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Die unbekannte Angst
Es war einmal vor langer, langer Zeit als ein junger Mann namens Wilhelm bei seinem Vater in der Mühle arbeitete. Bald wurde es ihm dort zu langweilig. In seinen Träumen malte er sich die tollsten Heldentaten aus. Wie er fremde Königreiche aufsuchte, sie von bösen Drachen befreite und die schöne Königstochter zur Gemahlin nahm.
Eines Tages kam ein Wanderer zu der Mühle. Eine willkommene Abwechslung im Leben der beiden Müller, hatten doch Wandersleute meist spannende Geschichten zu erzählen.
Sie bewirteten ihn in ihrer Stube, während sie interessiert seinen Darstellungen lauschten. Er beschrieb den beiden ein Dorf, dessen Bewohner sich Nachts in ihre Häuser verkrochen, und diese erst bei Sonnenaufgang wieder verließen. Der alte Mann zitterte am ganzen Leib als er den beiden den Grund für dieses merkwürdige Verhalten berichtete.
Jede Nacht würde der Ort von einem Monster heimgesucht. Keiner hätte es je gesehen, aber sein schauerliches Heulen ließ die Bewohner erstarren. Eine Nacht hätte der Wanderer durchgehalten, dann sei er geflohen. Keine hundert Goldstücke, nicht einmal die in Aussicht gestellte Hochzeit mit Katharina, der Tochter des Gutsherrn Benedikt, würden ihn dazu bringen noch einmal dorthin zurück zukehren, erzählte er aufgewühlt.
Wilhelm gefiel das. Er konnte es kaum abwarten sein Pferd zu satteln. Am nächsten Morgen ließ er sich von dem Wanderer die Route erklären, nahm sein Schwert und verabschiedete sich von seinem Vater.
Nach zweieinhalb Tagen erreichte er ein Maisfeld, auf dem einige Knechte arbeiteten. "He, Du" wandte er sich an einen dieser Knechte "Wo finde ich den Andreasmarkt?" Der Knecht sah ihn ungläubig an: "Was willst du da?" fragte er, "Niemand geht freiwillig dahin, wenn er nicht dort geboren wurde. Erst kürzlich hat sich ein Wanderer in das Dorf verirrt, aber schon nach einer Nacht ist er wie von Sinnen davongelaufen".
"Ich werde das Ungeheuer, vor dem Ihr solche Angst habt besiegen.“ tönte Wilhelm selbstbewusst.
Kurz darauf galoppierte er über den Markt geradewegs zum Anwesen des Gutsherrn Benedikt. Als er sein Pferd an die Tränke vor dem Haus heranführte bemerkte er auf dem Balkon ein junges Fräulein, das so schön und lieblich war, dass es ihm dem Atem verschlug. Ihr goldenes Haar glänzte in der Nachmittagssonne wie der Tau auf den Wiesen vor Vaters Mühle. Ohne Zweifel, das musste Katharina sein, von dem der Wanderer berichtet hatte.
Der Hausherr öffnete die Türe des protzigen Gebäudes. "Junger Mann, was führt euch zu uns?"
Unverblümt aber freundlich antwortete der Sohn des Müllers: "Mein Name ist Wilhelm. Ich erledige das Monster, welches euch jede Nacht in Angst und Schrecken versetzt. Dafür gebt ihr mir eure Tochter zur Frau".
Der dicke Gutsherr willigte ein, nahm er doch an, das niemand das Ungeheuer besiegen könne, aber wenn doch, wäre derjenige ein würdiger Schwiegersohn.
Die Sonne machte sich langsam davon, die Knechte kamen vom Maisfeld zurück, Mütter holten ihre Kinder vom Spielplatz und die Leute verbarrikadierten sich in ihren Häusern.
Benedikt wünschte Wilhelm viel Glück während er sich in sein Haus einschloss.
Nun war er ganz alleine. Keine Menschenseele war zu sehen. Selbst die streunenden Hunde und Katzen, die Wilhelm kurz zuvor noch bemerkt hatte, waren verschwunden. Er führte sein Pferd in die sichere Scheune, nahm sein Schwert und wartete. Die Stunden vergingen, doch nichts tat sich. Beinahe wäre er eingeschlafen, aber die Aussicht, ein tolles Abenteuer zu erleben und dafür auch noch das schönste Fräulein am Platz zu heiraten hielten ihn wach.
Es war kurz nach Mitternacht, als Wilhelm von einem grauenhaften Schrei aufschreckte. Dem folgte ein erbärmliches Heulen. Wilhelm nahm eine Laterne, konnte aber nichts erkennen. Er lief die Straßen auf und ab, aber zu sehen war nichts.
Kein Ungeheuer, kein Drache und kein Monster welches seinen Mut gefordert hätte. Enttäuscht schlief er nach einigen Stunden ein.
Der erste Sonnenstrahl weckte ihn, es begann ein reges Treiben auf den Straßen, so als wäre nichts geschehen. Traurig ging Wilhelm zum Haus des Gutsherrn.
Katharina war sichtlich froh ihn bei bester Gesundheit zu sehen. "Habt ihr es erledigt?" fragte sie. "Es... es war nicht da" stotterte Wilhelm. "Ich habe es wohl gehört, doch gesehen habe ich nichts."
"Gesehen hat es noch niemand" antwortete die Schöne, "aber es muss von dem Berg hinter dem Dorf kommen, die Fußstapfen sind gut zu sehen."
Wilhelm folgte den Spuren zu dem dicht bewaldeten Berg jenseits des Dorfes. Erst am Nachmittag erreichte er den Gipfel. Als es dunkel wurde, zündete Wilhelm ein Lagerfeuer an und wartete. Es war bereits nach Mitternacht, als er endlich ein Jaulen und Jammern vernahm. Er ging in die Richtung, aus der die Laute kamen.
Schon bald sah er eine Höhle aus dessen Innern ihn zwei riesige funkelnde Augen anstarrten. Das Geheul stoppte jäh.
Eine tiefe Stimme sprach zu Wilhelm "Bist du gekommen, um mich zu retten?"
"Nein, ich bin gekommen um dich zu töten" antwortete Wilhelm furchtlos. Er wuchtete sein Schwert in die Höhe um mit voller Kraft zu zuschlagen, als die Stimme flehte: "Bitte, tue mir nichts, ich bin nur ein armes wehrloses Geschöpf".
Wilhelm senkte sein Schwert und sah im Mondlicht einen abgemagerten riesigen Wolf, der mit seiner rechten Hinterpfote in eine Felsspalte eingeklemmt war.
Sofort befreite er das Tier aus seiner misslichen Lage, spürte er doch, das von diesem Wolf keine Bedrohung mehr ausging. Er war zu schwach um Wilhelm irgendetwas anzutun.
Der Wolf bedankte sich überschwänglich und versprach, alles zu tun, was Wilhelm von ihm verlangte. Bereitwillig gab der junge Mann dem Tier von seinem Proviant, und als der Wolf satt und gestärkt war, erzählte er seine Geschichte:
"Tagsüber schlief ich oder durchstreifte die Wälder, aber in der Dunkelheit bekam ich Angst und fühlte mich einsam. So lief ich fast jede Nacht den Berg hinunter um mit den Leuten zu reden. Aber nie war jemand zu sehen. Ich rannte umher, brüllte und johlte, bis ich müde wurde. Dann lief ich zurück in meine Höhle. Vor einigen Tagen bin ich dann mit meiner Pfote in die Felsspalte geraten. Ich heulte jede Nacht, aber niemand kam, um mir zu helfen. Du bist mein Retter! ich danke dir ewig dafür."
Wilhelm stieg auf Rücken des Tieres und sie ritten zum Andreasmarkt. Als die beiden in der Morgendämmerung den Ort erreichten, staunten die Leute nicht schlecht. Stolz wie ein Ritter auf seinem Ross ritt Wilhelm auf dem Wolf zum Haus von Benedikt und Katharina. Er verkündigte laut, er habe die Bestie gefangen und gezähmt.
Der Gutsherr erklärte diesen Tag zum Festtag. Noch am selben Abend feierte das ganze Dorf die Hochzeit zwischen Wilhelm und Katharina.
Der Wolf spielte ausgelassen mit den Kindern und war so glücklich wie nie zuvor.