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- 11.02.2009
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Die Taschendiebin
Die Taschendiebin
Es gibt Tage, da sollte man einfach einmal auf seine Umwelt achten. Ohne Wertung, das Leben an sich vorüberziehen lassen, ohne aktiv am Leben teilzunehmen. Es war eben einer dieser Tage, an denen er still und stumm an der Fassade der Hauswand lehnte und von seinem schmalen Balkon blickte. Das geschäftige Treiben der Menschen interessierte ihn nur am Rande. Seine Blicke lagen auf ihr.
Jetzt, in diesen Tagen hatte sie viel zu tun. Es waren jene Zeiten, da sie ihrem Geschäft nachging – dem Taschendiebstahl. Er konnte deutlich sehen, wie geschickt sie ihre Opfer ablenkte und dabei das Geld aus ihren Taschen stibitzte. Mit der einen Hand erklärte sie einem der zahllosen Besucher den Weg, während sie ihre Opfer mit der anderen erleichterte.
Für einen Augenblick wurde der Mann auf dem Balkon abgelenkt. Sein Blick fiel auf einen riesigen Bären, der in einem noch viel größeren Käfig gefangen gehalten wurde. Sah man dem Tier in die Augen, konnte man eine tiefe Trauer darin erkennen. Er war nicht glücklich. Wie auch? Hatte man ihm doch einen spitzen Clownshut auf den Kopf gesetzt. Er war weiß und auf seiner Frontseite hatte man zwei schwarze Kugeln aus Plüsch aufgenäht. Von dem lächerlichen Kragen gar nicht zu sprechen, den man ihm umgehangen hatte.
In diesem Moment begann ein verschlagener Mann mit einem Lemuren auf der Schulter auf seiner Gitarre zu spielen. Einer seiner Handlanger setzte kurz darauf auf dem Akkordeon ein. Man öffnete den Käfig und zog den armen Tanzbären aus dem Käfig. Das Halsband, das gleichzeitig ein mit Dornen besetztes Folterinstrument war, animierte den Bären unter Schmerzen sich dem Akkord hinzugeben. Er begann zu tanzen und die Menschen versammelten sich um das arme Tier.
Er entdeckte die junge Frau wieder. Sie hatte die Gunst der Stunde erkannt und versuchte einige der umstehenden Zuschauer zu erleichtern. Sein Blick lag auf ihr, während sie geschmeidig die Bewegungen der klatschenden und schunkelnden Zuschauer ausglich. Sie hatte wirklich Talent, dass muss man ihr lassen. Immerhin war es eine gefährliche Arbeit, für ein paar lumpige Francs.
Er musterte ihren jungen Körper. Sie war klein, fast zierlich, und ihre roten Haare verliehen ihr einen feurigen Glanz. Sie war nicht unbedingt schön, aber auch nicht unansehnlich. Er schätzte sie auf etwa 18 bis 20 Jahre. Älter war sie sicher nicht.
Plötzlich setzten die Instrumente aus. Der Bär hatte sich losgerissen und fiel über einen seiner Peiniger her. Die Menschen wichen in Panik auseinander und er sah, wie sie von einem Mann umgestoßen wurde, er kümmerte sich nicht um sie – ließ sie einfach liegen. Man sah ihr die Benommenheit an. Sie war irritiert und merkte nicht, dass sie plötzlich allein auf dem Marktplatz saß.
Der Bär ließ von seinem Opfer ab und trottete mit blutverschmierter Schnauze und demselben traurigen Blick auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich angstvoll, als sie erkannte, was da auf sie zukam. Die Angst lähmte ihren Körper.
Zur gleichen Zeit sprang der junge Mann von seinem Balkon, der im ersten Stock lag, auf die Marquise, die neben seinem Balkon im Erdgeschoss gespannt war. Er rutschte auf ihr herunter und griff rasch in die ihm vertraute Auslage der Theke. Der Fisch war erst einige Tage alt und noch relativ frisch. Mit ihm wollte er den Bären von ihr weglocken.
Er hastete so schnell er konnte über den kleinen Marktplatz, vorbei an Bierwagen und Obstständen, bis er bei den Beiden ankam. Der Bär hingegen war fast bei ihr, als er ihm den Fisch genau vor die Pranken warf. Der Bär, anfangs irritiert, machte sich sofort über den Fisch her.
Das war der Augenblick, den er nutzte. Er griff ihren Arm und riss sie fort von dem Tier. In der Hast verlor sie einige Münzen. Sie wollte innehalten und sie aufsammeln, doch der Fremde zog sie unnachgiebig weiter, denn schon hatte der Bär den Fisch verschlungen und sah den Flüchtenden nach. Nun war er es, der zu rennen begann.
Vor ihnen tat sich ein Heißluftballon auf. Er stand am Rande des Platzes und war für Rundflüge gedacht gewesen. Die Benommenheit wich von der jungen Diebin und sie verstanden einander ohne Worte. Er löste die Fesseln des Korbes, während sie sich hinein schwang und die Gewichte herunter warf.
Der Bär stürmte heran und dem jungen Mann blieb keine Zeit mehr in den Korb zu springen. So hielt er sich an dem Seil fest, das er zuletzt gelöst hatte. Der Bär preschte ins Leere, als sich der Ballon erhob. Sie waren gerettet.
Sie reichte ihm ihre Hand und zog ihn zu sich in den Korb. Der junge Mann fiel auf sie und blickte ihr dabei in die grünen Augen. Sie waren wunderschön. Er beugte sich zu ihr herab und flüsterte in ihr Ohr: „Pass in Zukunft auf dich auf. Ich beobachte dich seit einem Jahr und hätte dich eigentlich verhaften müssen, ich bin Polizist, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht.“
Sie flüsterte ihrerseits in sein Ohr: „Ich weiß, ich habe dich jeden Tag gesehen, wie du mir nachgesehen hast und an dich gedacht, wenn du einmal nicht da warst. Danke, dass du mich vor dem Bären beschützt hast.“
Sie standen auf. Der Ballon war höher gestiegen. Er stand hinter ihr und umschlang ihren Körper von hinten. Sie blickten gemeinsam auf das nahe Paris. In der Ferne sahen sie den Neubau, den man Eiffelturm nannte.
Heute, dass war das Jahr 1900, begann die Pariser Weltausstellung.