Die Seiltänzerin Vol.1
Eine Schneeflocke, eine unter vielen, findet im Schneegestöber des Bollwerks der Angepassten ein Bewusstsein und verlässt die fremdbestimmte Choreographie des allgemeinen Tanzes. Sie widersetzt sich dem lenkenden Sturm der Gleichschaltung und bewegt sich gen Himmel. Als sie durch die letzte Schicht devoter Brüder und Schwestern bricht, sieht sie sich einem blauen Himmel gegenüber. Besäße sie visuelle Sinnesorgane, wäre sie geblendet vom Sonnenschein über ihr, dessen Strahlen auf die Oberfläche des weißen, brodelnden Sumpfes unter ihr aufschlagen und reflektiert werden.
In Inneren der Schneeflocke trifft so etwas wie das frostige Äquivalent zum freien Willen eine Entscheidung. Sie schwebt der Sonne entgegen. Ihre molekulare Struktur verändert sich durch den Temperaturwechsel. SIE, die Schneeflocke, transformiert zu einem ER. Einem Wassertropfen. Doch anstatt zurück in die Tiefe zu fallen, schwebt er wie schwerelos, vor dem blauen Hintergrund. Solange bis er auf eine schimmernde, glatte hautähnliche Struktur prallt, dort kurz hängen bleibt und schließlich verdampft.
Die hautähnliche Struktur nimmt die Form von Füßen an. Kleine, filigrane trotzdem kräftig wirkende Zehen, umklammern eine Art metallisch schimmernde Nabelschnur, die von einem Ende der Welt ans andere gespannt zu sein scheint. In eleganter, tänzelnder Bewegung setzt sich ein Fuß vor den anderen. Die Zehen greifen und lösen sich, greifen und lösen sich. In welche Richtung die tanzenden Schritte führen sollen scheint unerheblich. Das Vorne und Hinten verschwindet im tiefen Blau des Himmels.
Trotzdem lächelt die Seiltänzerin ein wissendes Lächeln.
Während sie ihren scheinbar richtungslosen Tanz fortsetzt passiert Folgendes: der Tropfen, der ihre süße Haut kurz küssen durfte ehe er verdampfte, vereint sich nun mit Seinesgleichen und morpht zu einem WIR. Dick und schwer und weiß wechselt es langsam seine Farbe zu stahlgrau. Wie Stahl ist nun auch die Schwere, die sich im WIR breit macht. Um sich zu erleichtern löst es sich auf. Schwere Tropfen ergießen sich über die Seiltänzerin, deren nasse Zehen nun kaum noch Halt an der rutschig gewordenen Nabelschnur finden. Der Tanz wird behäbig, langsam. Die Bewegungen schwerer. Ob es sich bei den Tropfen, die über die Wangen der Seiltänzerin laufen, um Tränen oder Regen handelt, ist nicht zu unterscheiden.
Plötzlich durchfährt ein Grollen die Szenerie. Ein Grollen, das die Fasern des Stahlseiles, der Nabelschnur, zum Schwingen bringt. Von Entsetzen gepackt blickt die Seiltänzerin mit weit aufgerissen Augen nach oben: In eine schwarze Masse aus sich verschlingenden Formen, wie Schlangen in einem Sack. Ein kurzes Aufblitzen, dicht gefolgt von einem weiteren Grollen, beendet ihren sinnlosen Tanz und zerreißt die Nabelschnur. Die Seiltänzerin fällt. Das weiße Treiben unter ihr verschlingt sie. Ihr Tanz ist endgültig vorbei.
Langsam wird das Grau wieder zu einem Blau. Die Sonne kehrt zurück und schickt weiter unaufhörlich und zwecklos ihre Strahlen gegen den endlosen weißen Tanz in der Tiefe. Ein letzter Tropfen fällt und entpuppt sich als eine übrige salzige Träne der Seiltänzerin. Ihrer Berufung entsprechend schickt die Schwerkraft die Träne in die vorgegebene Richtung. Von ihren tanzenden, erstarrten Geschwistern freudig aufgenommen erstarrt auch sie, willenlos, dem Fluss des Schicksals ausgesetzt, ist sie nun Eine unter Vielen und fügt sich widerstandslos in das Schneegestöber des Bollwerks der Angepassten ein.