die
Menschen im Nachtwaggon beschützen.
Dann kommen diese Schienenmenschen, die ja wohl irgendwie genau das Gegenteil darstellen, liege ich da richtig?
Na ja, ich frage mich nur, wieso er dann von einem Tag auf den anderen aufgibt. Oder habe ich den Sinn der Schienenmenschen falsch verstanden?

 

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